Bilanz der Formel-1-Tests: Wer glänzt, wer schwächelt

Von Mathias Brunner
​Die Formel-1-Rennställe haben acht Wintertesttage in Barcelona hinter sich. Die Eindrücke aus der ersten Testwoche haben sich erhärtet. Wir sagen, wer in Australien bei der Musik wird und wer Sorgen hat.

Eine Schulklasse aus Barcelona baute sich beim McLaren-Honda-Motorhome auf und stimmte aus vollem Herzen an: «Alooooon-so! Aloooooon-so! Alooooon-so!» Immer in der Hoffnung, das Idol früher oder später zu Gesicht zu bekommen. Es blieb bei der Hoffnung – der spanische Superstar stand zu diesem Zeitpunkt entlang des Circuit de Barcelona-Catalunya. Wieder einmal. Auch in Gesellschaft einiger Streckenposten als einer der einsamsten Menschen der Welt. Erneut hatte ihn sein McLaren-Honda im Stich gelassen.

Die ätzende Kritik von Fernando Alonso ist einer der stärksten Eindrücke des letzten Wintertests der Formel 1 gewesen, bevor die zehn Rennställe ihr Material für den ersten Grand Prix der Saison in Melbourne (Australien) packen.

Kurios: Während die mächtigen Transporter der zehn Teams noch nicht mal zum Wintertest nach Barcelona gerollt waren, schaukelte ein Teil des Formel-1-Materials bereits gemächlich Richtung Australien. Die Rennställe transportieren einen erheblichen Teil des Materials jeweils mit Seefracht zu den Übersee-GP. Wir sprechen hier von allem, was nicht bis kurz vor dem Einsatz benötigt wird: Kleidung, Boxeneinrichtung, Lebensmittel, Kraftstoff, Telekommunikationsgeräte und so fort.

Formel-1-Logistiker DHL lässt dann knapp eine Woche vor dem ersten WM-Lauf sechs Grossraum-Frachtjets nach «down under» fliegen, ein Dutzend Sattelschlepper bringen das Material am Zielort vom Flughafen zur Rennstrecke. In den brandneuen Spezial-Containern (wegen der breiteren Rennwagen) befinden sich 20 Boliden und rund 300 Tonnen Material.

Gerrard O’Reilly, Team-Koordinator von Red Bull Racing, verrät: «Mehr als 20.000 Teile umfasst das Equipment eines Rennteams. Und wir müssen zu jedem Zeitpunkt wissen, wo sich was befindet.» Dann grinst er: «Nichts geht bei uns jemals verloren – es wird höchstens verlegt.»

Einige Teams werden in Australien vermissen, was jeder gerne im Gepäck nach Melbourne bringen würde: Konkurrenzfähigkeit.
Die zweite Barcelona-Testwoche hat die Eindrücke der ersten vier Probetage auf der spanischen Rennstrecke erhärtet. Bei unserem virtuellen Rundgang durchs Fahrerlager zeigen wir die jüngsten Trends – wer für den Saisonauftakt im Albert-Park gut aufgestellt ist und wer Kopfweh hat.

Die Teams: Wer glänzt, wer schwächelt

Wie in den Wintertests der letzten Jahre ist die Standfestigkeit der Silberpfeile eindrucksvoll. Kein Team ist insgesamt öfter auf der Bahn zu sehen gewesen. Aber die Verbesserungen in der zweiten Testwoche haben nicht voll eingeschlagen. «Es ist nicht leicht, das alles in Harmonie zu bringen», sagt Valtteri Bottas zu Optimieren am Unterboden, Flügel und bei den seitlichen Luftleit-Elementen. Ein gegnerischer Teamchef argwöhnt: «Mercedes wiegt alle in falsche Sicherheit. Ich bin davon überzeugt, dass Mercedes in Barcelona zu keiner Zeit volle Leistung freigegeben hat. Ihr werdet sehen.» Einschätzung: WM-Favorit.

Ferrari ist die Überraschung des Tests, auch in der zweiten Woche. Ein Augenschein entlang der Bahn zeigt – der Wagen von Sebastian Vettel und Kimi Räikkönen liegt wie ein Brett auf der Strasse. Sebastian Vettel stanzte zwei Bestzeiten auf die Bahn, obschon er dabei zwischendurch vom Gas ging, Kimi Räikkönen knackte am letzten Testtag als Erster die 1:19er Marke. Zweifel bleiben: Ist Ferrari nicht auch bei den Wintertests 2016 flott mitgefahren? Und wo standen sie am Ende der Saison? Sebastian Vettel glaubt: «Wenn wir in Australien auf Podestkurs liegen, dann dürfen wir schon mal zufrieden sein. Wer drei WM-Titel in Serie gewinnt, der ist für mich Favorit. In den schnelleren Kurven liegt der Wagen sehr gut, am Handling in den langsameren Ecken müssen wir noch arbeiten.» Einschätzung: GP-Sieger.

Red Bull Racing, überwiegende Meinung im Fahrerlager, ist Mercedes-Herausforderer Nummer 1. Das volle Potenzial des Wagens ist in Spanien nicht aufgedeckt worden: Erst in Australien sehen wir weitere neue Teile, von Renault kommt in Melbourne mehr Leistung. Schwierigkeiten mit dem Generator für die kinetische Energie sind lösbar. Daniel Ricciardo sagt: «Vom Auto her können wir gewiss Fortschritte machen, da gibt es noch sehr viel zu lernen. Aber in Australien kann alles wieder ganz anders aussehen als in Barcelona. Wir werden keine zwei Sekunden aus dem Hut zaubern, aber ich bin auch nicht nervös. Ich bleibe davon überzeugt, dass wir in Melbourne konkurrenzfähig sein werden.» Einschätzung: WM-Anwärter.

McLaren-Honda blieb in der zweiten Testwoche das Sorgenkind der Wintertests. Wie sollen die McLaren-Techniker das Chassis ausloten, wenn der Honda-Motor Mucken macht? Fernando Alonso und Stoffel Vandoorne kamen viel zu wenig zum Fahren, und im Fahrerlager kursieren Wetten, wann dem spanischen Superstar Alonso wohl erneut der Kragen platzt.

Fernando Alonso nahm bei seiner Pressekonferenz kein Blatt vor den Mund: «Wir haben nur ein Problem – und das ist die Antriebseinheit. Der Motor ist nicht standfest, und er ist zu wenig kraftvoll. Wir sind auf den Geraden zwischen 30 und 40 km/h langsamer als die Anderen. Auf jeder Geraden. Wenn du um so viel hinterher hinkst, dann ist es schwierig, das wahre Gefühl für das Auto zu erhalten. Keiner kann sagen, was der Wagen macht, wenn wir richtig auf Speed wären. Das Chassis ist schwierig einzuschätzen. Wir können gar nicht angreifen, weil der Motor zu schwach ist. Das Fahrwerk fühlt sich gut an, das Chassis reagiert hervorragend auf Veränderungen, ich bin auch mit der Fahrzeugbalance zufrieden. Ich kann angreifen, es macht mir Spass, diese neue Generation von Autos zu fahren. Ich bin nicht der Meinung, dass wir vom Chassis her weit hinter den Gegnern herhinken.» Einschätzung: Sorgenkind.

Das Renault des Jahres 2017 hat mit dem eher peinlichen Auftritt bei der Rückkehr als Werksrennstall 2016 nichts mehr zu tun. Es wird anvisiert, ins vordere Mittelfeld zu rücken, und das ist ein realistisches Ziel. Nico Hülkenberg platzt vor Tatendrang und Arbeitslust. «Unser Auto ist vielversprechend, die Basis ist gut. Ich sehe diese Saison als Aufbaujahr, in der wir die Basis des Teams festigen, um für 2018 und darüber hinaus erfolgreich zu sein. Das Saisonziel ist der fünfte Platz in der Konstrukteurswertung, das ist eine grosse Herausforderung. Aber man muss sich hohe Ziele setzen.» Einschätzung: Punktesammler.

Williams war in der ersten Woche ein Einwagen-Team – Felipe Massa kreiste, Lance Stroll kreiselte. Drei Ausrutscher des 18jährigen Kanadiers kosteten den Traditionsrennstall viel Zeit. Massa bewies mit einer Tagesbestzeit und einem zweiten Rang in der zweiten Woche, dass er nicht zum Alteisen gehört und mit Williams gerechnet werden muss. Der 35-Jährige sagt keck: «Wenn es gut läuft, kann ich ein Wörtchen um Podestränge mitreden.» Stroll hat in der zweiten Testwoche weniger Fehler gemacht. Einschätzung: Vierte Kraft.

Sauber ist 2016 mit Müh und Not WM-Zweitletzter geworden. Das grösste Problem, um in der Klassierung vorzurücken – an wem sollen die Schweizer vorbei? Vielleicht am ehesten an Haas. Immerhin kam Mercedes-Zögling Pascal Wehrlein endlich zum Fahren. Mit einem 2016er Motor von Ferrari anzutreten, der nicht weiterentwickelt wird, dürfte sich im Laufe des Jahres als Mühlstein am Bein erweisen. Siehe Toro Rosso vor einem Jahr. Einschätzung: Es kann nur besser werden.

Gemäss Teambesitzer Gene Haas soll der US-amerikanische Rennstall in der WM um einen Rang nach vorne, noch lieber wären dem Unternehmer zwei Plätze. Dazu müsste die Truppe um Teamchef Günther Steiner an Teams vorbei, welche in Spanien einen konkurrenzfähigeren Eindruck hinterlassen haben. Romain Grosjan kämpft anhaltend weiter mit Bremsproblemen. Einschätzung: stagnierend.

Toro Rosso-Technikchef James Key staunte nicht schlecht, als er auf Bildern den neuen Silberpfeil zu sehen bekam: fast identische Lösungen an der Vorderachse. Key lachte: «Wenn die Weltmeister sich für diese Aufhängungsart entscheiden, dann sind wir vielleicht nicht ganz auf dem Holzweg.» Der Toro Rosso ist in Sachen Standfestigkeit noch nicht auf der Höhe, das kostete Testzeit. Teamchef Franz Tost beteuert: «Das sind alles kleine Probleme, die sich leicht lösen lassen. Aber es sind auch Probleme, welche uns in Australien aus dem Rennen werfen würden.» Von Renault muss mehr Power kommen. Einschätzung: Punktesammler.

Force India ist nicht auf der Höhe vom vergangenen Jahr. Der Wagen liegt zu wenig gut, ein Problem mit dem Auspuff liess sich nicht lösen. Das Auto ist zu schwer und zu schwerfällig. Das Spitzentrio von Mercedes-Benz, Red Bull Racing und Ferrari zu sprengen, wird in dieser Form ein feuchter Traum von Team-Mitbesitzer Vijay Mallya bleiben. Einschätzung: stagnierend.

Die schnellste Formel 1

Formel-1-Champion Nico Rosberg hatte bei seinem Besuch in Barcelona geschwärmt: «Ich bin elektrisiert durch diesen Neuanfang der Formel 1, von diesen Autos geht viel positive Energie aus. Die Fahrer sind aufgekratzt, die Renner sehen wirklich biestig aus. Genau wie ein GP-Renner aussehen sollte. Ich spüre von den Piloten eine wahnsinnige Begeisterung. Sie finden die neuen Rennwagen fabelhaft.»

«Die Piloten werden mit diesen Rennwagen wieder als Gladiatoren wahrgenommen. Diese neuen Autos werden sie bis an die körperlichen Grenzen treiben. Ich sehe entlang der Strecke, wie die Köpfe der Fahrer zur Seite hängen, wie extrem der Nacken belastet ist. Ich kann mir sogar vorstellen, dass es Fahrer geben wird, die Rennen verlieren, einfach weil sie zum Schluss eines Grand Prix platt sind.»

Wir teilen die Eindrücke von Nico. Die neuen Renner sind wirklich atemraubend schnell, viele davon bildschön. Die Proportionen rücken langsam wieder in erträgliche Bereiche, zum Glück haben wir wieder fette Hinterreifen, die nach hinten geneigten Flügel vermitteln Dynamik. Dass die Autos etwas lang geraten sind, daran werden wir uns nach kurzer Zeit gewöhnt haben.

Beklagenswert hingegen, dass wir die haiflossenartigen Auswüchse der Motorabdeckung zurück haben. Die Mehrheit der Fans findet sie hässlich. Von Zusatzflügeln ganz zu schweigen, die wie Kleiderbügel aussehen. Oder von den doofen Knubbelnasen. Solche Regellücken gehören geschlossen. Wie das schöner gestaltet werden kann, beweisen Mercedes und Toro Rosso.

Die neue Formel ist wirklich sauschnell. Mercedes-Pilot Valtteri Bottas bestätigt: «2017 werden reihenweise Streckenrekorde fallen.» Die meisten Fahrer haben sichtlich Freude am Fahren, das ist ein wichtiges Signal für die Formel 1.

Superstar Fernando Alonso: «Jahrelang waren wir keine Racer, sondern Verwalter. Ständig mussten wir mit irgend etwas haushalten. Mit der Energie, mit dem Kraftstoff, mit den Reifen. Das ist wider die Natur eines Racers.»

Nun dürfen sie wieder auf der Rasierklinge reiten, statt ihr Auto wie ein rohes Ei um den Kurs zu tragen, wie Lewis Hamilton bestätigt: «Du kannst später in die Eisen steigen und früher wieder aufs Gas latschen. Das ist schon beachtlich. In Kurve 9 habe ich unter meinem Helm gejubelt – man fühlt sich wie ein Kind auf der Achterbahn.»

Fazit der Wintertests

Es klingt banal, ist aber korrekt: Barcelona ist nicht Melbourne. Eine klassische Rennstrecke und ein Strassenkurs. Ein Test bei milden Temperaturen, ein GP-Wochenende bei möglicherweise hochsommerlichem Wetter. Oder im Regen. Bei Melbourne weiss man nie so genau, was sich Petrus einfallen lässt.

Selbst bei den Rennställen bleibt ein kraftvolles Element der Unwägbarkeit, was das wahre Kräfteverhältnis angeht.

Erstens, weil die Fahrer so gut wie nie unter identischen Bedingungen auf der Bahn gewesen sind, was Spritlast, Motorabstimmung, Reifenmischung und Tageszeit angeht.

Zweitens, weil die Rennställe in Spanien ganz unterschiedliche Programme verfolgt haben.

Drittens, weil laufend neue Teile an die Wagen kommen.

Was wird also in Melbourne passieren?

Pessimisten im Fahrerlager befürchten: Mercedes stapelt tief und gibt die wahre Stärke nur in homöopatischen Dosen frei.

Realisten stellen fest: Die neue Formel 1 hat die Reihenfolge nicht komplett auf den Kopf gestellt. Die Reihenfolge bleibt ungefähr gleich – mit Mercedes vor Ferrari und Red Bull Racing.

Optimisten hoffen: Wir werden in Australien einen packenden Dreikampf an der Spitze erleben, mit sechs Piloten aus drei Top-Teams, die um den Sieg ringen. Und mit einem dichten Mittelfeld, in dem die Fetzen nur so fliegen.

Die Antwort erhalten wir am 26. März, ab 6.00 Uhr früh.

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