Von Austin nach Mexiko-Stadt: Der normale Wahnsinn

Kolumne von Mathias Brunner
So ungefähr schaut das in Mexiko auf den Strassen aus

So ungefähr schaut das in Mexiko auf den Strassen aus

Reisen bildet, und wenn alles reibungslos verliefe, dann hätten wir nachher nichts zu erzählen. Kommen Sie mit auf die Reise von Austin nach Mexiko-Stadt und schnallen Sie sich an – es wird ein wilder Ritt.

Ich fand Reisen schon immer spannend, weit bevor mein Schriftleiter Günther Wiesinger fand, mein Umgang mit der deutschen Sprache sei einigermassen zufriedenstellend und ob ich nicht Redaktionsassistent werden wolle. Ich wollte. Daraus entstand ein Leben als Formel-1-Berichterstatter, und bis heute faszinieren mich fremde Länder, andere Kulturen, von den kulinarischen Besonderheiten ganz zu schweigen. Wer sich heutzutage um den Globus bewegt, hat mehr vom Leben, wenn er halbwegs organisiert ist, aber was nützt mir das, wenn mich um halb drei in der Früh in Austin das Handy aus dem Schlaf reisst?

Die «United»-Airline lässt mich wissen: «Ihr heutiger Flug um 8.36 (die Amerikaner nehmen es da sehr genau) nach Houston ist verspätet. Wir müssen eine neue Flugmannschaft finden, weil die geplante Crew nicht genügend Ruhezeit behabt hat. Wir haben da Bundesvorschriften, leider.»

Ich habe auch nicht mehr genügend Ruhezeit, denn ich weiss: Eine Stunde Verspätung, damit ist meine Verbindung von Houston nach Mexiko-Stadt im Eimer. Ich denke, was Jack Swigert von Apollo 13 nie sagte: «Houston, wir haben ein Problem.» (In Wahrheit sagte der Astronaut «Houston, we’ve had a problem.», aber ich will nicht pingelig sein.) An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken, schliesslich bin ich nicht auf Ferienreise. Ich fahre daher in allem Pflichtbewusstsein eineinhalb Stunden früher zum Flughafen als geplant, und all dies ohne meinen Muntermacher Espresso.

Habe ich schon erwähnt, dass Austin ein echtes Kaffeeproblem hat? Die tagelangen Regenfälle in Zentral-Texas haben die Kläranlagen rettungslos überforderte, die Stadtregierung gab Sonntagabend eine Mitteilung raus – Leitungswasser sparen, wo es geht. Ein Austonian sagte mir am Montagmorgen: «Das ist eine Schutzbehauptung. In Wahrheit ist das Wasser unrein, ich würde jedenfalls nicht davon trinken.» Eine Folge jedenfalls: In allen üblichen Espresso-Läden meiner Wahl standen die Maschinen still. Ich habe im «Starbucks» noch nie so viele verzweifelte Gesichter gesehen: Es gab nur Brühkaffee mit zuvor gekochtem Wasser, und das ist, pardon, eine Plörre.

Zurück an den Flughafen. Ein Engel bei «United» bucht mich auf eine frühere Maschine um, ich scheine also die Verbindung nach Mexiko doch zu schaffen. Wir stehen schon zum Einsteigen bereit, da meldet sich ein Mann über Lautsprecher: «Äh, Leute, so wie es aussieht, steht hier am Gate die falsche Maschine. Die sollte nicht nach Houston, sondern ganz woanders hin. Leider haben wir eben das Gepäck für Houston eingeladen. Euer neues Gate ist nicht die 31, sondern die 25.»

Haben Sie schon mal 200 Menschen quer durch einen Flughafen hetzen sehen? Es ist kein schöner Anblick. Zumal der Sprint völlig nutzlos ist: Am Gate 25 zeigt das Fingerdock anklagend ins Leere – keine Maschine weit und breit.

Neue Durchsage: «Äh, Leute, wir müssen jetzt noch eine Maschine besorgen.» Die kommt zwanzig Minuten später, dich gefolgt von Wägelchen mit unseren Koffern. Aus dem Fenster kann ich dabei zusehen, wie einzelne vom Förderband purzeln (Koffer, nicht Wägelchen). Die Scheiben sind getönt, der Himmel ist bleigrau, es giesst, ich kann nur hoffen, keiner der Koffer ist meiner.

Nächste Durchsage: «Äh, Leute, die gute Nachricht ist, dass der Flieger der richtige ist und eure Koffer eingeladen werden. Die schlechte Nachricht: Eben hat sich hier der Bordkartenleser verabschiedet, und wir müssen alle Tickets von Hand erfassen.»

Dreissig Minuten später sitzen wir im Flieger, da meldet sich der Kapitän zu Wort: «Äh, Leute, so wie es aussieht, können wir für die nächsten zwanzig Minuten hier nicht weg, weil es derzeit in Houston stark regnet.»

Irgendwann heben wir wirklich ab und fliegen nach Houston. Der Mann neben mir ersäuft seinen Kummer in einer Bloody Mary. Er stöhnt: «Wie ich das Fliegen doch hasse!»

Das kann ich nicht behaupten, denn ich weiss: In Houston gibt es Espresso!

Hurra, ein Koffer – und ohne Vorhängeschloss

Das Abenteuer geht in Mexiko-Stadt weiter. Wir würden das Gebaren im Einwanderungsbereich nicht chaotisch nennen, aber das letzte Mal, als ich solch ein Gewusel zu Gesicht bekam, da blickte ich auf einen Ameisenhaufen. Nicht-Mexikaner stellen sich eine Schlange, die nur wenige Kilometer lang gewesen sein dürfte. Die meisten daddeln an ihrem Handy herum oder füllen die Einwanderungsdokumente aus.

Dann spontan ein kleiner Aufstand: Ein Mob wütender Mexikaner durchbricht alle Schranken und fordern sofortigen Einlass. Sie hätten einen Anschluss, der auf der Kippe stehe. (Ich vermute stark, sie haben sie eine Nachricht um halb drei Uhr früh verpasst.) Meine Einwanderungs-Beamtin ist so gleichmütig wie der Fels von Gibraltar in einem sanften Sommerlüftchen. «Dieser Herr hier ist geduldig angestanden und hat auch gewartet. Sie warten nun ebenfalls.»

Der Mob brüllt auf, das war nicht die Antwort, welche die Menschen hören wollten, einige Bemerkungen fallen über die Mutter der Beamtin. Sie fordern gewissermassen «Mexicans first», aber die Staatsangestellte vor mir bleibt eisern: «Dies ist ein Bereich der Regierung, ich kann sie auch gerne daraus entfernen lassen. Dann wird das ohnehin nichts mehr mit ihrem Flug.» Darauf sind die Mexikaner erst mal platt, ich erhalte meinen Stempel, ein Lächeln und ein «Willkommen in Mexiko» und darf gehen.

Die Amerikaner sind schon top-fit, was Verbindungen angeht. Obschon ich nur eine knappe halbe Stunde in Houston bin (das reicht für den Espresso, ein Croissant und den Kauf des Buches «First Man» über Neil Armstrong), schafft es mein Koffer locker nach Mexiko. Und ganz ohne Vorhängeschloss.

Es tut mir leid, die Geschichte ist einfach zu gut, ich muss sich nochmals kurz erzählen. Denn es war vor drei Jahren, da erwartete mich mein Koffer mit einer kleinen Überraschung: Am Griff baumelte ein ungefähr kinderfaustgrosses Vorhängeschloss. Es gehörte mir nicht. Der Koffer schon. Ich weiss bis heute weder, wer das Ding angebracht hat noch zu welchem Zweck. Es hing da einfach ein wenig unnütz herum. Gut, damit befasse ich mich später, dachte ich und fuhr ins Hotel.

Im Hotel stiessen meine Spanischkenntnisse an leichte Grenzen. Wie sagt man noch korrekt: «Hätten Sie bitteschön einen Seitenschneider? Irgendein Hirni hat ein Vorhängeschloss an meinem Koffer angebracht, das ich nicht quer um die Welt zu schleppen gedenke.»

Irgendwann standen vier Mexikaner um meinen Koffer herum, kratzten sich am gelierten Haupthaar, bestaunten das Schloss in seiner makellosen Qualität. Ein Mann vom Unterhalt wurde geholt. Er hatte eine Säge dabei und sah so aus, als wüsste er sie zu benutzen. Das Schloss war von der Säge unwesentlich weniger beeindruckt als der Atlantik von einem Regentropfen.

Herr Unterhalt fragte, ob er den Koffer mitnehmen dürfe, er wolle schärferes Geschütz auffahren. Er formte die Hände zu etwas, was wohl einen Schneidbrenner darstellen soll und machte dazu ein zischendes Geräusch. Ich verabschiedete meinen Koffer und nahm mir vor, später Läden zu googeln, die Samsonite-Produkte anbieten.

Ich hatte dann keine Zeit mehr zu warten und fuhr zur Rennstrecke. Am Abend erwartete mich im Zimmer ein schlossloser Koffer, ein wenig angekokelt vielleicht, aber sonst ganz okay.

Ein VW Käfer verschwindet

Wo waren wir? Genau, auf dem Weg vom Flughafen zur Rennstrecke. Nach einigen Taxi-Fahrten, über welche ich den Mantel des Vergessens hüllen will, und nachdem Uber in Mexiko nicht gerade uber jeden Zweifel erhaben ist, organisiere ich in Mexiko jeweils einen Fahrdienst. Klingt toll, nicht? Klingt nach schwarzer Limousine, mit einem Fahrer, der den Schlag aufreisst und dabei fast noch zackig salutiert; klingt nach Champagner-Schlürfen im Fonds und sanfter Musik, während der ganz normale Wahnsinn von Mexiko-Stadt an einem vorbeigleitet.

Die Wahrheit sieht ein wenig anders aus.

Ich weiss nicht, wer älter ist, der Fahrer oder sein klappriger Chevy, aber ich kann mit Sicherheit sagen: Die Gelenke von Fahrer und Fahrzeug knarren ungefähr gleich laut. Wir rollen mit ächzenden Stossdämpfern los. Ich kratze meine Spanischkenntnisse zusammen: «Können Sie mir bitte sagen, wie lange wir bis ins Hotel brauchen?»

«20 minutos», kommt es zurück. Ich fange an zu rechnen: In mexikanischer Zeit und angesichts des chronischen Verkehrskollapses in dieser Stadt entspricht das ungefähr 60 Schweizer Minuten.

Ich habe also reichlich Zeit, das Geschehen zu geniessen. Es wird einiges geboten. Ich bin immer wieder fasziniert davon, was die fliegenden Händler alles anbieten. Eine Frau schiebt einen Karren mit Brot. Es duftet bis ins Auto hinein (ich hätte zwei Croissants essen sollen). Ein Mann preist Wasser an, ein anderer Kaugummi. Das geht alles ja noch. Aber jetzt mal Hand aufs Herz: Wer kauft an einer Ampel so rasch ein Sportlenkrad? Aber das steht wirklich ein Mann und trägt 15 Lenkräder am Arm, wie übergrosse Reifen, Lederlenkräder, schauen richtig sportlich aus. Das Geschäft harzt.

Selfie-Stangen, Spielzeug und Snacks, Regenschirme und Turnschuhe, CDs und Handyhüllen – im Angebot ist so ziemlich alles, mit Ausnahme vielleicht eines Einfamilienhauses.

Mein Fahrer reisst das Steuer nach links. Von rechts bog der Fahrer eines klapprigen Toyota ein, so verwegen, als würde er auf einen neuen Kotflügel spekulieren. Prompt erwischt unser Fahrer ein Schlagloch. Ich würde nicht behaupten, dass Schlaglöcher in Mexiko ein wenig grösser als in der Schweiz sind, aber sagen wir es mal so – ein VW Käfer würde darin glatt verschwinden.

Mein Chaffeur ist so verschreckt, dass er sich auf der vierspurigen Strasse rechts hinter einem Lastwagen einreiht. Nichts geht mehr. Es dauert eine Weile, bis der Fahrer merkt, dass der Lkw geparkt ist. Der Mann flucht und fährt dem nächstbesten hinter uns vor den Kühler. Vermutlich sind so auch die beiden Rückspiegel an unserem Wagen abhandengekommen, von welchen nur noch herabhängende Drähte zeugen.

Neuer Schreck: Mitten auf der vierspurigen Bahn steht ein Mann, angezogen wie ein Hippe aus dem San Francisco der 60er Jahre und – tanzt. Nein, wirklich! Als wir knapp an seinen verträumt-lasziv schaukelnden Körper vorbeizischen (zum Glück haben wir keine Rückspiegel mehr), sehe ich einen kurzen Moment seine Augen. Sie sehen aus wie durchgebrannte Sicherungen.

Mein Fahrer schüttelt nur den Kopf: «Loco!» Das sagt er ziemlich oft, vor allem dann, wenn Motorradfahrer links und rechts an uns vorbeipfeifen, in einem Fahrstil, gegen den Marc Márquez ein Pfarrdiener ist. Habe ich schon erwähnt, dass wir keine Rückspiegel mehr haben? Nun kennen Sie den wahren Grund.

Nach zwanzig mexikanischen Minuten kommen wir beim Hotel an. In Echtzeit waren es 55. Das passt ganz gut: Angesichts einiger Manöver bin ich auch um 55 Jahre gealtert.

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