Von Delhi nach Abu Dhabi

Kolumne von Peter Hesseler
Der Blick ist wieder klar – und spektakulär

Der Blick ist wieder klar – und spektakulär

Der F1-Reisende zwischen Nahem und Mittlerem Osten – zwei Stunden Differenz und mehrere Kulturschocks

Wir geben zu: Indien ohne grössere gesundheitliche Schäden zu verlassen, lässt den Formel-1-Reisenden aufatmen. Der Emirates-Airbus erhebt sich aus dem gelblichen Dunst über Delhi, der so dicht ist, dass man 30 Sekunden nach dem Start nichts mehr von der Stadt sieht. Null!

Das Wort Smog hat in diesem Teil der Welt eine neue Dimension angenommen. Und wenn Sie am Fernseher dachten, wir hätten es mit einem temporären Herbstnebel oder anderen lieblichen Wetter-Erscheinungen zu tun, die den klaren Blick auf das Geschehen trübten, müssen wir Sie enttäuschen: Das Drama ist man-made, vom Menschen gemacht.

Wir lassen vieles mehr hinter uns: Jämmerliches Gejaule von Strassenhunden in der Nacht, ein katastrophales Stadtbild und Verkehrsszenario, ein stetig überbordendes Menschengewimmel in den Strassen, ein allgegenwärtiges, erbärmliches Abwasser-Odeur mit Familien, die Nächte lang mit nichts als zwei Plastiktüten und drei Kleinkindern bettelnd an verstopften Strassenkreuzungen verbringen – und wogegen uns der eierfaulige Gestank von São Paulo plötzlich Kur-verdächtig vorkommt (den Vorschlag, die brasilianische Metropole in «Bad São Paulo» umzubenennen, werden wir aber nicht so schnell einreichen). Bedenklich in Wände montierte Elektro- oder Wasser-Installationen, schwache, wacklige Internetverbindungen, Autos vor dem permanent drohenden Zusammenbruch. Fanatisches Gebrüll und schwülstiger Gesang auf 95 Prozent aller TV-Kanäle. Und nicht zuletzt die im Kontrast zu all diesen Impressionen stehende Freundlichkeit der Inder, die stets bemüht sind, uns Ausländern ein besseres Bild ihrer Welt zu vermitteln («Häw-e-neis-dei-Sir»), als das, was wir beständig sehen.

Der Nord-Europäer fragt sich permanent, wieso der Müll nicht abtransportiert wird, warum die Strassen nicht asphaltiert, die Erdlöcher nicht gestopft, die Leitungen nicht repariert werden? Warum Türen nicht fest in ihren Angeln hängen, Fenster nicht ersetzt werden und überall der Putz bröckelt. Warum in Gottes Namen bringen die Inder ihr schönes Land nicht in Ordnung?

Es kann nur einen Schluss geben: Sie haben – bei 900 Millionen Einwohnern unterhalb der Armutsgrenze, die per Definition weit unter dem liegt, was Armut bei uns darstellt, wahrlich andere Sorgen als wir zwischen Mainzelmännchen und Co2-Spar-Wut. Und das bei einer Wirtschaft, deren Boom abebbt. Dass am vergangenen Wochenende Stimmen auftauchten, die die Frage nach einem zweiten Indien-GP im WM-Kalender aufwerfen wollten, ist blanker Zynismus.

Wir landen also in Abu Dhabi, wo die Wasserhähne germanische Qualität aufweisen, die Fussböden permanent gewischt werden und wo am Wochenende der 18. WM-Lauf stattfindet, und worauf sich der Grossteil der Bediensteten des Fahrerlagers das ganze Indien-Wochenende über schon gefreut hat. Es ist wie ein Schritt in eine andere Welt – bei nur zweieinhalb Stunden Flugzeit.

Doch was ist das?

Beim Anflug sieht man genau so wenig von Dubai wie beim Abflug von Delhi. Nur in diesem Fall kommt die Suppe aus der Wüste: Ein Unwetter mit Regen hat sie rund um das Emirat ein wenig aufgewirbelt. Auf der Fahrt von Dubai nach Abu Dhabi (70 Minuten) fahren wir durch unseren ersten Sandsturm. Manche Böen senken die Sichtweite für Augenblicke auf null. Die Vorfreude auf einen arabischen Frühling im Herbst ist ein wenig getrübt. Aber bei Ankunft in Abu Dhabi lichtet sich der Blick. Wir sehen das Meer wieder klar und gegenüber Hotelangestellte, die schaufelweise Sand vor dem Eingang zusammenfegen.

Auch die Vorfreude auf den Pool auf dem Dach mit Blick auf den Golf, in dem ich nach dem Indien-Trip und der mentalen Dumpfheit, die Flugpassagiere eigentlich regelmässig nach der Landung umgibt, allzu gerne einen körperlichen Reset vornehmen würde, wird nach diesem Trip abrupt abgewürgt. Auch hier oben im 15. Stock muss erst der Sand beseitigt werden – Pool geschlossen.

Okay, man könnte jetzt stattdessen die Turnschuhe anziehen und ein paar Mal um den Block laufen, um wieder auf die Füsse zu kommen. Zumal die Luft nach Tagen des beschämt unterdrückten Atmens in Delhi der reinste Befreiungsschlag für die Lunge ist, doch ein Blick auf die Umgebung genügt, um auch dieses Vorhaben abzubrechen: wohin man auch blickt, wird gebaut – grrrrrr.

Ich versuche es mit einer kalten Dusche und schaue erstmal, was in der Welt sonst noch so los ist. Und dann das: 20 Milliarden Dollar Wirtschaftsschaden durch Hurricane Sandy. Teile der Ost-USA tagelang ohne Strom. Japan druckt Währung im Wert von 140 Milliarden Dollar, um die darbende Wirtschaft in Gang zu bringen, weil die Südeuropäer und Chinesen sich keine japanischen Produkte mehr leisten können. Herbe Absatzeinbrüche bei Honda, wo ein F1-Wiedereinstieg diskutiert wurde und die Vergangenheitsform nun wohl beibehalten werden kann. Die Anklage gegen einen griechischen Journalisten, der ganz cool eine Liste von Steuerflüchtlingen seines Heimatlandes veröffentlicht hat, wofür man den Kollegen dankbar sein könnte in Zeiten, in denen bei den Hellenen aufgeräumt werden müsste. Und in denen deutsche Landesregierungen den Erwerb von gestohlenen CDs mit den Daten von Steuersündern wettbewerbsmässig als kriminelle Hehler-Handlung betreiben dürfen. Auch in Syrien scheint nichts besser geworden zu sein. Ronaldo hat zwei Tore für Madrid geschossen, Heynckes findet die Niederlage der Bayern gegen Leverkusen nicht schlimm, und in den USA geht bald die NBA wieder los.

Ich schalte genervt die Glotze ab und nehme ein Taxi in die Bar der San Francisco 49ers, downtown Abu Dhabi. Zwei grosse Fosters vom Fass, ein Ribeye-Steak, der Genuss einer Handvoll Marlboros und der Geruch von (nicht immer teurem) Parfüm wirken Wunder: Die Erde hat mich wieder. Das Elend von Indien und die BBC-Nachrichten sind wie weggeblasen. Eine Live-Band – vor dem Blick auf die atemberaubende Skyline der Metropole am Golf – rockt mit zwei sehenswerten Frontfrauen respektable Coverversionen der Rolling Stones und von AC/DC und Midnight-Oil ab. Yeah! Geht doch! Das ist wohltuender Lärm für meine Seele.

Gegen 10 Uhr füllt sich der Schuppen mit einer eindeutig orientierten Berufsgruppe. Der Barkeeper, der mich inzwischen mit zwei bemerkenswert wirkungsvollen Margaritas versorgt hat, zwinkert komplizenhaft: «Alle aus China und den GUS-Staaten.»

Ich dachte, Abu Dhabi sei komplett sündenfrei, verstaue alle Besitztümer (Kippen, iPhone) in der Hosentasche und sage mir: «Geh nach Hause, Alter, du bist nicht Bukowski.»

Denn so schön es auch war, mal wieder in eine gemischte ethnische Menschengruppe einzutauchen: Die Damen erweisen sich als extrem geschäftstüchtig. Nach der fünften Anmache gehen mir die Ausreden aus. Ich entschuldige mich mit einem menschlichen Bedürfnis und zweige statt zur Toilette zum Lift nach unten ab, wo mir weitere Ströme Berufstätiger entgegenkommen, nehme das Taxi zum Hotel und falle dann sofort in die Federn. Angekommen in Abu Dhabi. Und um eine Erfahrung reicher.

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