Nicolas Goubert: Was spricht für die Einheitsreifen?

Von Günther Wiesinger
Vor acht oder zehn Jahren hatte Michelin kein Interesse, in der Formel 1 oder MotoGP-WM Einheitsreifen zu liefern. Die Franzosen wollten unbedingt den freien Wettbewerb. Diese Meinung hat sich geändert. Warum?

Nicolas Goubert, Technical Director von Michelin, hat persönlich Ende 2006 seine Tätigkeit in der MotoGP-WM (vorübergehend) beendet und sich beim französischen Reifenhersteller dann um andere Projekte wie die Formel 1 und WRC gekümmert.

Michelin selbst zog sich Ende 2008 als Reifenhersteller aus der MotoGP-WM zurück, seither agierte Bridgestone als Lieferant der Einheitsreifen.

Jetzt bereitet sich Michelin auf die MotoGP-Rückkehr 2016 vor, wobei die Fahrer bisher von den Vorderreifen nicht begeistert sind. Sie vermitteln im Grenzbereich bisher zu wenig Gefühl fürs Limit, es kam allein beim Valencia-Test an zwei Tagen zu 21 Stürzen.

Michelin war nicht interessiert, als die Dorna für 2009 in der MotoGP-WM die Einheitsreifen einführte. Bridgestone bekam deshalb ohne grosses Federlesen den Zuschlag für die drei Jahre 2009, 2010 und 2011, später folgte ein zweiter Drei-Jahres-Vertrag, zuletzt wurde der Deal noch für 2015 verlängert.

Während Bridgestone auf 16,5-Zoll-Reifen setzt, entwickelt Michelin eine neue Generation von 17-Zoll-Reifen, weil diese auch im Strassenverkehr dominieren.

Die Anzahl der erlaubten Slick-Reifen pro Grand Prix wurde für die Saison 2016 geändert. Die Fahrer dürfen in diesem Jahr maximal 22 Slicks pro Event benützen (zehn Vorderreifen, zwölf Hinterreifen). Bei Bridgestone waren nur 20 Trockenreifen (neun für vorne, elf für hinten) pro Grand Prix und Fahrer gestattet.

Bei Regen gibt es bei Michelin künftig sieben Vorderreifen und sieben Hinterreifen.

Dazu gibt es jetzt erstmals seit 2008 wieder Intermediates: maximal drei vorne, drei für hinten.

«Die Rennszene war für uns immer schon eine willkommene Plattform für die Entwicklung neuer Technologien», sagte Nicolas Goubert im Exklusiv-Interview mit SPEEDWEEK.com. «Die MotoGP-WM ist eine ausgezeichnete Technologie-Plattform für uns. Erstens aus Imagegründen, zweitens weil hier die besten Motorradrennfahrer der Welt mitfahren, die sehr präzise Angaben für die Reifenentwicklung machen können. Wir treten mit 17-Zoll-Reifen an, weil damit der Technologie-Transfer zur Serie am einfachsten ist. Die Motorradindustrie hat wenig Interesse an 16,5-Zoll-Reifen. Die Herstellung von 16,5-Zoll-Motorradreifen kann sogar gefährliche Auswirkungen haben. Man kann sie nämlich versehentlich auf 17-Zoll-Räder montieren... Aber sobald du dann mit dem Strassenmotorrad losfährst, führt das unweigerlich zu einem Sturz.»

Bei Michelin gab es einen Meinungsumschwung, die Abneigung gegenüber Einheitsreifen ist irgendwann verschwunden.Technikchef Nicolas Goubert erläutert diesen Strategiewandel.

Die Bilanz von Michelin ist umwerfend: Von 1976 bis 2006 wurden in der Königsklasse (500 ccm und MotoGP) 27 von 31 WM-Titeln und 360 GP-Siege errungen.

Nicolas, Michelin ist Ende 2006 aus der Formel 1-WM ausgestiegen, als die Einheitsreifen kamen. In der MotoGP-WM ist Ende 2008 das Gleiche passiert. Michelin wollte unbedingt den üblichen Reifenkrieg. Warum habt ihr eure Meinung geändert?

Wir sind 2011 in die Rallye-WM (WRC) eingestiegen und dachten, wir sind jetzt zurück in einer namhaften Meisterschaft und kämpfen dort gegen andere Reifenhersteller. Aber am Ende des Tages sind die Reifenfirmen, die vor 2011 dabei waren, ausgestiegen. Wir haben eigentlich erwartet, dass sie alle dabei bleiben...
Es lag also nicht an uns, dass wir dann drei Jahre lang fast alle WRC-Autos ausgerüstet haben.
Gleichzeitig gab es aber ein FIA-Reglement, das uns vorschrieb, die Reifenentwicklung in der WRC voranzutreiben. Sie haben sich gewünscht, dass wir die Lebensdauer der Reifen jedes Jahr um 20 Prozent erhöhen. Das ist uns gelungen, und wir haben dadurch bei den Zeiten trotzdem keine Performance eingebüsst.
Dadurch haben wir bei Michelin eingesehen, obwohl wir in der WRC als Reifenhersteller so gut wie allein waren, dass wir trotzdem die Technologien weiterentwickeln können, wenn wir uns die richtigen Ziele setzen und uns dazu zwingen, die richtigen Reifen zu entwickeln.
Du erinnerst dich ja an die 500er-WM in den späten 1990er-Jahren, als wir auch fast alle Teams und Fahrer ausgerüstet haben. Trotzdem ist bei uns die Entwicklungsarbeit nie stillgestanden, wir haben immer entwickelt und die Reifenperformance verbessert.
Als wir im vorletzten Winter gehört haben, dass es in der MotoGP-WM eine neue Ausschreibung für die Einheitsreifen 2016 gibt, haben wir uns gesagt: «Hey, das ist eine gute Plattform. Selbst wenn wir allein sind.» Also haben wir uns beworben.
Wir würden es zwar auch jetzt noch bevorzugen, wenn wir Mittbewerber hätten. Aber auch für einen Alleinausrüster – die MotoGP ist eine einwandfreie Plattform für uns.

Wer wird am Rennplatz 2016 für Michelin den Rennservice betreiben?

Wir haben eine Ausschreibung gemacht, dann auf Angebote gewartet und entschieden, welche Firma den Auftrag bekommt.

Ihr habt keine Reifentechniker von Bridgestone übernommen?

Nein, das war nie vorgesehen. Wir haben für die Logistik und so weiter immer Werkverträge mit freien Mitarbeitern abgeschlossen. Was die Reifentechniker betrifft, will ich keine Leute haben, die für Mitbewerber gearbeitet haben.
Ich weiss, bei Bridgestone waren gute Reifentechniker für die Teams am Werk sind. Aber wir werden neue Fachleute bringen.

Wurden bei der Fahrwerksgeometrie und beim Chassis grosse Änderungen nötig, weil bei Michelin 17-Zoll-Räder reingesteckt werden müssen statt 16,5-Zoll wie bei Bridgestone?

Ich würde sagen, der Unterschied zwischen den Reifenfirmen ist grösser als der Unterschied bei der Reifendimension, also von 16,5 auf 17 Zoll.

Bridgestone hat 2014 mit dem neuen Reifenbelag in Phillip Island ein Desaster erster Güte erlebt. Die Hinterreifen hielten maximal zehn Runden, deshalb musste die Renndistanz verkürzt und nach maximal zehn Runden ein Motorradwechsel gemacht werden. Michelin muss dringend in Australien testen?

Ja, wir haben bei IRTA und Dorna darauf beharrt, einen passenden Termin für einen Wintertest in Phillip Island zu bekommen. Wir werden von 17. bis 19. Februar alle Teams in Australien haben.
Phillip Island ist eine Strecke, auf der wir unbedingt genug testen müssen.

Auf immer mehr Rennstrecken werden Dual-Compound-Reifen verwendet, die links und rechts unterschiedlich hart sind, je nach der Anzahl der Links- und Rechtskurven. Sind solche Reifen auch bei Michelin geplant?

Für die Hinterreifen auf jeden Fall, da muss man Dual-Compound haben.
Wir von Michelin haben mit dieser Methode begonnen. Wir haben den Startschuss zu Dual-Compound gegeben und schon Mitte der 1990er-Jahre erstmals die Dual-Compound-Technologie verwendet. Das war für Daytona, für das 200-Meilen-Rennen. Das ist ist eine Piste, wo du solche Reifen brauchst.
Als die MotoGP-Viertakt-Ära begann, das war 2002, haben wir die Dual-Compound-Reifen auf fast jeder Strecke eingesetzt.

Zur Blütezeit des Reifenkriegs gegen Bridgestone in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts hat Michelin den europäischen Standortvorteil genützt, manchmal nach dem ersten Trainingstag in Clermont-Ferrand über Nacht neue Reifen produziert und sie in einem Kleintransporter für das Samstag-Training an die Rennstrecke gekarrt – bis Spanien oder Assen. Wird das auch 2016 vorstellbar sein?

Das will keiner... Jetzt stehen wir vor einer anderen Herausforderung. Sie ist unterschiedlich zu 2007 oder 2008. Die Herausforderung besteht jetzt darin, den Teams eine Bandbreite von Reifen anzubieten, die möglichst problemlos zu handhaben und für die verschiedenen Pisten gut geeignet sind.
Wir haben nicht die Absicht, die Reifen von einem Rennen zum andern und von einer Strecke zu ändern.
Wir werden nicht der letzten Zehntelsekunde nachjagen.

Wie viele unterschiedliche Konstruktionen und Mischungen und Reifentypen wird man für 18 Grand Prix brauchen?

Vorne reden wir über ungefähr sechs Mischungen. Hinten wissen wir es noch nicht genau. Die ideale Situation wäre so etwas Ähnliches wie Bridgestone gemacht hat. Wichtig ist, dass man Ärger vermeidet...
Wir werden etwas suchen, was für die meisten Teams bei allen erdenklichen Situationen passt.
Wir wollen die Teams und Fahrern nicht in Schwierigkeiten bringen, wenn es kalt ist und die Teams und Fahrer nicht in Probleme stürzen, wenn es heiss ist. Oder wenn wir nach Phillip Island gehen. Wir brauchen also eine gewisse Anzahl vor Varianten, auch bei den Hinterreifen.
Michelin ist Ende 2008 aus der MotoGP-WM ausgestiegen. Deshalb gibt es inzwischen neue GP-Strecken wie Austin, Las Termas und Spielberg, auf denen wir noch nie MotoGP-Rennen gefahren sind.
Wir wollten deshalb 2015 auf möglichst vielen Pisten fahren und testen. Das ist uns gelungen. Dadurch werden wir gut gewappnet sein für die Saison 2016.

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