Yamaha steht vor Einigung mit neuem Kundenteam

Michelin: Wir brauchen keine Skandal-Rennen

Kolumne von Günther Wiesinger
Michelin erlebte in diesem Jahr in der MotoGP-WM binnen zweier Monate bereits zwei Beinahe-Desaster. Vernachlässigen die Franzosen auf der Jagd nach Rekorden die Sicherheit?

Bisher hat sich Michelin mit der Rückkehr in die MotoGP-Weltmeisterschaft keinen grossen Gefallen getan.

Schon beim Montag-Test nach dem Mugello-GP im Juni letztes Jahres stürzten Lorenzo, Rossi und Márquez übers Vorderrad; sie testeten nachher die französischen Reifen nur noch in äusserst dringenden Notfällen.

Beim Zwei-Tage-Test in Valencia nach dem WM-Finale 2015 wurden 21 Stürze übers Vorderrad gezählt.

Beim Sepang-Test in Sepang zerplatzte der weiche Hinterreifen an der Ducati GP14.2 von Loris Baz auf der Zielgeraden bei Tempo 290. Dieser Reifen wurden dann für den restlichen Testtage eingezogen.

Der Franzose kam relativ glimpflich davon.

Schon damals kritisierte SPEEDWEEK.com die Tatsache, dass die Michelin-Ingenieure beim Hinterreifen eine zu weiche Konstruktion gewählt hatten, was zu einer geringen Hitzebeständigkeit führte.

Sowohl in Sepang als auch in Las Termas herrschten Asphalttemperaturen von mehr als 55 Grad.

Und so überraschte es uns nicht sonderlich, als sich im vierten freien Argentinien-Training an der Pramac-Ducati von Scott Redding hinten die Lauffläche ablöste.

Auf SPEEDWEEK.com war am 11. Februar 2016 zu lesen: Die Michelin-Datenblätter offenbarten schon in der Saison 2015, dass mit etwas weniger Luft gefahren wurde als bei Bridgestone.

Ausserdem gilt der Unterbau der Michelin-Reifen schon seit Jahren als verhältnismässig weich im Vergleich zu Bridgestone. Basierend auf dem weicheren Unterbau verwendet Michelin dann einen etwas härteren Gummi.

Die Bridgestone-Strategie in der MotoGP-Klasse sah anders aus: Die Japaner setzten auf einen härteren Unterbau, dafür von der Tendenz her auf etwas weichere Gummimischungen.

Der Vorteil des weicheren Unterbaus: Auf Strecken mit hohen Temperaturen wie in Malaysia erzielt ein Reifenhersteller auf diese Weise einen grösseren «contact patch», eine grössere Auflagefläche.

Das kann sich vorteilhaft auswirken, aber bei der Abstimmung kommt es üblicherweise mit dem weichen Unterbau zu Schwierigkeiten, das Motorrad in Balance zu halten.

Späte Erkenntnis: Am gestrigen Renntag in Las Termas schrieb Michelin den Teams einen höheren Mindestreifendruck vor als üblich. (Nomalerweise beträgt er 1,5 bar).

Doch diese Vorsichtsmassnahme hatte wieder gewisse Nachteile: Bei Stefan Bradl stieg der Druck hinten nach dem «bike change» so hoch, dass er extreme Vibrationen vom Hinterrad spürte – nicht als einziger Fahrer.

Als völlig witzlos darf man die Beteuerung von Nicolas Goubert bezeichnen, der nach dem Sepang-Crash von Baz mutmasste, das Avintia-Team sei mit 1,45 bar Druck gefahren statt mit 1,5. Dabei weiss jedes kleine Kind: 0,05 bar machen keinen Unterschied.

Zumindest keinen, der zu einer Reifenexplosion führen darf.

Die Art der Krisenbewältigung bei Michelin ist verbesserungsfähig. Nicolas Goubert, wahrlich ein Mann mit vielen Jahrzehnten Erfahrung, sagte wenige Minuten nach dem Baz-Unfall in Malaysia: «Jetzt räumen wir die Strecke auf, dann wird wieder gefahren.»

Kein Wort davon, dass zuerst einmal die Unfallursache untersucht werden müsste.

Bevor die Story mit den um 0,05 bar zu geringen Luftdruck erzählt wurde, hiess es sogar, der Reifen sei durch einen kapitalen Motorschaden zerstört worden. Doch dieses Märchen wurde rasch entlarvt: Der Ducati-Motor von Baz war nach dem Zwischenfall immer noch betriebsbereit.

Nicolas Goubert ist bei Michelin Deputy Director, Technical Director und Supervisor des MotoGP-Programms.

In Argentinien habe er eine gehörige Schelte von IRTA und Dorna und der Teams und Fahrer über sich ergehen lassen müssen, ist zu hören.

Michelin musste sogar den am Samstagabend ausgeheckten Plan, das Rennen im Fall von Trockenheit das Rennen mit dem extra-harten Beton-Hinterreifen über die ganze Distanz von 25 Runden zu fahren, wieder fallen lassen.

Die Teams hatten diesen Betonreifen (offizielle Bezeichnung: «extra tyre») noch nie aus der Nähe gesehen, es gab keine Abstimmung dafür. Und als dann das 30-Minuten-Zusatztraining am Sonntag um 9 Uhr vor dem Warm-up buchstäblich ins Wasser fiel, siegte die Vernunft.

Die Teams und Fahrer bekamen die beiden Hinterreifen-Compounds aus der normalen Allocation (Medium und Hard), dafür wurde das Rennen von 25 auf 20 Runden verkürzt. Und die Fahrer mussten nach 9, 10 oder 11 Runden zum «bike change» (und somit Reifenwechsel) an die Box kommen.

Denn zehn Runden hielten diese Hinterreifen allemal durch.

«Ich möchte der Dorna, IRTA und allen Teams für ihr Verständnis und ihre Unterstützung meinen Dank aussprechen», erklärte Goubert nach dem Rennen. «Das waren ein paar herausfordernde Tage für uns.»

Es könnten freilich noch weitere ungemütliche Tage auf Michelin zukommen.

Denn letztes Jahr gab es Meldungen, bei Michele Pirro habe sich im Juli bei grosser Hitze in Mugello ein Hinterreifen in seine Bestandteile aufgelöst. Als Cal Crutchlow darüber öffentlich spekulierte, musste er sich bei Michelin entschuldigen. Es lagen keine handfesten Beweise vor.

Inzwischen gibt es TV-Aufnahmen und Bilder aus Sepang (Baz) und Redding (Las Termas), die keinen Zweifel offen lassen. Bei den MotoGP-Reifen von Michelin existiert ein Sicherheitsproblem.

Insider bemängeln, Michelin habe beim Bemühen, auf Anhieb die Rundenzeiten von Bridgestone zu erreichen, die Sicherheit vernachlässigt.

Tatsache ist: Schon zu Zeiten des MotoGP-Reifenkriegs bis Ende 2008 war Michelin nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Stoner gewann die WM 2007 auf Ducati, Rossi 2008 auf Yamaha – jeweils auf Bridgestone.

Dann kamen sieben Jahre lang die Bridgestone-Einheitsreifen.
Und Valentino Rossi wusste natürlich genau, warum er sich bei Yamaha für 2008 die Bridgestone-Reifen exklusiv sicherte, während Rookie Lorenzo mit den Michelin fahren musste und damit serienweise schwere Stürze fabrizierte.

Von den Teams und Fahrern ist bisher nur leise Kritik an Michelin zu hören. Kein Wunder: Michelin lässt sich das MotoGP-Abenteuer geschätzte 20 Millionen Euro im Jahr kosten. Es gibt Verträge mit den Teams, alle Fahrer werden kostenlos ausgerüstet.

Firmenschädigende Äusserungen sind den Fahrern untersagt.
Aber hinter den Kulissen knistert es. Die Fahrer üben Druck auf Dorna-Chef Carmelo Ezpeleta aus.

Sie wünschen sich mehr Gefühl für die Vorderreifen, die wenig Feeling fürs Limit vermitteln, die Rückmeldungen im Grenzbereich lassen zu wünschen übrig. Die Haftung reisst oft schlagartig ab. Stefan Bradl bezeichnet ihr Verhalten als «teigig».

Die Anzahl der Vorderrad-Crashes in Las Termas in Kurve 1 erwies sich als ungeheuerlich.

1000 ccm, 270 PS, 157 kg, 62 Grad Schräglage – die MotoGP-Klasse ist für die Reifenhersteller eine gewaltige Herausforderung. Bridgestone hat sie mit wenigen Ausnahmen sieben Jahre lang grossartig gemeistert.

Michelin hat einen Fehlstart hingelegt.

Doch Michelin ist ein erfolgreicher Weltkonzern. Die Franzosen besitzen alle Fähigkeiten und Kapazitäten, die für den MotoGP-Erfolg nötig sind.

Aber bisher scheint es an Selbsterkenntnis zu fehlen.

Das ist beängstigend. Baz und Redding haben mehr Glück als Verstand gehabt.

Solche schockierenden Zwischenfälle wollen wir nie mehr erleben.

Wir brauchen keine Skandalrennen wie 2005 in der Formel 1 beim Indy-GP, als alle Michelin-Autos nach der Aufwärmrunde an die Box fuhren. Die Anwälte von Michelin hatten nach Reifenschäden im Training von einem Start abgeraten. Der Vorschlag der Franzosen, die Indy-Steilwand durch eine Schikane zu entschärfen, stiess beim damaligen FIA-Präsidenten Max Mosley auf taube Ohren.
So wurden die Zuschauer verschaukelt.

Michelin hat zwischen 1976 und 2006 in der Königsklasse im freien Wettbewerb 26 von 31 Weltmeistertiteln gewonnen.

Diese Bilanz spricht für die Franzosen.

Aber Fahrer, Teams, Medien und Zuschauer wollen kein zweites Mal einen Eiertanz erleben wie in Argentinien.

Michelin hat sich gegenüber 2015 deutlich verbessert, was freilich auch dringend erforderlich war.

Aber es drängt sich der Verdacht auf, dass bei der Jagd auf neue Rundenrekorde die Sicherheit aufs Spiel gesetzt wurde.
Das Leben der weltbesten Motorradrennfahrer darf nicht in Gefahr gebracht werden.

Ob Michelin die Bridgestone-Zeiten im ersten Jahr erreicht oder nicht, muss Nebensache bleiben.

Im schlimmsten Fall müssen die Franzosen über ihren Schatten springen und ein bisschen brachliegendes Bridgestone-Knowhow einkaufen.

Das wäre mir lieber als weitere schockierende Bilder mit sich ablösenden Laufflächen, Szenen mit roten Flaggen und malträtierten Fahrerrücken wegen davonfliegender Reifenstücke.

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