Cal Crutchlow: «Wir halten uns für unverletzlich»

Von Günther Wiesinger
Cal Crutchlow

Cal Crutchlow

LCR-Honda-Pilot Cal Crutchlow nimmt mit ungeahnter Offenheit Stellung zur schwierigen Situation nach dem Tod von Luis Salom. Und er bewundert die Tourist-Trophy-Helden aufrichtig.

Cal Crutchlow (30) gelang beim Catalunya-GP mit Platz 6 sein bestes Saisonergebnis, er rückte in der WM-Tabelle mit 20 Punkten auf Rang 16 vor und verblüffte die Konkurrenz beim Montag-Test in Barcelona mit einer Bestzeit – vor Lorenzo.

Da Crutchlow bei diesem Test zwei Stunden vor Schluss noch 1,6 sec zurücklag, fragten ihn sogar die Honda-Techniker, ob er eine Abkürzung gewählt habe...

Aber das Team mit Lucio Cecchinello und Christophe «Beefy» Bourguignon an der Spitze versicherten, es seit alles mit rechten Dingen zugegangen.

An den drei GP-Tagen hatte Crutchlow mehrmals erwähnt, das Repsol-Team habe beim Top-Speed gegenüber den ersten Rennen klare Fortschritte erzielt, LCR aber müsse auf Updates warten. «Wir müssen geduldig sein. Wir haben, was wir haben... Am Samstag konnte ich nicht einmal im Windschatten von Jack Miller halten. Wir hatten keine Erklärung dafür.»

Crutchlow hält die Entscheidung, die Streckenführung nach dem Luis-Salom-Drama für Samstag zu ändern, für vollkommen richtig.

Cal, es gab Diskussionen, weil sich die MotoGP-Fahrer nach einem kurzen Test in Barcelona vor zwei Jahren gegen die Variante mit den zwei zusätzlichen Schikanen und den drei zusätzlichen Kurven ausgesprochen haben.

Diesmal war es die richtige Entscheidung, ich stimme zu, ich stehe dahinter.
Wir haben am Sonntag gute Rennen gesehen. Alle haben das Weekend an den nächsten zwei Tagen sicher überstanden.
Wir haben das Beste aus der Situation gemacht und unsere Aufgabe gut erledigt. Denn am Freitagabend bestand die Möglichkeit, dass der Grand Prix abgesagt wird. Es bestand die Chance, dass einige Fahrer gar nicht mehr fahren wollten.

Darüber wurde am Freitagabend in der Safety Commission diskutiert. Was wurde da alles besprochen?

Auch ich habe am Freitag in Barcelona einen Freund verloren. Luis Salom war kein Freund, den ich jede Woche angerufen habe. Aber ich hatte mehrmals das Vergnügen, mit ihm Zeit zu verbringen.
Es ist für niemanden einfach, wenn du ein GP-Weekend erlebst, an dem ein Kumpel von dir stirbt, während er seiner Lieblingsbeschäftigung nachging.
Barcelona war ein schwieriges Weekend. Damit wir uns nicht falsch verstehen.
Das Problem ist: Wir halten uns alle für unverletzlich. So einfach ist das...
Wir gehen einfach raus... Bevor ich am Freitag oder Samstag das Training beginne, plane ich schon eine abendliche Runde mit meinem Rennrad. Oder ich vereinbare ein Dinner mit Freunden bei Alpinestars.
Du hältst dich als Motorradrennfahrer für unverletzlich, also machst du Pläne wie jeder andere, der zur Arbeit geht. Keiner denkt an die möglichen Konsequenzen.
Bei mir wird sich in zwei Monaten einiges ändern. Im August werde ich erstmals Vater. Ich bin ein selbstsüchtiger Motorradrennfahrer. Aber wenn das Baby zur Welt kommt, wird sich meine Einstellung vielleicht ein bisschen ändern. Das Baby wird mich nicht langsamer machen. «Dovi» ist ja auch nicht langsamer geworden...
Ich sehe es anders: Ich muss sogar schneller fahren, weil ich in meinem Haushalt und in meiner Familie einen weiteren Menschen ernähren muss...

Darf ich eine taktlose Frage stellen? Du lebst auf der Insel Man. Dort verlieren jedes Jahr einige Rennfahrer bei der Tourist Trophy ihr Leben. Fällt es dir deshalb leichter, Todesfälle wie jenen von Luis Salom zu akzeptieren?

Überhaupt nicht; überhaupt nicht. Ich betrachte die TT nicht, indem ich sage, das ist alles unsicher und gefährlich. Versteht mich nicht falsch: Ich schaue mir die TT an wie andere Menschen. Und ich stelle dann fest: «Das ist erstaunlich.»
Ehrlich gesagt: Ich halte die TT-Fahrer für unglaublich. Ich schätze sie viel, viel höher ein als die MotoGP-Fahrer. Sie befinden sich im Vergleich zu uns auf einem anderen Planeten. Was sie tun, ist eine Menge besser als das, was wir tun. Das ist meine Meinung.

In welcher Hinsicht?

Wie sie fahren, wie sie auf diesem 60 km langen Strassenkurs pushen, wie sanft und geschmeidig sie fahren. Manche Leute haben auf permanenten Strecken nicht so viel Schräglagenwinkel wie die TT-Asse auf der normalen Strasse.
Ich betrachte die TT nicht als gefährlich, ich halte sie für fantastisch. Ich wetterte nicht, wenn sich jemand bei der TT verletzt...
Verletzungen passieren auch bei normalen Motorradunfällen im Alltagsverkehr.
Ich fahre jeden Tag mit meinem Rennrad, eine gefährliche Geschichte. Es gibt auch genug Unfälle beim Stiegen steigen.
Am Ende des Tages kann jederzeit etwas passieren. Wir alle haben schon von den eigenartigsten Unfällen gehört. Manchmal können sie verhindert werden, manchmal nicht.
Wir gehen auf die Rennstrecke, wir lieben unseren Job, und wenn wir ihn nicht mehr ausüben wollen, müssen wir daheim bleiben. So einfach ist es.
Niemand richtet einen Schiessprügel auf meinen Kopf und sagt: Fahr raus auf die Strecke. Wir alle tun das, weil wir es absolut lieben.
Wenn ich ehrlich bin: Alle anderen, die im Paddock ihr Geld verdienen, lieben diesen Sport genau so, die Berichterstatter auch. Sonst wären sie nicht hier. Es gibt Jobs im Medienbereich, die einfacher sind, die nicht mit so viel Reiserei verbunden sind. Alle Beteiligten lieben den Motorradsport.
Deshalb hatte ich in Barcelona am Samstag absolut keine Bedenken, wieder auf die Piste zu gehen. Was passiert ist, lässt sich nicht ändern, es ist eine Schande, es ist traurig. Und es war am letzten Wochenende wirklich nicht einfach, den Grand Prix fortzuführen. Aber man muss weitermachen. Glaubt mir, keiner vergisst diesen Unfall. Auch bei der TT sind schon gute Freunde von mir gestorben. Trotzdem: Du musst als Rennfahrer auf die Strecke zurückkehren.
Das ist nicht einfach. Aber wir lieben das Motorradrennfahren. Wir möchten nichts anderes tun.

Eine schreckliche Frage: Wenn dir etwas passieren würde, würdest du befürworten, dass am nächsten Tag wieder gefahren wird.

(Er denkt nach). Aäähhh... Sicher, ja. Aber du glaubst nicht, dass dir etwas passiert.
Ich werde also kein Schreiben verfassen und dort schriftlich niederlegen: Bitte, wenn mir etwas zustösst, macht euch nichts draus und geht am nächsten Tag wieder auf die Piste.
Am Ende des Tages würde weder mein Team noch jemand von meiner Familie oder irgendein anderer, der mit mir etwas zu tun hat, einen Abbruch der Veranstaltung gutheissen.
Solche Vorfälle hindern uns nicht daran, als Limit zu gehen und zu pushen. Ich kenne niemanden, der am nächsten Tag wirklich langsam gefahren ist, weil ein Verwandter oder Freund am Tag zuvor tödlich verungückt oder verletzt worden ist. 
Aber es ist vorgekommen, dass jemand nach so einem Unfall aufgehört hat. Diese Menschen sagten einfach, sie wollen das nicht mehr tun. So einfach ist das.
Aber es kann in fast jeder Sportart etwas passieren. Vielleicht gibt es im Motorradsport mehr Verrückte als sonstwo...

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