Berg-EM: Volksfest mit Helden und Motoren

Kolumne von Rolf Lüthi
In Boécourt im Schweizer Jura müssen die Leute selber dafür sorgen, dass was los ist, und am Wochenende war echt was los: Motorrad-Bergrennen und dazu ein Strassenfest bis spät in die Nacht.

Es ist fast alles noch so wie vor 30 Jahren, als ich zum ersten Mal ein Bergrennen besuchte. Diesen Satz könnte wohl auch ein Journalistenveteran schreiben, der in der Zwischenkriegszeit von einem Bergrennen berichtete. Fast alles, das heisst: Wie schon vor 30 Jahren wurde auf der langen Geraden nach dem Start Tempo rausgenommen mittels künstlich errichteter Schikanen. Nur werden heute diese Schikanen nicht mehr aus Strohballen gebaut, sondern mit Hindernissen aus Kunststoff. Generell sieht man keine Strohballen mehr, Leitplanken, Bäume und Felsvorsprünge sind mit Airfences, also grossen Luftmatratzen abgedeckt.

Nach manchmal heftigen Kontroversen in den 1980er Jahren zählen die Bergrennen nicht mehr zur Schweizer Strassenmeisterschaft.

Damals weigerten sich wegen der Gefährlichkeit immer wieder Fahrer, die Bergrennen zu bestreiten. Doch wer um den Titel fahren wollte, konnte es sich nicht leisten, die Bergrennen auszulassen.

Dazu kam ein gewisser Druck von Sponsoren, weil es in der Schweiz seit 1955 ein Rundstreckenverbot gibt. Die Bergrennen waren die einzige Gelegenheit, die Schweizer Strassenrennfahrer auf heimischem Boden in Aktion zu sehen. Seit bald zehn Jahren gibt es eine eigene Schweizer Bergmeisterschaft. Nachdem wegen clubinterner Querelen das traditionsreiche Bergrennen von Chatel St.-Denis dieses Jahr nicht stattfindet, ist die Veranstaltung von Boécourt das einzige Rennen in der Schweiz, das zur Schweizer Bergmeisterschaft zählt. In allen Klassen waren total 47 SM-Fahrer am Start. Weitere vier Rennen finden im Ausland statt.

Seit 2013 findet wieder eine Bergrenn-Europameisterschaft statt, ausgefahren in vier Kategorien. Die Supermoto-Kategorie liegt mit zwei Fahrern in Boécourt darnieder. In den Klassen Supersport und Superbike fahren je rund zehn Fahrer die ganze Meisterschaft, in der Klasse 240 GP sind es ein paar weniger.

Dazu kommen in jedem Land eine Anzahl Fahrer, die ihr Heimrennen bestreiten. In Boécourt waren in der EM 27 Fahrer am Start. Während traditionelle Strassenrennen wie die Tourist Trophy oder das Northwest 200 wieder auf grösseres Interesse stossen, wird die Berg-EM unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgefahren.

In Boécourt wurde den Zuschauern neben freiem Zugang zu den Fahrerlagern ein regelmässiger Busbetrieb zu den spektakulären Streckenabschnitten geboten, ebenso war der Speaker an diesen Stellen zu hören, trotzdem hielt sich der Zuschaueraufmarsch bei schönem Sommerwetter in Grenzen.

Im Rahmen der Schweizer und Europameisterschaft starteten auch verschiedene Veteranen- und Youngtimer-Klassen, wobei in diesen Kategorien nicht auf Bestzeit, sondern auf möglichst geringe Zeitdifferenz zwischen zwei Rennläufen gefahren wird. Das geht nach überreinstimmender Aussage dieser Fahrer am besten, wenn man möglichst exakt und am persönlichen Limit fährt. Insgesamt 80 Fahrer starteten in diesen Gleichmässigkeits-Kategorien und ermöglichten mit ihren Startgeldern überhaupt die Durchführung dieses Bergrennens.

Im Umfeld der Veranstaltung ist alles noch wie früher: Am Vorabend des Rennens steigt im Dorf Boécourt ein Strassenfest, das bis spät in die Nacht andauert. Die Fahrer campieren verstreut im Dorf und am Dorfrand auf einer Wiese. Hätte es geregnet, hätten die Bauern mit ihren Traktoren die Transportfahrzeuge der Fahrer zurück auf den Asphalt schleppen müssen.

Für den Österreicher Wolfgang Gammer, der sich in Boécourt vorzeitig den Titel des Europameisters bei den Superbikes sicherte, sind die Bergrennen auch aus finanziellen Gründen attraktiv: «Ich fuhr früher den Alpe Adria Cup, da kostete ein Rennwochenende locker 3500 Euro. Hier bin ich mit einem Drittel der Kosten dabei.»

Diese Kosteneinsparung im Vergleich zu Rundstrecken-Meisterschaften rührt auch von den viel geringeren Renndistanzen her: Am Rennwochenende mit Trainings und vier Wertungsläufen wird die Strecke von 3 km total acht Mal befahren.

Der Franzose Jean-Luc David gewann 2015 neben den EM-Titel auch die nationalen Meisterschaften von Frankreich und Österreich, holte also im gleichen Jahr drei Titel. Trotzdem ist er weiter reiner Privatfahrer, sein Team besteht aus Familie und Freunden.

Bergrennen werden als Einzelzeitfahren ausgetragen, es gibt keine Überholmanöver oder Positionswechsel, womit diese Disziplin fürs Fernsehen uninteressant ist. Erhöhtes Interesse brächte allenfalls die Teilnahme bekannter Strassenrennfahrer wie John McGuiness oder Guy Martin. Diese Fahrer müssten für ihre Teilnahme bezahlt werden, doch da ist niemand in Sicht, kein Hersteller und kein Sponsor, der dahingehend investieren wollte.

Die Supermoto-EM dürfte gestrichen werden, sonst wird in naher Zukunft wohl alles bleiben, wie es ist. «Wir spielen hier die 1960er und 1970er Jahre nach», kommentierte mit feinem Humor ein Veteranen-Fahrer die Stimmung.

Eine realistische Einschätzung, die nicht negativ gemeint ist. Die Stimmung unter den Fahrern ist enthusiastisch und familiär, man hilft einander, der Veranstalter und die Helfer stammen aus der Gegend und sind ebenfalls mit Idealismus dabei, das Rennwochenende bildet ein lokales Volksfest. Ein reizvolles Kontrastprogramm zu den sterilen Veranstaltungen mit WM-Status.

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