Max Verstappen: Frischzellenkur für die Formel 1

Von Mathias Brunner
Max Verstappen

Max Verstappen

Der Niederländer Max Verstappen ist mit 24 Jahren Weltmeister geworden, gegen Lewis Hamilton, den wohl komplettesten GP-Piloten von allen. Die kompromisslose Angriffslust von Verstappen polarisiert.

Jos Verstappen fuhr 2001 für das Orange Team Arrows in der Formel 1 und brachte seinen Sohn Max an die Rennstrecke. Als ich den Kleinen zum ersten Mal sah, wie keck der sich umschaute, keine Spur eingeschüchtert vom ganzen Trubel im Fahrerlager, da schoss mir durch den Kopf: «Irgendwie sieht er aus, als wüsste er, dass er hierher gehört.» Diesen Gedanken habe ich nie vergessen.

Zwanzig Jahre später ist Max Formel-1-Weltmeister mit Red Bull Racing-Honda. Er hat nach einem gigantischen Zweikampf den siebenfachen Weltmeister Lewis Hamilton im Mercedes bezwungen.

Max Verstappen kam als 17-Jähriger in die Königsklasse, und natürlich war das Geschrei gross. Besserwisser monierten, Verstappen werde bestimmt überfordert sein, sie malten das Bild schwerer Unfälle aus, und überhaupt, was komme als nächstes? Dass ein Kartfahrer direkt in die Formel 1 aufsteige?

Der Autosport-Weltverband FIA führte ein komplexes Punktesystem ein, um den Formel-1-Führerschein Superlizenz zu erhalten und ein Mindestalter 18. Daher ist Max auf immer der jüngste Formel-1-GP-Pilot, mit 17 Jahren, 5 Monaten und 15 Tagen, beim Grossen Preis von Australien 2015.

Wie bei Kimi Räikkönen 14 Jahre zuvor, auch er wegen angeblich mangelnder Erfahrung angeprangert, erledigte sich die Kritik von selber: Denn Männer wie Kimi oder Max sind fürs Rennfahren geboren.

Bei Max kommen dabei nicht nur die Renn-Gene von Jos Verstappen zum Tragen, Mutter Sophie hat im Kart so manchen Jungs gezeigt, wo’s lang geht.

Überholen ist nicht Überholen

Die ersten Jahre waren von einem gewissen jugendlichen Übermut gekennzeichnet. Max konnte nicht verstehen, wieso sich die anderen Piloten über seine Manöver beim Attackieren oder Verteidigen so aufregten. Er tat doch nichts Anderes als all die Jahre zuvor, und die Wurzeln für ungewöhnliche Linienwahl reichen tief, bis in die unbezahlbare, harte Schule, welche Max bei seinem Vater durchlief.

Jos fasste seinen Sohn nicht mit Samthandschuhen an. Der heute 49-jährige Jos sagt: «Ich versuchte schon auf Kart-Stufe, ihm so viel zu vermitteln, wie es nur geht. Denn es gibt so viele Aspekte zu beachten – das Fahren an sich, wie du überholst, dann das Abstimmen deines Fahrzeugs. Ich glaube, Max früh sehr viel mit auf den Weg zu geben, das hat sich ausbezahlt, denn bei seinem Debüt in der Formel 1 zeigte sich, dass er für sein Alter sehr weit ist.»

Zur ungewöhnlichen Linienwahl seines Sohnes sagt Jos: «Das Überholen war für mich ein riesiges Thema, denn man kann meiner Meinung nach auch falsch überholen. Wenn er bei einem Überholmanöver Zeit verloren hat, dann versuchte ich, ihn zu erklären, wie er das besser machen kann. Wenn du Zeit auf der Bahn liegen lässt, dann hast du das nicht richtig gemacht. Max hat sich das verinnerlicht.»

«Das ging so weit, dass ich ihm verboten habe, auf den Geraden anzugreifen oder an Stellen, die mir zu einfach vorkamen. Ich habe ihm gesagt: ‘Du darfst nur hier, hier und auch da attackieren, sonst aber nicht.’ Und das waren eben Kurven, wo die Anderen vielleicht nicht angreifen. Das ist einer der Gründe, wieso wir heute in der Formel 1 den Eindruck haben, Max könne überall überholen. Ein Überholmanöver ist kein Produkt des Zufalls. Ein Pilot muss den Gegner scharf beobachten, seine Schwächen ausspionieren und sich den Rivalen richtiggehend zurechtlegen. Max hat das im Kartsport jahrelang trainiert, es ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen.»

Tiefe innere Ruhe

Das Handwerk des Rennfahrers ist das Eine, die mentale Seite ist das Andere. Max Verstappen wirkte in den meisten Phasen dieser WM tiefenentspannt. Ausser, er regt sich über etwas auf. Dann kommt feuriges Temperament zum Vorschein, und die Sprache wird rustikal. Beim chaotischen Grand Prix von Saudi-Arabien zeigte sich – Verstappen ist zu fast allem bereit, um die Nase vorn zu haben.

Aber die grundsätzliche Haltung zeugt von einem Menschen, der in sich ruht, der sich seiner Fähigkeiten komplett bewusst ist und den es daher auch nicht nervt, wenn er mal nicht gewonnen hat (Ausnahmen bestätigen die Regel). So lange Max Verstappen weiss, dass er aus seinen Möglichkeiten das Beste gemacht hat, ist alles in Ordnung.

Woher kommt diese Gelassenheit? Jos Verstappen: «Das entspricht seinem Charakter, so etwas kannst du nicht trainieren. Ich weiss, dass ich nicht der Einfachste bin, und ich habe von Max sehr viel gefordert. Aber er konnte das alles aushalten. Er war mental schon immer sehr stark. Mit vielen Siegen baute er Schritt um Schritt ein gewaltiges Selbstvertrauen auf. Wenn du fest an dich glaubst, dann geht das auch nicht mehr weg.»

Max Verstappen hat sich in dieser GP-Saison 2021 nie irre machen lassen vom gewaltigen Rummel. Ralf Schumacher ist aufgefallen: «Also wie Max dem Druck beim Heimrennen in Zandvoort standgehalten hat, das war schon überaus eindrucksvoll. Die Erwartungen waren enorm, aber dann hat Max die Pole herausgeholt und ist souverän zum Sieg gefahren, am ganzen Wochenende mit einem Lächeln auf den Lippen. Das hat mich tief beeindruckt.»

Zum Thema Druck meint Max: «Mein Ziel ist immer das gleiche. Ich gebe mein Bestes. Ich habe mir in diesem Jahr gesagt – wenn das zum Titel reicht, dann ist das fabelhaft. Wenn ich aber am Ende Zweiter werden sollte, jedoch nichts falsch gemacht habe, dann kann ich auch gut damit leben. Weltmeister oder nicht Weltmeister, das stellt mein Leben nicht auf den Kopf. Ich bin da komplett gleichmütig.»

Entwaffnende Ehrlichkeit

Aber wie tickt dieser Verstappen eigentlich? Was macht den inzwischen 20-fachen GP-Sieger so stark? Red Bull Racing-Teamchef Christian Horner findet: «Ich habe in all meinen Jahren keinen Piloten erlebt, der so geradeheraus ist wie Max. Alles wird in grösster Offenheit und Ehrlichkeit angepackt. Was die Öffentlichkeit denkt, ist für ihn nicht so wichtig, er ist ohnehin abseits der Rennstrecke gerne für sich.»

Wenn andere Fahrer Fotos posten von exotischen Orten oder sich sein Rivale Hamilton bei einer Modeschau blicken lässt oder im Musikstudio, dann verbringt Max lieber die Zeit in seinen eigenen vier Wänden in Monaco.

Christian Horner sagt weiter: «Wenn man dann mehr Zeit mit ihm verbringt und ihn besser kennenlernt, dann ist er ein supernetter Bursche, der totale Leidenschaft für seinen Sport mitbringt, ungemein hungrig, bis in die letzte Faser motiviert; um genau zu sein, kenne ich keinen anderen Fahrer, der einen so starken inneren Antrieb hat.»

«Was die Arbeit mit ihm angeht, so ist es sehr einfach, sich mit ihm hinzusetzen und seine Aufmerksamkeit zu erhalten. Vielleicht zeigt sich im Gespräch, dass er anderer Ansicht ist, aber er ist immer bemüht, einen gemeinsamen Nenner zu finden.»

«Max war damals unheimlich frustriert über die Kollision mit Lewis in England und das Ergebnis. Denn er hatte an jenem Wochenende sehr hart gearbeitet, er hatte bereits das Sprintrennen gewonnen und rechnete sich gute Chancen auf den GP-Sieg aus. Stattdessen: Berührung mit Hamilton, 51g-Crash, Krankenhaus, Sieg des Gegners. Aber am Montag sagte er zu mir: ‘Wenn ich das Rennen noch einmal fahren könnte, würde ich es gewinnen.’ Und dann liess er das hinter sich. Er ist auch nicht nachtragend. Er ist keiner, der längere Zeit über etwas brütet.»

Ganz wichtig für den Niederländer: die symbiontische Zusammenarbeit mit seinem Renningenieur, Gianpiero Lambiase. Horner sagt weiter: «Die Dyamik zwischen den beiden ist so intensiv, dass du dich zwischendurch fragen musst, wer hier der Fahrer und wer der Ingenieur sein soll. Ich glaube, die Arbeit zwischen einem Piloten und seinem Renningenieur ist ganz elementar für den Erfolg. Der Ingenieur muss umsetzen können, was der Fahrer braucht. Ich sehe da ein so starkes Band wie früher zwischen Sebastian Vettel und Guillaume Rocquelin.»

Sich selber treu

Ich glaube, ein Grund dafür, wieso Max Verstappen so populär ist, weit über die Grenzen seiner treuen Orange-Hemden hinaus: Er ist authentisch. Der Red Bull Racing-Fahrer ist ein miserabler Schauspieler, man weiss immer genau, woran man ist, ob er sich nun ärgert oder freut.

Die Fans wissen das zu schätzen: 2021 wurde er im Rahmen einer Umfrage für die Formel 1 zum beliebtesten Fahrer gewählt, mit 14,4 Prozent aller Stimmen. Dass der Red Bull Racing-Star in den Niederlanden vorne liegt, war klar, auch die Spitzenposition in Japan ist durch die Arbeit mit Honda naheliegend. Überraschender ist dann doch, dass Max auch in den USA unter den Fans der populärste Fahrer ist, nicht etwa der Weltenbummler Lewis Hamilton, der regelmässig in Amerika weilt.

Max macht aus seinem Herzen nie eine Mördergrube, auch wenn seine Worte einigen Leuten quer im Halse stecken bleiben sollten oder er sich mit seiner gnadenlosen Ehrlichkeit keinen Gefallen tut. Unvergessen, wie er in Mexiko mal zugab, dass er unter Gelb nicht verlangsamt hatte, als links von ihm Bottas’ Mercedes in der Pistenbegrenzung steckte. Das kostete ihn den Rekord, zum jüngsten Formel-1-Fahrer auf Pole-Position zu werden.

Max Verstappen hat sich eine Weile über sich selber geärgert, dann ist er zur Tagesordnung übergegangen.

Max Verstappen ist für die heutige Formel 1 ein Segen, eine Frischzellenkur nach Jahren von Mercedes-Weltmeistertiteln: endlich einer, der es mit Dauer-Weltmeister Hamilton aufnehmen kann. Ihr Duell schürte Emotionen, und der Motorsport lebt von Emotionen.

Dazu gehört auch, dass sich zwei Fahrzeuge berühren und schon mal die Kohlefaserteile fliegen: Verstappen scheut sich nicht davon, die Ellenbogen auszufahren. Er rempelte sich in Imola und Barcelona vorbei, in Silverstone wurde er dann von Lewis von der Bahn gekegelt, es folgte die Kollision von Monza und die Fast-Kollision von Brasilien, welche tagelange Diskussionen über die Pistenetikette auslöste. Aber das alles waren Kinkerlitzchen gegen die Brisanz der Nacht von Saubi-Arabien.

Einige Fans hielten in Foren fest: Verstappen gegen Hamilton, das hatte etwas von der Qualität von Villeneuve gegen Arnoux vor mehr als vierzig Jahren.

Unvergessen der rundenlange Zweikampf zwischen Gilles Villeneuve und René Arnoux in Dijon 1979, mit mehreren Berührungen zwischen dem Ferrari und dem Renault, im Kampf um Rang 2. Danach lagen sich die Rauhbeine lachend in den Armen und klopften sich anerkennend auf die Schultern, und die Fans reden heute noch von diesem grandiosen Kampf, während sich kaum einer an den Sieger erinnert (es war der erste Turbo-Sieg in der Formel 1, von Jean-Pierre Jabouille im Renault).

Die Fans schwärmen noch heute von diesem Duell. Und, da bin ich mir ganz sicher, sie werden in zehn oder zwanzig Jahren auch noch von Verstappen gegen Hamilton reden. Aber es gibt einen gewaltigen Unterschied: Von Gelächter und Schulterklopfen konnte in Dschidda keine Rede sein, stattdessen wirkten Verstappen und Hamilton eher wie zwei Boxer, die sich elf Runden lang an die Grenze der Leistungsfähigkeit geprügelt haben und wissen – es kommt noch eine zwölfte Runde. In Abu Dhabi gab es dann versöhnliche Momente, und Lewis Hamilton zeigte in der Niederlage Grösse.

Wie geht es nun weiter?

Lewis Hamilton sagt über seinen Rivalen: «Die Leute vergessen hin und wieder, wie jung Max noch ist. Er wird von Saison zu Saison nur noch stärker und das kommende Jahrzehnt prägen, das steht für nich ausser Frage.»

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