Ferrari: Teamchef Mattia Binotto sass auf Pulverfass

Von Mathias Brunner
Die Teamchefs des berühmtesten Rennstalls der Welt haben wahrlich kein einfaches Leben: Immer wieder mussten sie in den vergangenen Jahren wegen Erfolglosigkeit ihren Posten räumen. So jetzt auch Mattia Binotto.

Der ruhige Pol ist weg: Ferrari hat am 29. November bestätigt, dass Teamchef Mattia Binotto gekündigt habe. In Italien gilt als offenes Geheimnis – nach 28 Jahren Plackerei für Maranello wollte man dem in der Schweiz geborenen Binotto die Möglichkeit bewahren, würdig abzutreten, also nicht in Form einer Entlassung. Bei den Vorgängern von Mattia Binotto war die Chef-Etage von Ferrari weniger zimperlich.

Kein Teamchef steht so unter Erfolgsdruck wie der Steuermann von Ferrari: Der berühmteste Rennstall der Welt ist zum Erfolg verdammt, und gemäss des Beispiels aus dem Fussball muss jeweils der Trainer gehen, auch wenn die Mannschaft einen Mist zusammengekickt hat.

Die Saison 2022 war kritisch für Mattia Binotto – der Schritt zu einer neuen Rennwagen-Generation wurde als grosse Chance angesehen, endlich wieder an die Spitze zu kommen und sich dort zu halten. Denn das stolze Ferrari ist inzwischen seit Kimi Räikkönen 2007 ohne Fahrer-WM-Titel, und der Konstrukteurs-Pokal ging letztmals 2008 nach Maranello.

Aber dieses Ziel ist verfehlt worden, aus vier Gründen: Mangelnde Standfestigkeit des Motors, strategische Fehlentscheidungen in den Rennen, individuelle Fehler von Charles Leclerc und Carlos Sainz sowie der Boxenmannschaft (verpatzte Boxenstopps), und letztlich konnte Ferrari dem Entwicklungsprogramm von Red Bull Racing zu wenig entgegensetzen.

Der heute 53-jährige Mattia Binotto kennt die Ferrari-Historie wie seine Westentasche. Gerade die vergangenen Jahre haben auch ihm gezeigt, wie schnell ein Ferrari-Teamchef seinen Posten los sein kann.

Maurizio Arrivabene musste wegen der verlorenen Titel von Sebastian Vettel gegen Lewis Hamilton gehen. Besonders bitter – Ferrari schien zu Saisonbeginn 2018 und bis in den Sommer hinein das bessere Fahrzeug zu besitzen, so wie auch 2022. Fahrfehler von Sebastian Vettel, Strategiepatzer von Ferrari, vor allem jedoch eine effizientere Entwicklung bei Mercedes-Benz führten dazu, dass die Silberpfeile ab Sommer mehr Erfolg hatten. Die Geschichte wiederholt sich.

Aber das verlorene Titelrennen allein war es nicht. Auch der Führungsstil von Arrivabene stand auf den Prüfstand. Es war davon die Rede, dass er zu viel alleine entscheiden wollte, das habe bei seinen Mitarbeitern zu Murren geführt. Er habe Mitarbeiter eingeschüchtert, worüber keiner öffentlich spricht und folglich als Hörensagen eingestuft werden muss. Er führte hingegen eine Nullinformations-Politik auf dem Rennplatz, wofür es reichlich Beweise gibt. Er war der einzige Teamchef, der über FIA-Medienrunden und einige kurze TV-Interviews hinaus für Berichterstatter nicht weiter zugänglich war. Keine besonders weise Vorgehensweise, wenn man am Ruder des berühmtesten Rennstalls der Welt steht.

Arrivabenes Vorgänger Marco Mattiacci war ein Quereinsteiger, er kam als erfolgreicher Chef von Ferrari Nordamerika zur Formel 1. Doch der Römer trat ein schweres Erbe an. Der Ferrari F14T, der ihm Stefano Domenicali überlassen hatte, war unheilbar schlecht. Nach nur einem halben Jahr war Mattiacci wieder weg.

Dem heutigen Formel-1-CEO Stefano Domenicali zuvor wurde zum Verhängnis, dass Fernando Alonso es in fünf Jahren Ferrari nicht schaffte, Weltmeister zu werden. Am Spanier lag es nicht – die Ergebnisse seiner Stallgefährten zeigten, wie gut der Ferrari wirklich war.

In den letzten zehn Jahren ist bei Ferrari kein Stein auf dem anderen geblieben. Die komplette Führungsriege ist ausgetauscht worden. Viele langjährige Mitarbeiter mussten ihren Hut nehmen: Teamchef Stefano Domenicali im Frühling 2014, Motorenchef Luca Marmorini im Sommer danach, Präsident Luca Montezemolo im Spätsommer, um nur die wichtigsten drei zu nennen, dann – nach nur sieben Monaten – Teamchef Marco Mattiacci im Herbst, ersetzt durch Maurizio Arrivabene. Im Dezember 2014 wurde auch Chefdesigner Nikolas Tombazis in die Wüste geschickt. Ihm wurde vorgeworfen, jahrelang zu konservativ entwickelt zu haben. Anfang 2019 kam dann Mattia Binotto für Arrivabene, und nun schien Ruhe einzukehren.

Maurizio Arrivabene als Teamchef von Ferrari entsorgt, Technikchef Mattia Binotto befördert, ein regelrechter Umsturz, wieder Wirbel um Ferrari. Das machte damals auch Mauro Forghieri Gedanken.

Der Anfang November 2022 verstorbene Forghieri wurde 1962 von Enzo Ferrari zum Sportdirektor und Chefingenieur ernannt, 1970 erhielt er den Posten des Technikchefs. Den behielt er gut fünfzehn Jahre lang, dann suchte Maranello sein Heil mit britischen Technikern, und Mauro Forghieri geriet ins Abseits. Unter seiner Führung gewann Ferrari vier Fahrertitel in der Königsklasse (John Surtees 1964, Niki Lauda 1975 und 1977 sowie Jody Scheckter 1979).

«Ich weiss, wie es ist, bei Ferrari mehrere Rollen gleichzeitig zu spielen», sagte Forghieri, «aber ich hatte damals volle Rückendeckung von Enzo Ferrari.» Die Zeiten haben sich gewandelt. Wir leben im Zeitalter der Spezialisten, nicht der Allrounder. Konstrukteure wie Mauro Forghieri haben ein ganzes Auto entworfen, heute haben wir Techniker, die kümmern sich ausschliesslich um Aufhängungen, sie hätten keinen blassen Schimmer, wie sie einen Motor bauen sollen.

Wann war es eigentlich vor «Arrivabene raus, Binotto rauf» letztmals zu einer Beförderung des technischen Leiters zum Teamchef gekommen? Wir müssen ein wenig zurückblättern, es war Claudio Lombardi 1991.

Was ich an Ferrari-Teamchef Mattia Binotto sympathisch fand: Er redete nicht um den heissen Brei herum. Und schon gar nicht versteckte er sich hinter Floskeln oder gleich hinter einer Mauer des Schweigens wie sein Vorgänger Maurizio Arrivabene.

Binotto sagte Anfang 2020: «Wir stecken in einem mittel- bis langfristigen Projekt, ich sehe uns als junges Team. Es hat auch damals in der Ära Todt/Schumacher seine Zeit gedauert, bis Ferrari die Früchte der Arbeit ernten konnte. 1997 und 1998 ging der Titel knapp verloren, 1999 konnte dann der Konstrukteurs-Pokal gewonnen werden, ab 2000 auch der Fahrer-WM-Titel, mit einer grossen Serie in den Jahren danach. Um einen solch tollen Lauf zu haben und sich an der Spitze zu halten, brauchen wir Zeit.»

Diese Zeit ist für Mattia Binotto abgelaufen. Ohne WM-Titel.

Alle Ferrari-Teamchefs

2019–2022: Mattia Binotto
2014–2018: Maurizio Arrivabene
2014: Marco Mattiacci
2007–2014: Stefano Domenicali
1993–2007: Jean Todt
1992/1993: Sante Ghedini
1991: Claudio Lombardi
1989–1991: Cesare Fiorio
1978–1988: Marco Piccinini
1977: Robert Nosetto
1976: Daniele Audetto
1976: Guido Rosani
1974/1975: Luca Montezemolo
1973: Sandro Colombo
1971/1972: Peter Schetty
1968–1970: Franco Gozzi
1967: Franco Lini
1962–1966: Eugenio Dragoni
1958–1961: Romolo Tavoni
1957: Mino Amorotti
1956: Eraldo Sculati
1952–1955: Nello Ugolini
1947–1951: Federico Giberti
1935–1940: Nello Ugolini
1934: Federico Giberti
1932/1933: Mario Lolli
1930/1931: Saracco Ferrari

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