Himmel und Hölle in São Paulo
Lecker, aber gefährlich – Caipirinha
Langjährigen Formel-1-Journalisten wird ja ein gerüttelt Mass an Zynismus nachgesagt, aber zum zweiten Mal in Folge gebe ich gerne zu – ich freue mich, bei einem Grand Prix zu sein.
Interlagos nach Suzuka, das ist wie eine Eisbombe nach Schokoladenkuchen. Dabei könnten Land und Leute nicht unterschiedlicher sein. Dort die wohl organisierten Japaner, hier die sympathisch chaotischen Brasiliener.
Natürlich befindet sich das Autódromo José Carlos Pace im Zerfall, aber die Lage dieser Rennstrecke ist einfach der Hammer: Wundervoll, wie sich die Pistenführung an den Hang anschmiegt und zwischen zwei Wasserreservoirs durchführt (daher der Spitzname Interlagos, zwischen den Seen).
Und gemessen an der Begeisterungsfähigkeit der Fans hier sind die Tifosi von Monza geradezu verklemmte Ministranten. Die Sprech-Chöre vor dem Rennen, die Trommeln, die Musik, das alles ergibt eine Mischung, welche dir die Nackenhaare aufstellt. Es ist nicht ungewöhnlich, das seine komplette Samba-Band ihr Repertoire zum Besten gibt, und eigentlich sollten diese begnadeten Musiker keinen Eintritt bezahlen, sondern für ihr Verströmen guter Laune bezahlt werden.
Wenn Interlagos der Himmel ist, dann ist auch die Hölle nicht weit. Und die treffen wir jeweils an, sobald wir die Strecke verlassen. Die Staus von São Paulo spotten jeder Beschreibung und bringen selbst die gleichmütigsten Menschen an den Rand des Nervenzusammenbruchs.
Im Grossraum des wirtschaftlichen Herzens von Brasilien leben 18 Millionen Menschen. Die meisten davon scheinen fortwährend mit ihrem Auto unterwegs zu sein. Wenn es nervtötend ist, im Stop-and-go-Verkehr zu stecken, bis der Kupplungsfuss abfällt, dann wird es lebensgefährlich, wenn sein Fahrzeug liegen bleibt. Davon können einige Formel-1-Zirkusmitglieder ein Liedchen pfeifen. Auch dieses Jahr verloren zuerst Autoreifen die Luft, und die Insassen anschliessend ihr Gepäck – wie Heuschrecken fielen Strassenräuber über die hilflosen Besucher her, und an dieser Stelle geht selbst mir der Humor aus. Wer nun den Held zu spielen versucht, für den wird es wirklich kritisch.
Vor zwei Jahren haben zahlreiche Jugend-Gangs an der langen Strasse hinunter von der Rennstrecke Richtung Stadtzentrum reihenweise Mietwagen-Insassen ausgenommen – mit vorgehaltener Pistole. Es hat schon seine Gründe, warum viele Einheimische Rotlichter ignorieren. Und wieso zahlreiche Team-Mitglieder am Ende eines Arbeitstag ihre bunten Klamotten gegen unscheinbare Kleider tauschen, bevor sie sich auf den Stau-Weg ins Hotel machen.
Viel genützt hat es oft nicht: Denn der Park-Kleber für den Brasilien-GP lockt mit seinem Leucht-Gelb die Räber an wie Motten das Licht.
Langjährige Brasilien-Besucher tragen die billigste Plastik-Uhr, die sie finden konnten oder verzichten komplett auf jede Form von Schmuck.
Wenn die Sonne lacht, bietet selbst der Moloch São Paulo einen unwiderstehlichen Charme. Wenn es regnet, spürt man den Wunsch, eine Arche zu bauen.
Himmel und Hölle gilt auch am Abend: Himmlisch der Genuss in den Churrascarias, wo Kellner mit duftenden Fleisch-Spiessen herumwieseln, höllisch, wenn man sich dabei etwas zuviel zugemutet hat. Himmlisch der Genuss des Nationalgetränks Caipirinha, einer Mischung aus Cachaça, also Zuckerrohr-Schnaps, Limetten und – je nach Geschmack – braunem oder Staub-Zucker, dazu gestossenes Eis. Höllisch, die Momente, in welchen man nach seinen Caipis (waren es nun drei oder vier?) aufstehen sollte und merkt, dass sich die eigenen Knie in eine Art Gelée verwandelt haben.