Reifen-Streit: Ohrfeige für Kritiker
Pirelli
Im Haifischbecken Formel 1 muss nie lange nach einer Blutspur gesucht werden: Der neue (alte) Aufreger sind die Pirelli-Reifen.
Nach dem eindrucksvollen Saisonauftakt-Sieg von Kimi Räikkönen in Australien murren die Gegner: Hat Lotus einen unfairen Vorteil erhalten? Fährt Pirelli nicht Testfahrten mit einem früheren Lotus-Renner als rollendem Labor?
Eines mag stimmen: In Zeiten eines stabilen Reglements können die Rennwagen ihre Herkunft nicht verleugnen. Adrian Newey von Weltmeister Red Bull Racing: «Unser Auto ist die logische Fortsetzung einer Modellreihe, die 2009 begonnen hat.»
Aber wenn Lotus tatsächlich einen Vorteil erhalten hätte, wieso gewann «Iceman» Kimi dann 2012 nur ein Rennen? Und wieso reklamieren die Rennställe überhaupt? Immerhin waren sie in Sachen Testträger von Pirelli konsultiert worden.
Am Samstag in Sepang hat Mercedes-Rennchef Toto Wolff mit seinen Aussagen verblüfft: «Pirelli will ja ein bisschen an den Reifen herummachen, sie verstärken, sie unten und oben raus bei den Temperaturen weniger sensibel machen. Das sollten wir dann in Bahrain sehen, aller Voraussicht nach.»
Zur Erinnerung: Der Grosse Preis von Bahrain ist das vierte Saisonrennen und findet bereits am 21. April statt. Da müsste Pirelli jetzt ziemlich Gas geben.
Wolff vertieft: «Alle Teams, die einen vermeintlichen Nachteil haben – die einen lauter, die anderen leiser – rennen Pirelli die Tür ein: Der Reifen sei zu schlecht für ihr Auto, man müsse das ändern. Mercedes macht das nicht. Doch es gibt auf jeden Fall Signale, dass sich die Mischung des Reifens verändern wird. Entweder schon in Bahrain oder danach. Da passiert was.»
Wirklich? Ist da nicht der Wunsch Vater des Gedankens?
Müsste Pirelli-Rennchef Paul Hembery dann nicht davon wissen? Der Engländer hätte sich zu seinem 47. Geburtstag am Donnerstag gewiss ein schöneres Geschenk gewünscht als die Jammerei der Fans.
Hembery stellt klar: «Wir schauen uns die Daten intensiv an. Wie jede Saison. Wir haben eine Menge Druck, dass Leute etwas geändert haben möchten. Auch das haben wir jede Saison. Doch nur wenn die Teams einstimmig eine Änderung haben wollen, dann unternehmen wir etwas. Aber diese Einstimmigkeit gibt es nicht.»
Genau das ist der Knackpunkt.
In Rennställen wie bei Weltmeister Red Bull Racing, die offenbar den Geheimnissen der neuen Mischung noch nicht auf die Schliche gekommen sind, wird unüberhörbar mit den Zähnen geknirscht. Bei Lotus wird naheliegenderweise nicht lamentiert.
Von den Rennställen Einigkeit zu erlangen, ist in der Regel so einfach, wie von einem Fisch zu fordern, er solle bitteschön nicht schwimmen.
Jeder hat nur seinen eigenen Vorteil im Mittelpunkt des Interesses, damit hat sich der Sport als Gemeinschaft schon viele gesunde Entwicklungen verbaut.
Nochmals Paul Hembery: «Wer sich die Mühe machen möchte, kann mal einige Aussagen vor einem oder vor zwei Jahren nachschlagen – da wurde fast wörtlich das Gleiche gesagt. Am Anfang der Saison mussten sich alle an die Reifen gewöhnen, nach einigen Rennen hat sich das gelegt.»
Ebenfalls ist zu bedenken: Würde Pirelli jetzt an den Reifen etwas ändern, und würde das einem bestimmten Rennstall in die Hände spielen – können Sie sich dann das Protestgeschrei vorstellen?
Was die Teams auch vergessen: Pirelli hat die neue Reifengeneration nicht aus freien Stücken etwas frecher gestaltet. Nach einem atemraubenden Saisonauftakt 2012 mit sieben Siegern in den ersten sieben WM-Läufen lernten die Rennställe und Fahrer so gut mit den Walzen umzugehen, dass es einigen Grands Prix der zweiten Saisonhälfte an Dramatik mangelte.
Wieso um alles in der Welt sollte Pirelli Reifen wie frühere Alleinlieferanten bauen, die den Pfeffer aus der Formel-1-Suppe nehmen?
Sind spannende Rennen nicht die beste Werbung für den Sport?
Ein langjähriger Team-Manager sagt uns: «Die Reifen sind für alle gleich. Nur arbeiten einige Rennställe damit halt etwas cleverer als andere. Das ist doch kein Grund, an den Mischungen etwas zu ändern oder – wie es ebenfalls herumgeistert – gleich auf die 2012der Walzen zurück zu wechseln. Pirelli hat alles richtig gemacht. Alle sprechen von den Reifen, wir haben atemraubende Rennen. Es gäbe in der Formel 1 dringlichere Probleme, als die eigenen Probleme zu kaschieren, mit lautstarkem Gejammere über die angeblich so schwierigen Reifen.»
Passieren wird Folgendes: Pirelli wird nach vier Rennen (also erst nach den kommenden WM-Läufen von China und Bahrain) die Sachlage prüfen und entscheiden, ob eine Änderung vonnöten ist. 2011 wurde an den harten Walzen eine kleine Korrektur vorgenommen, 2012 wurde nichts geändert.
SPEEDWEEK sagte schon vor dem Malaysia-GP voraus: Die Teams werden mit den Reifen immer besser zurande kommen, das Gemurre wird sich verlieren, und passieren wird überhaupt nichts.
Und was geschah? Ausgerechnet die lautesten Pirelli-Kritiker – Red Bull Racing und Mercedes – auf den ersten vier Plätzen. Seither stehen die Mailänder nicht mehr im Kreuzfeuer.
Dazu haben RBR und die Silberpfeile intern ganz andere Baustellen.