Ferrari: Fred Vasseur, Nächster auf dem Schleudersitz

Von Mathias Brunner
Fred Vasseur

Fred Vasseur

Es ist einer der reizvollsten Posten in der Königsklasse, aber ein Job mit Stress-Garantie: Teamchef bei Ferrari. Mattia Binotto hatte davon die Nase voll, nun übernimmt der Franzose Fred Vasseur..

Die Teamchefs von Ferrari, des berühmtesten Rennstalls der Welt, haben wahrlich kein einfaches Leben: Immer wieder mussten sie in den vergangenen Jahren wegen Erfolglosigkeit ihren Posten räumen. Mattia Binotto hat offiziell selber gekündigt, aber das ändert an der Tatsache nicht – erneut steht der Dampfkochtopf Ferrari unter viel Druck. Dabei ist in der Königsklasse das Erfolgsrezept seit bekannt und bewährt: Aussergewöhnlich begabte Fachleute sollen sich unter besten Arbeitsbedingungen ideal entfalten können, über Jahre hinweg. Und genau das passiert bei Ferrari nicht.

Der langjährige Ferrari-Designer Aldo Costa, der sich 2012 zu Mercedes abseilte: «Bei Ferrari bist du unter ständiger Beobachtung. Die Medien machen Druck, die Tifosi machen Druck, die Aktionäre machen Druck, der Barista macht Druck, bei dem du am Morgen einen Espresso trinkst.»

Der berühmteste Rennstall der Welt ist zum Erfolg verdammt, und gemäss des Beispiels Fussball muss jeweils der Trainer gehen, auch wenn die Mannschaft einen Mist zusammengekickt hat.

Die Saison 2022 war kritisch für Mattia Binotto – der Schritt zu einer neuen Rennwagen-Generation wurde als grosse Chance angesehen, endlich wieder an die Spitze zu kommen und sich dort zu halten. Denn das stolze Ferrari ist inzwischen seit Kimi Räikkönen 2007 ohne Fahrer-WM-Titel, und der Konstrukteurs-Pokal ging letztmals 2008 nach Maranello.

Wie Ferrari den Titel versemmelte

Aber dieses Ziel ist verfehlt worden, aus vier Gründen: Mangelnde Standfestigkeit des Motors, strategische Fehlentscheidungen in den Rennen, individuelle Fehler von Charles Leclerc und Carlos Sainz sowie der Boxenmannschaft (verpatzte Boxenstopps), und letztlich konnte Ferrari dem Entwicklungsprogramm von Red Bull Racing zu wenig entgegensetzen.

In den letzten zehn Jahren ist bei Ferrari kein Stein auf dem anderen geblieben. Die komplette Führungsriege ist ausgetauscht worden. Viele langjährige Mitarbeiter mussten ihren Hut nehmen: Teamchef Stefano Domenicali im Frühling 2014, Motorenchef Luca Marmorini im Sommer danach, der langjährige Präsident Luca Cordero di Montezemolo im Spätsommer, um nur die wichtigsten drei zu nennen.

Der 53-jährige Mattia Binotto kennt die Ferrari-Historie wie seine Westentasche. Gerade die vergangenen Jahre haben auch ihm gezeigt, wie schnell ein Ferrari-Teamchef seinen Posten los sein kann. Binotto, 1995 als Motortechniker zu Ferrari gekommen, erlebte den ganzen Trubel erste Reihe Mitte.

Kein Stein auf dem anderen

Dem heutigen Formel-1-CEO Stefano Domenicali zuvor wurde zum Verhängnis, dass Fernando Alonso es in fünf Jahren Ferrari nicht schaffte, Weltmeister zu werden. Am Spanier lag es nicht – die Ergebnisse seiner Stallgefährten zeigten, wie gut der Ferrari wirklich war.

Domenicalis Nachfolger Marco Mattiacci war ein Quereinsteiger, er kam als erfolgreicher Chef von Ferrari Nordamerika zur Formel 1. Doch der Römer trat ein schweres Erbe an. Der Ferrari F14T, der ihm Stefano Domenicali überlassen hatte, war unheilbar schlecht. Nach nur einem halben Jahr war Mattiacci wieder weg.

Im Dezember 2014 wurde auch Chefdesigner Nikolas Tombazis in die Wüste geschickt. Ihm wurde vorgeworfen, jahrelang zu konservativ entwickelt zu haben.

Mattiacci-Nachfolger Maurizio Arrivabene erlebte das Gleiche wie Domenicali: Arbeit mit einem mehrfachen Weltmeister, dieses Mal war es Sebastian Vettel, wieder kein Titel.

Besonders bitter – Ferrari schien zu Saisonbeginn 2018 und bis in den Sommer hinein das bessere Fahrzeug zu besitzen, so wie auch 2022. Fahrfehler von Sebastian Vettel, Strategiepatzer von Ferrari, vor allem jedoch eine effizientere Entwicklung bei Mercedes-Benz führten dazu, dass die Silberpfeile ab Sommer mehr Erfolg hatten. Die Geschichte wiederholt sich.

Aber das verlorene Titelrennen allein war es nicht. Auch der Führungsstil von Arrivabene wurde moniert. Es war davon die Rede, dass er zu viel alleine entscheiden wollte, das habe bei seinen Mitarbeitern zu Murren geführt. Er habe Mitarbeiter eingeschüchtert, worüber keiner öffentlich spricht und folglich als Hörensagen eingestuft werden muss. Er führte hingegen eine Nullinformations-Politik auf dem Rennplatz, wofür es reichlich Beweise gibt.

Arrivabene war der einzige Teamchef, der über FIA-Medienrunden und einige kurze TV-Interviews hinaus für Berichterstatter nicht weiter zugänglich war. Keine besonders weise Vorgehensweise, wenn man am Ruder des berühmtesten Rennstalls der Welt steht.

Ein neues Zeitalter

Maurizio Arrivabene als Teamchef von Ferrari entsorgt, Technikchef Mattia Binotto befördert, ein regelrechter Umsturz, wieder Wirbel um Ferrari. Das machte damals auch dem grossen Mauro Forghieri Gedanken.

Der Anfang November 2022 verstorbene Forghieri wurde 1962 von Enzo Ferrari zum Sportdirektor und Chefingenieur ernannt, 1970 erhielt er den Posten des Technikchefs. Den behielt er gut fünfzehn Jahre lang, dann suchte Maranello sein Heil mit britischen Technikern, und Mauro Forghieri geriet ins Abseits. Unter seiner Führung gewann Ferrari vier Fahrertitel in der Königsklasse (John Surtees 1964, Niki Lauda 1975 und 1977 sowie Jody Scheckter 1979).

«Ich weiss, wie es ist, bei Ferrari mehrere Rollen gleichzeitig zu spielen», sagte Forghieri, «aber ich hatte damals volle Rückendeckung von Enzo Ferrari.»

Die Zeiten haben sich gewandelt. Wir leben im Zeitalter der Spezialisten, nicht der Allrounder. Konstrukteure wie Mauro Forghieri haben ein ganzes Auto entworfen, heute haben wir Techniker, die kümmern sich ausschliesslich um Aufhängungen, viele von ihnen hätten keinen blassen Schimmer, wie sie einen Motor bauen sollen.

Wann war es eigentlich vor «Arrivabene raus, Binotto rauf» letztmals zu einer Beförderung des technischen Leiters zum Teamchef gekommen? Wir müssen ein wenig zurückblättern, es war Claudio Lombardi 1991.

Schwierige Aufgabe für Fred Vasseur

Was ich an Ferrari-Teamchef Mattia Binotto sympathisch fand: Er redete nicht um den heissen Brei herum. Und schon gar nicht versteckte er sich hinter Floskeln oder gleich hinter einer Mauer des Schweigens wie sein Vorgänger Maurizio Arrivabene.

Binotto sagte Anfang 2020: «Wir stecken in einem mittel- bis langfristigen Projekt, ich sehe uns als junges Team. Es hat auch damals in der Ära Todt/Schumacher seine Zeit gedauert, bis Ferrari die Früchte der Arbeit ernten konnte. 1997 und 1998 ging der Titel knapp verloren, 1999 konnte dann der Konstrukteurs-Pokal gewonnen werden, ab 2000 auch der Fahrer-WM-Titel, mit einer grossen Serie in den Jahren danach. Um einen solch tollen Lauf zu haben und sich an der Spitze zu halten, brauchen wir Zeit.»

Diese Zeit ist für Mattia Binotto abgelaufen. Ohne WM-Titel.

Seit 13. Dezember ist klar: Der Franzose Fred Vasseur ist der neue Mann auf dem Ferrari-Schleudersitz.

Was sprach für den Franzosen als neuer Teamchef von Ferrari? Er hatte bei Renault (heute Alpine) bewiesen, dass er einen Werksrennstall führen kann. Er verliess seine Landsleute nur deshalb, weil Geschäftsleiter Cyril Abiteboul lieber selber als Teamchef im Rampenlicht stehen wollte.

Vasseur hat bei Alfa Romeo eine Verbesserung auf den sechsten Platz im Konstrukteurs-Pokal 2022 bewirkt und mitgeholfen, die Weichen zum Formel-1-Einstieg von Audi zu stellen. Er gilt als Mannschaftsspieler, der zuhören kann, die Liebe zum Sport ist offensichtlich, und er bringt reichlich Erfahrung mit. Er bewegt sich auf dem heiklen politischen Parkett der Königsklasse mit einem Lächeln auf den Lippen und einer gehörigen Portion Abgebrühtheit. Ganz wichtig: Er ist eng mit Ferrari-Star Charles Leclerc befreundet.

Frédéric «Fred» Vasseur hat Luft- und Raumfahrttechnik studiert, bevor er einen Rennstall gründete (ASM) und damit auf Anhieb Erfolg hatte – Landestitel in der französischen Formel 3 1998 mit dem Belgier David Saelens, danach vier Triumphe in Folge in der F3-Euroserie, mit Jamie Green, Lewis Hamilton, Paul di Resta und Romain Grosjean.

2004 wurde aus ASM in einer Kooperation mit Nicholas Todt (dem Sohn des früheren Ferrari-Chefs und späteren FIA-Präsidenten Jean Todt) ART Grand Prix. Und die Erfolge gingen weiter: Vier Titel in der GP2-Serie (entspricht der heutigen Formel 2) – mit Nico Rosberg 2005, Lewis Hamilton 2006, Nico Hülkenberg 2009 und Stoffel Vandoorne 2015.

In der GP3-Serie holten diese ART-Fahrer den Titel: Esteban Gutiérrez 2010, Valtteri Bottas 2011, Esteban Ocon 2015, Charles Leclerc 2016, George Russell 2017 sowie Anthoine Hubert 2018, in der neuen Formel 3 seit 2019 holte sich in der vergangenen Saison 2022 der Franzose Victor Martins den Titel mit ART.

In der Formel 2 triumphierten mit ART George Russell 2018 und Nyck de Vries 2019. Alle genannten Piloten haben den Sprung in die Formel 1 geschafft, vier haben Grands Prix gewonnen.

Ferrari-CEO Benedetto Vigna: «Uns hat Eindruck gemacht, wie er sein technisches Sachverständnis über all die Jahre mit Führungsqualitäten in Einklang gebracht und grosse Erfolge gefeiert hat. Vasseur ist ein geborener Leader, und das wird dem Rennstall frische Energie geben.»

Fred Vasseur sagt: «Es ist eine grosse Ehre für mich, das Steuer der Scuderia Ferrari zu übernehmen. Für jeden wie mich, der so grosse Leidenschaft für den Motorsport spürt, ist Ferrari der Gipfel.»

Die Aussicht von dort oben oben hat schon mancher genossen, aber für viele kam danach ein Absturz.

Alle Ferrari-Teamchefs

2019–2022: Mattia Binotto
2014–2018: Maurizio Arrivabene
2014: Marco Mattiacci
2007–2014: Stefano Domenicali
1993–2007: Jean Todt
1992/1993: Sante Ghedini
1991: Claudio Lombardi
1989–1991: Cesare Fiorio
1978–1988: Marco Piccinini
1977: Robert Nosetto
1976: Daniele Audetto
1976: Guido Rosani
1974/1975: Luca Montezemolo
1973: Sandro Colombo
1971/1972: Peter Schetty
1968–1970: Franco Gozzi
1967: Franco Lini
1962–1966: Eugenio Dragoni
1958–1961: Romolo Tavoni
1957: Mino Amorotti
1956: Eraldo Sculati
1952–1955: Nello Ugolini
1947–1951: Federico Giberti
1935–1940: Nello Ugolini
1934: Federico Giberti
1932/1933: Mario Lolli
1930/1931: Saracco Ferrari

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