Grüsse aus Sotschi: Irrfahrt, Polizei, böse Gerüchte

Kolumne von Mathias Brunner
​In Russland funktioniert alles ein wenig anders, wie fast jeder berichtet, der ins Fahrerlager des «Sochi Autodrom» kommt. Wenn er den Weg denn gefunden hat.

Ein Gerücht, das in den sozialen Netzwerken kursiert, ist schnell entkräftet: Wie in Japan solle Lotus aus ihrem eigentlich für sie vorgesehenen Gästehäuschen ausgesperrt sein. Damals ging es wohl um unbeglichene Rechnungen. Hier im Fahrerlager von Sotschi wirkt der Gästebereich von Lotus auf den ersten Blick wie ausgestorben, während sich nebenan die Toro-Rosso-Mechaniker beim Mittagessen mit italienischen Leckereien stärken. Ein Blick ins Lotus-Häuschen zeigt jedoch – von ausgesperrt kann keine Rede sein, die Mechaniker sind auch hier am Essen. Als Beweis twittert Lotus ein Foto, und das böse Gerücht löst sich auf.

Damit sind wir beim Leitthema von Sotschi: Schein und Sein, Dichtung und Wahrheit.

Wenn unser Flugzeug mitten in der Nacht zum Flughafen der Olympia-Stadt abtaucht, dann glitzert das Gelände verlockend in Bonbonfarben. Aber schon Minuten später ist es mit dem Glitter vorbei.

Unfall nach 50 Zentimetern Fahrt

Es gilt zunächst, sich der illegalen Taxifahrer zu entledigen, die als eine Art moderne Heuschreckenplage in der Ankunftshalle über die Anreisenden herfallen. Wir suchen uns lieber draussen ein Taxi aus. Der Fahrer hebt kaum den Kopf, als wir ihn ansprechen. Was auf dem Display seines Handy passiert, ist interessanter als ein Fahrgast.

Auf Vorzeigen der Hoteladresse reagiert er mit einem Laut, den wir bestenfalls als zustimmendes Grunzen bezeichnen können. Er öffnet den Kofferraum, dann setzt er sich ans Steuer. Wir hieven das Gepäck daher selber ins schmuddelige Dunkel, das riecht wie ein viermonatiges Käse-Sandwich. In der Hoffnung, dass der Fahrer nicht mit dem Gepäck abfährt, bevor wir die knarzende Hintertür geöffnet und uns gesetzt haben, geht das Abenteuer weiter.

Das Wort «Taxameter» ist dem Fahrer unbekannt. Das Wort «Preis» auch. Er zuckt nur mit der Schultern und fährt los. Genau einen halben Meter weit. Dann gibt es ein knirschendes Geräusch von Metall, das auf anderes Metall trifft. Glück im Unglück: Nicht wir sind betroffen, sondern das Taxi hinter uns, das flott losgefahren ist – gleich in den Weg eines daherkommenden Autos. Die Fahrer treffen Anstalten, sich zu verprügeln. Unser Fahrer gibt Gas.

Ein wenig unsicher fragen wir nach, ob er den Weg denn auch wirklich kenne. Der Fahrer nickt, mit der Rechten einen passenden Radiosender suchend, in der Linken das Handy haltend, vage ans Lenkrad gelehnt, und guckt nach, was es Neues in den sozialen Netzwerken gibt. Da kann man eine rote Ampel schon mal übersehen. Wir schnallen uns nun an.

Die Strassen werden immer düsterer, unsere Laune auch. Wir verscheuchen die Vorstellung davon, in einer schlecht beleuchteten Gasse von Sotschi ausgeraubt zu werden, und hoffen auf das Beste. Wir fragen nochmals nach dem Hotel. Keine Antwort.

Auf einmal geschieht ein Wunder. Der Fahrer bremst, deutet aus dem Fenster und hat auf einmal Englischkenntnisse: «500 Ruble.»

Wir bedanken uns («Spasibo»), checken in unser Hotel ein, wo unsere Rezeptionistin sieben verschiedene Dialekte beherrscht. Von Russisch. Ihr Englisch ist unwesentlich besser als unser Russisch. Wir schaffen es dennoch ins Zimmer und fallen in einen unruhigen Schlaf, geplagt vom schlechten Gewissen, nicht doch die wichtigsten Brocken in Russisch memoriert zu haben.

Taxifahrer verhaftet?

Nach einem Frühstück, über das Sie keine Details erfahren möchten (glauben Sie mir), stellt sich das nächste Problem: Wie komme ich zur Rennstrecke? Die Rezeptionistin versichert in ihrem besten Englisch: «Sochi Autodrom? Taxi. No problem.»

Das findet auch unser nächster Taxifahrer, der sofort aufs Gas steigt, in den ersten zwei Minuten nur drei Fast-Unfälle hat, beim Streifen von Hunden und alten Damen gleich unbeirrt bleibt und tapfer in die falsche Richtung fährt.

Wir weisen ihn sachte auf den kleinen Navigationslapsus auf, worauf er fünfzig Prozent seiner Englischkenntnisse zum Besten gibt: «Sochi Autodrom» (die anderen sind «no problem»). Dann folgt ein Wortschwall, den wir leider nicht wiederholen können.

Nach einer kleinen Stadtrundfahrt (genau, ohne Taxameter) tauchen die olympischen Wettkampfstätten vor uns auf. Wir versuchen, mit Hand und Fuss zu zeigen, wo wir durchmüssen, um zum Fahrerlager zu gelangen. Der Fahrer reagiert mit einem weiteren Wortschwall und biegt auf der Stelle in ein Gelände ab, wo er sofort von einem Polizisten aufgehalten wird. Dem Tonfall des Beamten zufolge entwickelt sich hier keine Männerfreundschaft.

Der Fahrer muss aussteigen, der Fahrgast bleibt drin. Der Fahrer folgt dem Polizisten in dessen Streifenwagen, zeigt ihm einige Dokumente, der Beamte blickt so grimmig, dass wir schon Handschellen klicken hören. Der Fahrer steigt wieder aus, zurück ins Taxi und erklärt uns, was vorgefallen ist. Leider verstehen wir kein Wort davon.

Wir irren noch ein wenig auf dem Olympiagelände herum, bis wir ein Eingangstor aus dem letzten Jahr erkennen. Verblüffend: Das Wort «Stopp» funktioniert auch auf Russisch!

Am Autodrom angekommen, erhalten wir die Auskunft: Wegen des Autorennens sind viele Zugangsstrassen auf dem Olympia-Gelände gesperrt. Die meisten Polizisten haben keine Ahnung, um welche Strassen es sich handelt, was immerhin linientreu ist, denn die Taxifahrer haben davon auch keine Ahnung.

Wir beschaffen uns eine Karte, lassen uns von den überaus zuvorkommenden Mitarbeitern im Autodrom einige Begriffe auf Russisch aufschreiben und hoffen darauf, dass es heute Abend besser wird – wenn wir ein Taxi zurück ins Hotel brauchen.

Alles in allem, es könnte schlimmer sein: Ein Kollege gab als Fahrziel den Bahnhof gleich neben der Rennstrecke an, worauf der Taxifahrer beherzt lospreschte – zu einem 30 Kilometer entfernten Bahnhof.

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