Nacht-GP von Singapur: Alles begann mit einem Irrtum

Kolumne von Mathias Brunner
Grand Prix von Singapur: Nach drei Jahren Corona-Zwangspause ist der tollste Nacht-GP des Jahres zurück, die Organisatoren erwarten mehr als 350.000 Zuschauer. Alles ist bereit zur grossen Formel-1-Party.

Normalerweise denken wir bei GP-Klassikern an Monaco oder Monza, an Silverstone und Spa-Francorchamps. Aber dazu gibt es aus der jüngsten Generation von Grands Prix ein Rennen, das sich schon nach wenigen Ausgaben anfühlt, als sei es schon immer dagewesen – Singapur. Und dabei begann alles mit einem peinlichen Irrtum.

Singapur bedeutet ja – für alle, die jetzt nicht den Umweg über Google machen möchten – «Stadt der Löwen» (malaysisch «singapura»), basierend auf der Legende von Prinz Snag Nila Utama, der mit seinem Schiff an der Küste gelandet war und einen Löwen gesehen haben will.

Nur gab es in dieser Ecke unseres schönen Planeten leider nie Löwen, der Prinz sah in aller Wahrscheinlichkeit einen malaysischen Tiger. Die Korrekturbrille wurde zwar im 13. Jahrhundert in Italien erfunden, aber die Exportindustrie hinkte damals ein wenig, also wollen wir mit dem kurzsichtigen Prinzen ein wenig nachsichtig sein.

700 Jahre später interessiert es hier keinen, ob Snag Nila Utama einen Knick in der Optik hatte. Um genau zu sein, weiss vermutlich kaum einer der Besucher, was der Prinz da in Bewegung gesetzt hat.

Die Touristen drängeln sich am Fusse des Fabelwesens Merlion und knipsen sich (nein, keinen Löwen) einen Wolf: Der Merlion ist eine Mischung aus Löwenkopf und Fischkörper, das Maskottchen von Singapur.

Entworfen wurde eine schöne Statue vom britischen Fischforscher Alec Frederick Fraser-Brunner (keine Verwandtschaft mit dem Autoren), sie steht seit 1964 am Singapore River, und nicht einmal ein Blitzschlag Ende Februar 2009 konnte Merlion etwas anhaben. Er hat sich höchstens beim Wasserspeien kurz verschluckt.

«Mer» steht für das Meer, «lion» für den Löwen, und zum Fischkörper ist der Löwenkopf deshalb gekommen, weil der Ursprung von Singapur das Fischerkaff Temasek war. Ich finde, das passt ausgezeichnet zum heutigen Singapur, den einigen der hier getätigten Finanzgeschäfte wird auch eine gewisse Glitschigkeit nachgesagt.

Gefischt wird heute noch und das sehr erfolgreich. Und dies gleich auf zwei Ebenen.

In nur wenigen Ausgaben ist das Nachtrennen zu einem der begehrtesten Grands Prix geworden. Die Organisatoren sind zufrieden: Ihr WM-Lauf wird einmal mehr ausverkauft sein, am Wochenende werden mehr als 380.000 Menschen erwartet, 302.000 haben Tickets für die Formel 1, 80.000 weitere haben Tickets für Dutzende von Konzerten auf dem Renngelände.

Das Rennen wird intensiv und weltweit beworben, und die Fans danken es mit grosser Treue: Jeder dritte Besucher war schon einmal beim Rennen.

Hotelbetreiber und Ladenbesitzer lassen sich Einiges einfallen: Die asiatische Metropole ist einer jener Grand-Prix-Orte, wo wir alle paar Meter über die Formel 1 stolpern – Show-Cars, Verkaufsstände, Singapur ist von hinten bis vorne beflaggt, zahllose Schaufenster lehnen sich bei der Dekoration ans Autorennen an.

Besonders appetitlich fanden wir vor ein paar Jahren die Idee der Köche aus dem «Royal Plaza»: 18 Kellenkünstler klebten einen Rennwagen aus Pasta zusammen – im Massstab 1:1, wohlgemerkt. Zum Glück wurde das Auto in der klimatisierten Hotel-Lobby gezeigt und nicht draussen auf der Strasse. Angesichts der hohen Luftfeuchtigkeit wäre es in schätzungsweise 45 Minuten al dente gekocht gewesen.

Singapur ist unter den Besuchern ein Hit, weil die Organisatoren eben verstanden haben, was die Formel 1 sein sollte – weit mehr als ein Autorennen. Das wurde schon umgesetzt, als die Königsklasse noch nicht von Liberty Media regiert wurde.

Singapur, das ist cool und sexy und gibt der Formel 1 zurück, was ihr unter Bernie Ecclestone auf vielen Strecken abhanden gekommen war: Glamour.

Das weiss auch die Geschäftswelt. Kein Rennort bieten eine so ideale Infrastruktur, um Kontakte zu vertiefen: Während des Tages Sitzungen in den Glaspalästen, abends an die Rennstrecke, Dinner vor- oder nachher, dann mit einer eingesprungenen Doppelschraube ins Nachtleben, das keine Wünsche offenlässt. Am nächsten Tag ist der neue Deal geritzt, bitte auf der punktierten Linie unterzeichnen.

Die Fahrer hingegen kriegen von all dem so gut wie nichts mit: Die meisten von ihnen bleiben streng im europäischen Rhythmus, will heissen – aufstehen so um 14.00 Uhr, dann Frühstück, ab 16.00 Uhr an die Strecke, Mittagessen gegen 18.00 Uhr, nach Fahren und Nachbesprechungen ein leichtes Dinner, so gegen zwei Uhr früh, gegen 4.00 oder 5.00 ab ins Bett.

Viele Mitglieder des Formel-1-Zirkus gehen zu Fuss in eines der nahegelegenen Luxus-Hotels wie das Pan Pacific oder das Mandarin Oriental, und es ist immer ein wenig seltsam, wenn auf der einen Seite der Strasse die müden Darsteller aus der Rennbranche ihrem Bett entgegenstolpern, während ihnen muntere Nachtschwärmer begegnen, die auf ein Taxi zur nächsten Party lauern und sichtlich noch keine Lust haben, am Kissen zu horchen.

Apropos Schlafen: Einige Hotels bieten Spezial-Verdunkelungen an, um den Rennstallmitgliedern die nötige Ruhe zu verschaffen. Das hilft freilich wenig, wenn im Hotel um zehn Uhr früh das Reinigungspersonal den Staubsauger anwirft. Leider ist der in der Regel lauter als ein heutiger Formel-1-Turbomotor.

Notfalls müssen Grossmutters Tipps herhalten, auch bei einem Lewis Hamilton: «Bei mir muss es stockdunkel sein im Zimmer, da hänge ich schon mal Socken über alle möglichen Kontrollleuchten, sofern sich die Geräte nicht ausschalten lassen.»

Lichtquellen ausschalten in der Stadt des Lichts, das ist manchmal so knifflig wie eine Siegesfahrt auf dem Marina Bay Circuit.


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