KTM: Im Werk gingen die Lichter aus

Kein schlechter Zeitpunkt für den Ausstieg

Von Günther Wiesinger
2008 durfte ich die Marke SPEEEDWEEK für das Media House von Dietrich Mateschitz gründen. Nach 15 Jahren ist nun die Zeit gekommen, für die jüngere Generation Platz zu schaffen.

In wenigen Wochen beginnt eine neue spannende und abwechslungsreiche Motorsportsaison mit vielen neuen Aspekten, interessanten Konstellationen, attraktiven Schauplätzen, teilweise veränderten Reglements und vielen Überraschungen.

Gleichzeitig mit dem Ausblick auf 2024 nehme ich die Gelegenheit wahr, Abschied von den Leserinnen und Lesern von SPEEDWEEK.com zu nehmen. Nach insgesamt knapp 45 Jahren als Chefredakteur von Motorsport aktuell, dann bei der Wochenzeitschrift SPEEDWEEK und der folgenden Konzentration auf das Online-Portal SPEEDWEEK.com.

Bei der Nennung dieser Zahlen wird offenkundig, dass ich mich im Rentenalter befinde und es allmählich höchste Zeit wird, den mehrmals verzögerten Rückzug aus dem Tagesgeschäft in die Tat umzusetzen.

Dieser Entschluss ist mir aus mehreren Gründen nicht schwergefallen. Denn ich hinterlasse eine eingespielte und verschworene Mannschaft von Ivo Schützbach über Vanessa Georgoulas, Nora Lantschner bis zu Mathias Brunner, der jetzt nach 41 Jahren endlich einen neuen Vorgesetzten bekommt. Es existiert ein einmaliges Netzwerk von Experten aus der ganzen Welt mit Fachwissen aus allen erdenklichen Rennserien, das mich vor 15 Jahren ohne Widerrede (und ohne Lohn- oder Honorarerhöhungen) von MSa zum neuen Projekt begleitet hat.

Dank dem jugendlichen und unermüdlichen Elan sämtlicher Mitarbeiter haben wir ab November 2012 das Online-Portal SPEEDWEEK.com zur Nummer 1 auf diesem Sektor im deutschsprachigen Raum gemacht. Wir berichten über mehr Serien als die Mitbewerber und halten uns auch sonst das eine oder andere Alleinstellungsmerkmal zugute.

400 Prozent Wachstum in 4 Jahren

Für mich persönlich war es spannend, nach beruflichen Erfahrungen mit klassischen Medien wie Print, Radio und TV mit Online noch einmal ein aufregendes neues Gebiet zu erforschen und mit Unterstützung von Digital-Experten wie Christof Hinterplattner, Tina Bernold, Andreas Hanzl und Thomas Lang die richtigen Lehren zu ziehen.

Wir haben offenbar nicht alles falsch gemacht und uns innerhalb von vier Jahren im DACH-Raum von der Nr. 3 zur Nr. 1 gemausert. In diesem Zeitraum haben wir bei den Zugriffen 400 Prozent Wachstum erzielt; allein 2022 haben wir die Reichweite unter wohltuender Einhaltung des Budgets um 76 Prozent erhöht.

Kein schlechter Zeitpunkt für den Ausstieg, zumal ich den Rückzug schon mehrmals vertagt habe, inzwischen auf die 70 zugehe und aufhören möchte, solange ich fähig bin, die Stiegen zum Media Centre ohne fremde Hilfe zu erklimmen. Die Ausweitung des Rennkalenders auf erstmals happige 22 Grand Prix hat meinen Entschluss zusätzlich erleichtert.

Wir haben SPEEDWEEK.com im Laufe des vergangenen Jahres auch Usern in anderen Sprachen zugänglich gemacht, aber ich wäre ein übler Scharlatan, würde ich mich jetzt rühmen, hierzu auch nur den kleinsten Beitrag geleistet zu haben. Ich habe es einfach geschehen lassen – mit Hilfe der KI und unserer bewährten Expertenrunde.

Ich habe mich seit Monaten mit der Erstellung meiner persönlichen «Bucket List» beschäftigt, die ich ab dem 1. Januar 2024 schrittweise in die Tat umsetzen möchte.

Ich werde nach dem 31.12. 2023 verlässlich niemand mehr mit aktuellen Nachrichten, Kolumnen und Kommentaren langweilen oder belästigen. Ab sofort können von den einschlägigen Experten einige neue Ideen umgesetzt werden, deren Wirksamkeit sich bald herausstellen wird.

In meinem Kopf, meinen zahlreichen Notizbüchern und Audio-Aufnahmen schlummern zwar noch viele unveröffentlichte Interview-Passagen, dazu Ideen und Infos für Features und Storys, aber jetzt wird definitiv ein Schlussstrich gezogen.

Ich stand 51 Jahre lang in den Paddocks dieser Welt dem arbeitenden Personal im Weg und schnappte bei dieser arglosen Tätigkeit manchmal eine nebensächliche Neuigkeit auf, die sich mit dem journalistischen Stilmittel der Übertreibung geschickt zu einer Nachricht aufbauschen ließ.

Wenn gelegentlich ein Text halbwegs brauchbar formuliert wurde, lag das an meinen vortrefflichen Lehrmeistern wie Dieter Stappert, Yörn Pugmeister, Herbert Völker und Helmut Zwickl, von deren Ratschlägen ich Jahrzehnte lang profitiert habe.

Man sagt: Wenn die finanzielle Not gebannt und die Gesundheit geblieben ist, kann das Alter die schönste Zeit des Lebens sein.

Deshalb gehe ich ohne Wehmut. Ich habe nur wenige Personen in meine Pläne eingeweiht, denn ich wollte beim MotoGP-Finale in Valencia kein unnötiges Aufsehen. Ich weiß momentan nicht, wie viele Grands Prix ich künftig besuchen werde, denn sie haben mir auch nicht gefehlt, als in der Corona-Saison 2020 keine Berichterstatter im Fahrerlager zugelassen wurden.

Keine Rennserie ausgelassen

Ich habe keine Ahnung, bei wie vielen Motorrad-GP ich seit 1972 dabei war. Ich habe bei 300 mit dem Zählen aufgehört, vor mehr als 25 Jahren. Es werden 700 oder 800 sein, doch das ist so unwichtig wie ein Fliegenschiss im Wirtshaus.

Ich bin froh, kaum eine Rennserie versäumt zu haben. Ich habe überall vorbeigeschaut, ob Formel 1, Rallye-WM, DTM, Tourenwagen-WM, Indianapolis, Tourenwagen-EM, Bergrennen, MotoGP, Motocross-WM in vier Klassen, Indoor Supercross, Hallencross, Six Days Enduro, Strand-Enduro Le Touquet, Tourist Trophy, Trial-WM, Speedway, Eisspeedway, Dirt Track, Short Track, Mile Race, Half Mile Race, TT Steeplechase.

Dazu ließ ich mich bei allen namhaften Radrundfahrten von der Tour de France über den Giro d'Italia bis zur Tour de Suisse blicken, denn der Radsport hat mich nach meiner aktiven Zeit nie mehr losgelassen. Ich lege jedes Jahr 6000 bis 9000 km mit dem Rennrad, Mountainbike oder Gravel Bike zurück und habe mir geschworen, nie im Leben ein E-Bike zu kaufen, weil ich mein 6,9 kg leichtes Pinarello Dogma und mein 8,1 kg leichtes Ghost Hardtail MTB (World Cup Replica) niemals gegen so ein 20 kg schweres Ungetüm tauschen würde.

Ich habe zwar genau notiert, wie viele kostbare Räder ich in den letzten 40 Jahren gekauft habe, aber ich habe keine Übersicht, wie viele Länder ich als Motorsport-Journalist bereist und wie viele GP-Strecken ich gesehen habe.

Man muss die richtigen Prioritäten setzen.

Ich habe in den ersten Jahren als Chefredakteur bei Motorsport aktuell jedes Jahr eine Handvoll Formel-1-GP gecovert. Denn 1982 fand zum Beispiel im März der Formel-1-GP in Rio statt, eine Woche später der Motorrad-GP in Buenos Aires. Doch damals wurden nicht 22 oder 24 Grand Prix pro Serie im Jahr durchgeführt, sondern zehn bis zwölf, und ich habe einige Motorrad-GP-Jahre ohne Übersee-Event in Erinnerung.

Manchmal bin ich am Donnerstag und Freitag beim Formel-1-GP in Hockenheim gewesen und dann spät in der Nacht via Kopenhagen nach Jonköpping zum Anderstorp-GP geflogen. 

Ehrlich gesagt: Als in der Formel 1 vor 40 Jahren die Tankstopps und Reifenstopps eingeführt wurden und die Boxengasse und die Boxenmauer für Journalisten gesperrt wurden, habe ich meine F1-Besuche reduziert. Man konnte bald nicht mehr unter vier Augen mit den Piloten reden.  

Auch die Zeiten, in denen ich wie im Januar 1993 in Hockenheim mit Bernie Ecclestone und Katja Heim vier Stunden lang zu dritt beim Abendessen sass und der F1-Zampano jede meiner Fragen zur Formel 1, Motorrad-WM beantwortete (er war 1992 mit seiner neuen Firma Two Wheel Promotions erstmals für den Motorrad-GP-Kalender zuständig), waren irgendwann vorbei. 

Der gute Bernie wollte dafür von mir wissen, wie er mehr Zuschauer zum Motorrad-GP in Hockenheim locken könnte. Denn 1992 hatte er dort als Promoter 1,5 Millionen Mark verloren (ca. 1,1 Mio Euro). 

Ecclestone hat die TWP im Winter 1991/1992 mit einem Stammkapital von 25.000 Pfund gegründet und ein Jahr später für 52 Mio US-Dollar an die Dorna verkauft. 

Die Würmer aus der Nase gezogen

Ich habe auf jeden Fall viele einzigartige Persönlichkeiten kennengelernt, zum Beispiel weitsichtige Unternehmer wie Dietrich Mateschitz, Stefan Pierer und Dr. Martin Viessmann. Dazu viele prominente Rennfahrer von Agostini, Read, Taveri und Redman über Lauda, Berger, Cecotto, Roberts, Sheene, Mamola, Spencer, Schwantz, Rainey, Lawson, Doohan, Thorpe, De Coster, Malherbe, Kinigadner, Rossi, Stoner, Marc Márquez bis zu Lorenzo und der heutigen Generation mit freundlichen Jungs wie Bagnaia, Quartararo, Binder, Miller, Pol Espargaró und so weiter. Dazu andere Sportstars von Michael Jordan bis zu Jan Ullrich. 

Zu Zeiten von Agostini, Sheene und Roberts kamen teilweise nur drei oder vier Journalisten zu den Grand Prix; in Argentinien 1981 war ich der einzige GP-Reporter aus dem Ausland. So entstand ein freundschaftliches Verhältnis zu etlichen Piloten, auch immer wieder zu den deutschsprachigen Assen von Peter Öttl über Stefan Bradl bis zu Sandro Cortese, um nur einige zu nennen.

Auch manche MotoGP-Techniker, Teammanager, Mechaniker, Hospitality-Mitarbeiter oder Lkw-Chauffeure sind zu langjährigen Wegbegleitern geworden, die ich zwischen Venezuela, Südafrika, Australien und Hohenstein-Ernstthal immer wieder getroffen habe.

Vielen Teamprinzipals wie Jan Witteveen, Gigi Dall’Igna, Hervé Poncharal, Pit Beirer, Lin Jarvis, Paolo Ciabatti, Sito Pons, Aspar Martinez oder Lucio Cecchinello habe ich jahrelang Löcher in den Bauch gefragt. Das gilt auch für Dorna-CEO Carmelo Ezpeleta und häufige andere Gesprächpartner wie Luca Boscoscuro, die Kalex-Gründer Alex-Baumgärtel und Klaus Hirsekorn oder den erfolgreichen Aprilia-Racing-CEO Massimo Rivola, der mir am gestrigen 23. Dezember sogar noch aktuell Rede und Antwort stand.

Ich werde vielleicht bis 31.12. noch in meinen Erinnerungen kramen und noch ein paar hintergründige Texte schreiben, die überfällig sind und noch erzählt werden sollten.

Dieser Bericht hat sich in die Länge gezogen. Es tut mir leid, ich hatte wieder einmal keine Zeit, mich kurz zu fassen.

51 Berufsjahre, in denen ich nie ein Flugzeug verpasst habe, lassen sich eben nicht in 20 Zeilen zusammenquetschen.

Ich weiß nicht, ob ich eines Tages als Berichterstatter rückfällig werde, ganz auszuschließen ist es nicht. Manchmal wurde ich in der Vergangenheit den Eindruck nicht los, ich sei dafür geboren, den Mitmenschen die Würmer aus der Nase zu ziehen. 

Wenn ich 40 Jahre alt wäre und jetzt Abschied nehmen müsste, würde ich vielleicht von Schwermut befallen. Aber ich habe diesen Zeitpunkt oft genug hinausgeschoben, auch weil mich meine engsten Mitarbeiter entweder zum Weitermachen ermuntert haben oder meinten, ich würde sowieso bis in alle Ewigkeit weiterarbeiten.

Liebe Leserinnen und liebe Leser, ich bedanke mich auf diesem Weg herzlich für die jahrelange Treue und Nachsicht. Wenn es mir manchmal gelungen ist, Kurzweil zu verbreiten, Aufklärung zu leisten, Hintergründe zu beleuchten und eine klare Meinung zu vertreten, habe ich nicht alles falsch gemacht.

Frohe Festtage. Auf Wiedersehen.

Ihr Günther Wiesinger

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