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Valentino Rossi: Das Denkmal bekam Risse

Kolumne von Günther Wiesinger
Sepang, siebte Runde: Marc Márquez ist gestürzt. Rossi stürmt davon zum dritten Platz

Sepang, siebte Runde: Marc Márquez ist gestürzt. Rossi stürmt davon zum dritten Platz

Valentino Rossi hat sich grob verschätzt. Er wollte Marc Márquez zur Vernunft bringen. Aber er hat beim Malaysia-GP genau das Gegenteil erreicht.

Valentino Rossi hatte am 25. Oktober in Sepang die kleine Chance, den Titel frühzeitig für sich zu entscheiden. Schon dreimal hat er in Malaysia den MotoGP-WM-Titel gewonnen. Der insgesamt zehnte Titel lag beim vorletzten WM-Lauf auf dem Sepang Circuit in Reichweite, elf Punkte Vorsprung brachte der Movistar-Yamaha-Werkspilot aus Australien mit.

Aber statt des möglichen Titelgewinns musste der italienische Yamaha-Star den Tiefpunkt seiner Karriere hinnehmen.

Nicht nur bekam sein Denkmal durch die «verantwortungslose Fahrweise» in Runde 7 mit dem Sturz von Marc Márquez Risse. Die Titelchancen haben sich durch die drei Strafpunkte und die Verbannung in die letzte Reihe so gut wie verflüchtigt. «Der WM-Titel ist weg», stellte Rossi drei Stunden nach dem Rennen im ersten Ärger fest.

Inzwischen gibt es Durchhalteparolen. Und es existiert die Beschwerde beim Obersten Sportgerichtshof (CAS) in Lausanne. Er könnte die drei Strafpunkte für null und nichtig erklären oder diesem Penalty aufschiebende Wirkung zuerkennen und ihn ins nächste Jahr verschieben.

Er könnte aber Rossi auch für den Valencia-GP sperren.
Jeder Ausgang scheint möglich.

Ist Rossi der Grösste aller Zeiten?

Der italienische Superstar hätte in diesem Jahr ein vielleicht letztes und endgültiges Glanzlicht setzen können. Klar, theoretisch ist es immer noch möglich. Viele Fans und Experten sagen sowieso schon lange, Rossi sei der grösste Motorradrennfahrer aller Zeiten. Ich schliesse mich an.

Diese Behauptung ist nicht weit herbeigeholt. Valentino bestreitet die 20. Saison und hat von seinem Können, seiner Entschlossenheit und seinem Siegeswillen nichts eingebüsst.

Er hat Generationen anderer Rennfahrer überlebt und überdauert, er hat Titel in den Klassen 125 ccm, 250 ccm, 500 ccm, 990 ccm, 800 ccm gewonnen, die 1000-ccm-Kategorie fehlt ihm noch.

Der letzte Titelgewinn liegt allerdings sechs Jahre zurück.
Seither hat sich viel getan, dazwischen liegen die zwei tristen Ducati-Jahre 2011 und 2012.

Rossi gilt als der Grösste, obwohl er in zwei wichtigen Statistiken deutlich hinter Giacomo «Ago nazionale» Agostini liegt, der bei MV Agusta jahrelang keine starken Gegner und überlegenes Material hatte. Rossi hält bei neun WM-Titeln, Ago bei 15, der ältere Landsmann hat 122 GP-Siege auf seinem Konto, Valentino 112.

Ohne die beiden Desaster-Jahre bei Ducati wäre Valentino wohl schon dicht dran an den 122 GP-Siegen.

Bei allem Erfolg und bei aller Langlebigkeit Rossis, neun Titel haben auch zwei andere Rennfahrerkollegen gewonnen, nämlich Angel Nieto und Agostini. Nicht einmal in der Königsklasse liegt Rossi mit sieben Titelgewinnen an der Spitze der ewigen Bestenliste. Agostini hat nämlich zehn Weltmeisterschaften in der Klasse bis 500 ccm gewonnen.

Dafür hält «The Doctor» einen anderen Rekord: Mit 86 GP-Siegen in der «premier class» hat er mehr Rennen in der höchsten Kategorie gewonnen als jeder andere Rennfahrer vor ihm.

Es ist nicht nur die Dauerhaftigkeit des Erfolgs, der Rossi für den Ruf des «Greatest of All Time» (GOAT) qualifiziert, es hat auch mit seinem Charisma zu tun. So eine Persönlichkeit hat es im GP-Sport seit Barry Sheene nicht mehr gegeben, der 1976 und 1977 die 500er-WM auf der Werks-Suzuki dominierte und bis heute als britischer Held verehrt wird. Seit Sheene wurde kein britischer Fahrer GP-Weltmeister. Moto3-Pilot Danny Kent könnte die Durststrecke am Sonntag beenden.

Barry Sheene galt bis Rossi als populärster GP-Fahrer, Valentino hat ihm diese Rolle im 21. Jahrhundert abspenstig gemacht.

Rossi geniesst im MotoGP-Rennsport ein Alleinstellungsmerkmal. Dass er nach sechs Jahren noch einmal Weltmeister werden kann, klingt märchenhaft, denn er ist jahrelang gedemütigt worden.

2010 durch seinen Yamaha-Teamkollegen Lorenzo, dann durch die störrische Ducati, 2013 wieder durch Lorenzo bei Yamaha.

Aber er bäumte sich auf, er liess Lorenzo in der MotoGP-WM 2014 hinter sich, er landete auf dem zweiten WM-Rang.

Bemerkenswert ist, in welchem Alter sich Valentino noch einmal zur alten Form aufgeschwungen hat. Er ist der grosse alte Mann des GP-Sports, er hat allen Gefahren getrotzt, er hält körperlich mit den Jungen mit, dabei ist er 16 Jahre älter als beispielsweise Rookie Jack Miller.

Rossi hat seinen Fahrstil immer wieder den neuen Erfordernissen angepasst. Er hat seinen Siegeshunger beibehalten, trotz all der Jahre in der Ducati-Wildnis.

Als Rossi zu den Roten wechselte, war von einem «himmlischen Bündnis» die Rede, der Deal sollte so erfolgreich werden wie das Bündnis zwischen Ferrari und Michael Schumacher.

Aber die Ducati-Ära hat Valentinos Karriere fast abgemurkst. Er brauchte das ganze Jahr 2013 bei Yamaha, um sich von dieser Schmach zu erholen und wieder Vertrauen zu finden. Erst 2014 gelang die Wiederauferstehung – GP-Siege in Misano und Phillip Island, Vizeweltmeister hinter Marc Márquez.

Die Statistik von Rossi ist eindrucksvoll: In mehr als 70 Rennen seit seiner Rückkehr zu Yamaha hat er nur dreimal nicht gepunktet, seit Aragón 2014 hat er keinen Nuller verzeichnet, nur zweimal in diesem Jahr fuhr er nicht aufs Podest: Platz 5 in Misano, Platz 4 auf Phillip Island.

Rossis atemraubende Statistik

Es bleibt einem der Atem weg, wenn man Rossis Erfolge auf manchen Strecken betrachtet: Acht GP-Siege hat er zum Beispiel in Australien erreicht, 13 Mal war er dort in den letzten 15 Jahren auf dem Podest. In Sepang und Mugello sieht die Bilanz ähnlich aus. Dort hat er ab 2002 gleich sieben Mal hintereinander gewonnen!

In seinen 16 Jahren in der Königsklasse hat Valentino Rossi seinen Fahrstil dauernd anpassen müssen, an Michelin, an Bridgestone, an die 500er-Zweitakter, nachher an die Viertakter mit 990 ccm, 800 ccm und 1000 ccm, an V5-Motoren, V4-Tiebwerke und Reihenvierzylinder. Immer wieder musste er sich etwas einfallen lassen, um die übermütigen und furchtlosen Youngster in Schach zu halten.

Er schrubbt heute wie Marc Márquez mit Schräglagenwinkel von 64 Grad um die Ecken, er trägt Ellbogenschützer und streift fast mit den Schultern an den Bordsteinen.

Wenn Rossi 2015 trotz allem wieder Weltmeister wird, hat das viel mit Erfahrung und List zu tun, nicht unbedingt mit gnadenloser Schnelligkeit über eine einzelne Runde, da sind ihm Lorenzo und Márquez überlegen, wie die Qualifyings beweisen.

Das zeigt auch ein Blick in die Statistik: 329 Grands Prix absolviert, 61 Pole-Positions, 112 GP-Siege, insgesamt 211 Podestplätze.
Valentino Rossi versteht es, die Favoritenrolle dem Gegner zuzuschanzen, er versteht es, die Gegner zu verunsichern, mit Taten und Worten.

Das hat er in Malaysia auch bei Marc Márquez probiert, indem er ihm vorwarf, in Australien für Lorenzo gefahren zu sein. Es war Rossis feste Überzeugung, er wollte sie loswerden.

Vielleicht hätte er Marc lieber unter vier Augen beiseite nehmen und ihn bitten sollen, sich ein bisschen aus dem WM-Duell herauszuhalten.

Denn der Schuss ging gehörig nach hinten los. Márquez fuhr wie ein Rabauke. Jedenfalls ist er noch nie so rücksichtslos auf einen Gegner losgegangen, wenn kein Sieg mehr zur Debatte stand.

Jetzt ist die Situation eskaliert. Daran werden auch die heutige Aussprache und dieser Friedensgipfel nichts ändern.

Noch nie stand das MotoGP-Finale so im Blickpunkt wie jetzt.

Jorge Lorenzo ist jetzt klarer Titelfavorit. Der 28-jährige Mallorquiner ist der schnellste MotoGP-Pilot der Saison 2015.

Rossi hat trotzdem einen Weg gefunden, mehr Punkte zu sammeln.

Aber er ist kurz vor der Erstürmung des Gipfels durch einen Fehltritt vom Weg abgekommen. Schade.

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