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Unfall Jules Bianchi: Endlich redet FIA über Tragödie

Von Mathias Brunner
Charlie Whiting

Charlie Whiting

Der Autoverband FIA hat lange Zeit keine volle Stellung zum Unfallhergang von Jules Bianchi in Suzuka gegeben. Das haben die Verantwortlichen in Sotschi nachgeholt.

Drei Männer nehmen in Lounge 204 des «Sochi Autodrom» Platz, sie haben keine leichte Aufgabe. Sie müssen über einen Unfall sprechen, dessen Folgen der 25jährige Jules Bianchi vielleicht nicht überleben wird. Der Marussia-Pilot ringt im Krankenhaus von Yokkaichi noch immer mit dem Tod, seine Kopfverletzungen sind gravierend.

Vor uns sitzen FIA-Chef Jean Todt, dann Charlie Whiting – Formel-1-Starter, Ansprechpartner der Rennställe in allen Fragen, dazu Sicherheitsdelegierter im Grand-Prix-Sport. In der Rennleitung hat der erfahrene Brite jeweils auch das letzte Wort über Safety-Car-Einsätze und Rennunterbrechungen.

Neben Whiting sitzen Jean-Charles Piette – der Franzose ist der leitende Mediziner in der Formel 1 – und Ian Roberts. Der Engländer war jahrelang leitender Arzt des Silverstone-GP und ist als medizinischer Chef der schnellen Eingreiftruppe im Medical-Car (pilotiert von Alan van der Merwe) jener Doktor, der zum verunfallten Piloten eilt. Roberts ist in dieser Funktion Nachfolger des legendären Sid Watkins sowie des US-Amerikaners Gary Hartstein.

Die Konferenz beginnt mit einer kurzen Stellungnahme von Jean Todt: «Mit grossen Emotionen spreche ich über diese Tragödie, Jules Bianchi kämpft noch immer um sein Leben. Der erste Bericht über den Unfall liegt mir vor. Ich habe schon die Sicherheits-Kommission gebeten, diesen Bericht umzusetzen in Massnahmen, damit wir so einen Unfall nie wieder sehen müssen. Bianchis Unfall ist der Schlimmste seit Felipe Massa in Ungarn 2009. Jean-Charles und Ian haben Jules ins Krankenhaus begleitet und waren bis am Dienstag bei ihm.»

Dann ergreift Charlie Whiting das Wort und zeigt uns eine Videosequenz vom Unfall, so wie sie die FIA bislang unter Verschluss gehalten hatte. Es sind Bilder von den Pistenkameras aus Suzuka, sie dürfen nicht mitgefilmt werden oder fotografiert. Die erste Sequenz zeigt Sutil, wie er seinen Sauber aus der Kontrolle verliert. Die Innenseite von Kurve 7 bietet eine weniger nasse Bahn, Sutil kommt etwas auf den nasseren Teil, der Sauber-Fahrer verliert die Kontrolle und dreht sich von der Bahn.

Jules Bianchi (eine Runde zuvor unmittelbar vor Sutil) passiert dann eine Runde danach exakt das Gleiche. Er kommt auf das gleiche Stück Wasser, der Wagen bricht aus, Jules korrigiert das Übersteuern, der Wagen stabilisiert sich einen Moment, dann schiesst der Wagen geradeaus und fast ungebremst auf sein Schicksal zu.

Bilder von Pistenkamera 12 zeigen dann: Der Sauber kam jenseits von Posten 12 zum stehen, daher wurde dort dann die (für viele verwirrende) grüne Flagge gezeigt, weil der Sauber-Fahrer beim Zurückrollen des Bergefahrzeugs nicht mehr im folgenden Pistenteil war.

Die Fragen der Journalisten kommen natürlich nicht in Chronologie. Wir geben die wichtigsten wider, so wie sie gestellt werden.

Was zeigt die Datenaufzeichnung von Bianchis Wagen in Sachen Speed von Jules?

Charlie Whiting: «Nicht alle Fahrer haben so verzögert, wie es vielleicht angemessen gewesen wäre. Wir haben diese Daten, Jules ist langsamer geworden. Mit welchem Tempo Bianchi eingeschlagen hat, können wir noch nicht sagen. Die GPS-Daten geben eine Ahnung davon, aber wir brauchen auch die Daten aus dem Rennwagen. Daher will ich noch nicht über eine Zahl reden, die sich nachher als falsch erweist.»

Hätte man rückblickend etwas anders machen müssen?

Whiting: «Wir müssen hier vor allem lernen – wir müssen ein System haben, das klarer zeigt, wie stark die Autos verzögern sollten. Wir dürfen das nicht mehr allein den Fahrern überlassen. Ein erstes Treffen dazu findet morgen Samstag hier in Sotschi mit allen Teams statt. Wir reden hier von einem Speed-Limit an der Unfallstelle. Das würde de facto einem Safety-Car entsprechen, alle halten ihre Position und eine Geschwindigkeit, aber eben ohne den Führungswagen. Wir wollen, dass künftig die Fahrer an der Unfallstelle alle auf eine einheitliche Geschwindigkeit verlangsamen.»

Wer sandte den Traktor raus? Und wer sagte dem Streckenposten, welche Flagge er zeigen musste?

Whiting: «Die Rennleitung schickte den Traktor raus. Der Streckenposten hat eigenmächtig gehandelt und alles richtig gemacht.»

Wieso kam kein Safety-Car raus?

Whiting: «Wir sahen in dieser Situation keine Notwendigkeit. Das Auto war weit weg von der Bahn. Hätte der Sauber näher an der Bahn gestanden, hätten wir anders gehandelt. Alles entsprach dem üblichen Prozedere.»

Wieso wurde das Rennen nicht vorgezogen?

Whiting: «Die Startzeit ist nicht allein Sache der FIA. Ich hatte das vorgeschlagen. Aber die Organisatoren wollten das nicht. Aber für mich hat das nichts mit dem Unfall zu tun.»

Felipe Massa sagte, er hätte quasi darum gebrüllt, das Rennen abzubrechen ...

Whiting: «Das stimmt so nicht. Wir haben alles aufgezeichnet. Er hat nur einmal gesagt: „Die Pistenverhältnisse werden schlimmer.“ Das war alles. Aber wir hören nicht ständig alle Nachrichten.»

Haben die Fahrer für Sotschi eine Änderung verlangt?

Whiting: «Nein. Wir hatten ein sehr langes Meeting mit den Piloten. Sie haben nur gesagt, wir sollen sehr vorsichtig vorgehen, das war alles.»

Sollte man umstellen auf ein System nur mit Kran?

Whiting: «So einfach ist das nicht. Sie müssen schwer sein, um ein Auto anzuheben. Fahrzeuge wie in Japan werden erfolgreich seit gut 20 Jahren eingesetzt, ich sehe keine Notwendigkeit, das über Nacht zu ändern. Wir könnten aber solche Fahrzeuge mit Schürzen ausstatten, so dass ein möglicher Aufprall nicht so schlimm wäre. Aber Kräne allein – allein in Kurve 7 von Suzuka bräuchten wir vier oder fünf davon. Das ist auf vielen Pisten einfach so nicht umsetzbar.»

Frage an Ian Roberts: Wie veränderte sich der Zustand des Patienten vom Zeitpunkt des Unfalls und dem Eintreffen des Arztes bis ins Krankenhaus?

Dr. Roberts: «Sein Zustand war die ganze Zeit über in aller Schwere stabil.»

Die Frage richtet sich wieder an Charlie Whiting: Muss eine Struktur auf dem Wagen kommen, genauer – auf dem Monocoque, um den Kopf des Piloten besser zu schützen?

Whiting: «Die Forschung geht unvermindert weiter. Was wir aber mit einem solchen, nennen wir es mal Prallbügel festgestellt hatten, und das basierte auf Forschung nach dem tödlichen Unfall von Henry Surtees – der Reifen wird nicht komplett abgelenkt, der Reifen verformt sich vielmehr. Um wirklich eine markante Wirkung zu erreichen, müsste ein solcher Bügel mindestens 20 cm hoch sein. Nochmals: die Forschung hier geht weiter. Aber so einfach, wie es im Grunde klingt, ist das alles nicht.»

Gibt es einen möglichen Schutz, der Bianchi vor einer solchen Verletzung bewahrt hätte?

Whiting: «Das ist schwer zu sagen. Erste Daten zeigen, dass die Kraft – die dazu führte, dass am Marussia die Überrollstruktur abgerissen wurde – so enorm gewesen ist, dass es schwierig ist zu sagen: diese oder jene Schutzvorrichtung hätte Jules schützen können. Die Daten werden uns zeigen, ob es realistisch ist, die Widerstandsfähigkeit der Überrollstruktur zu verstärken. Aber wir müssen aus jedem Unfall lernen. Vor ein paar Jahren wurde Timo Glock verletzt, weil ein Fremdkörper von unten ins Chassis eindrang. Daraufhin wurde der Boden mit Kevlar verstärkt. Der Unfall hatte seine ganze besonderen Umstände. Die Chancen auf die Widerholung eines solchen Unfalls sind minimal, aber ich schätze die Chancen, dass wir einen getroffenen Streckenposten erleben als höher ein. Das ist ein weiterer Grund, warum wir uns ganz genau anschauen, was wir nun alles tun können.»

Wie schnell lassen sich solche Massnahmen umsetzen?

Whiting: «Ich würde schätzen – für die kommende Saison.»

Gibt es beim Unfallwagen ein Anzeichen darauf, dass es einen mechanischen Defekt gab?

Whiting: «Kein, darauf weist bislang nichts hin.»

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