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Jorge Lorenzo: Was ihn zu Ducati treibt

Kolumne von Günther Wiesinger
Der Ducati-Deal für Jorge Lorenzo ist aus vielerlei Gründen verlockend: Er tritt aus Rossis Schatten, erhält eine Traumgage und kann später bei Audi oder Lamborghini Sportwagenrennen fahren.

Sturz im Rennen von Las Termas, Sturz im Warm-up in Texas – gut möglich, dass Jorge Lorenzo in den letzten Wochen durch den Millionendeal mit Ducati abgelenkt war.

Deshalb will er jetzt Klarheit über seine Zukunft schaffen, die Spekulationen und das Versteckspiel beenden.

Der Transfer-Coup des Jahres wird in den nächsten Tagen öffentlich gemacht, auf jeden Fall vor dem ersten Training zum GP von Spanien in Jerez.

Lorenzo offenbart Mut zur Veränderung. Seit Valentino Rossi (2003/2004) ist kein amtierender Weltmeister mehr abtrünnig geworden und zur Konkurrenz gewechselt, wobei noch nicht feststeht, ob sich der Mallorquiner auch im November noch Weltmeister nennen darf.

Lorenzo löst sich aus der Umklammerung von Valentino Rossi, er will aus dem übergrossen Schatten heraustreten, den der neunfache Weltmeister und 112-fache GP-Sieger wirft.

Gegen die Popularität des italienischen Superstars kam Lorenzo nie an, trotz seines unbestrittenen Fahrkönnens, trotz seiner manchmal gekünstelt wirkenden Jovialität. Und obwohl er Rossis Eskapaden nach der Zieldurchfahrt jahrelang mit überschaubarem Einfallsreichtum nachäffte, bis dem Italiener die Lust daran verging, trotz seiner «Lorenzo Land»-Eroberungszüge und sonstiger Bemühungen, beim Publikum zu punkten.

Die Anzahl der Twitter-Follower spricht Bände. Rossi 4,3 Millionen. Márquez 1,8 Millionen. Lorenzo 1,3 Millionen.

Valentino Rossi hat sich nach seiner Rückkehr zu Yamaha 2013 fast untertänig verhalten; er hat Lorenzo bei allen Gelegenheiten gelobt, seine Fahrkunst gepriesen – und ihn 2014 in der WM-Endwertung bereits besiegt.

2015 kämpfte Rossi bis zum Finale in Valencia um den Titel. Lorenzo hatte seine Chance in den ersten drei Rennen verspielt, aber nachher mit vier Siegen in Folge eine grandiose Aufholjagd gezeigt. Und nach dem Crash in Misano holte Lorenzo 2015 noch einmal bedrohlich auf – und übertrumpfte den Champion schliesslich beim Finale, bei dem die Nummer 46 wegen des Sepang-Dramas vom letzten Startplatz losfahren musste.

Der Malaysia-GP förderte das abgrundtiefe Zerwürfnis zwischen Lorenzo und Rossi ans Tageslicht, das drei Jahre lang unter den Tisch gekehrt worden war, zumindest nach aussen hin.

Als Rossi wegen der drei Strafpunkte nach dem Revanchefoul an Marc Márquez in den Seilen hing, die Chance auf den zehnten WM-Titel war womöglich für immer futsch, trat Lorenzo böse nach. Er stieg aufs Siegerpodest und zeigte mit beiden Daumen nach unten, wie im alten Rom, als die Herrscher mit diesen Handzeichen den Tod der Gladiatoren und Sklaven forderten.

Bei der Pressekonferenz in Sepang hätte sich Lorenzo still über die kräftig oder sogar ins Unermessliche gestiegenen WM-Chancen freuen können. Aber stattdessen brach der ganze aufgestaute Frust aus ihm heraus; er forderte die Disqualifikation Rossis und bezeichnete die drei Strafpunkte als zu mildes Urteil.

Das heisst: Lorenzo wollte gleich in Sepang auf dem grünen Tisch Weltmeister werden.

Dieses Benehmen erzürnte die Yamaha-Manager und ärgerte zahlreiche MotoGP-Fans.

Die unstrittig hervorragende Performance des Champions ging unter in der Polemik um die Schützenhilfe von Marc Márquez und dem Mitleid der Fans für den in letzter Minute gescheiterten Rossi.

Bei einem Yamaha-Händler-Meeting in Madrid am Tag nach der Movistar-Teampräsentation Ende Januar fand Lorenzo neben Rossi so wenig Beachtung, dass der Spanier jedem aufmerksamen Beobachter aufrichtig leid tat.

Vielleicht ist in dieser Phase bei Lorenzo der Plan gereift, mit dem Wechsel zu Ducati ein Zeichen zu setzen und das gemachte Nest zu verlassen. Rossi ist bei Ducati jämmerlich gescheitert, Lorenzo könnte dort in den nächsten zwei Jahren für den ersten MotoGP-WM-Titel seit Casey Stoner 2007 sorgen.

Ducati: Reif für den Titel

Rossi behauptet natürlich, die Ducati sei jetzt wesentlich schlagkräftiger als bei seinem Wechsel, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Stoner gewann im Herbst 2010 in Aragón, Motegi und auf Phillip Island, er wurde Zweiter in Indy und beim Finale in Valencia, er landete in Assen, Barcelona, auf dem Sachsenring und in Brünn auf Platz 3.

Dann setzte sich Rossi am Tag nach dem Valencia-GP auf die Ducati – und landete beim Test abgeschlagen auf Platz 17. Mit der Yamaha hatte er das Rennen tags zuvor als Dritter beendet.

Mit einem Wort: Rossi übernahm eine Ducati, mit der zumindest Stoner jederzeit Podestchancen hatte.

Klar, inzwischen ist die Desmosedici wesentlich fahrbarer geworden. Vielleicht wären die Roten mit einem der «Grossen Vier» schon 2016 Titelkandidat.

Wie auch immer. Dank Edel-Testfahrer Stoner wird die 2016-Ducati sicher noch schlagkräftiger, auch Iannone und Dovizioso tun ihr Bestes.

Viele Jahre lang hat Jorge Lorenzo die Demütigungen durch Rossi tapfer ertragen.

Die schlimmste Erniedrigung passierte 2008: Rossi setzte bei Yamaha durch, dass eine Mauer in der Box errichtet wurde und der spanische Rookie mit den nicht mehr sonderlich konkurrenzfähigen Michelin-Reifen fahren musste. Rossi sicherte sich Bridgestone-Reifen, mit denen Stoner 2007 die WM gewonnen hatte.

Ein einmaliges Vorkommnis im gesamten Motorsport. Und eine Sünde, die Lorenzo dem Teamkollegen nie verzeihen wird.

Rossi gewann die WM 2008 und 2009, dann schlug das Pendel 2010 Richtung Lorenzo aus, er beendete die Siegesserie des Italieners und trieb ihn ins Ducati-Elend.

Die Rückholaktion Rossis durch das Yamaha-Management für 2013 betrachtete Jorge als Misstrauensvotum.

Aber aus Sicht von Yamaha war dieses Manöver überaus geschickt. Denn mit Lorenzo war ein Titelfavorit verfügbar, mit Rossi ein Publikumsmagnet und Verkaufsschlager.

Doch dann brach Marc Márquez wie ein Überfall auf die MotoGP-WM herein. Lorenzo verlor die WM-Fights 2013 und 2014 gegen den ungestümen spanischen Jüngling.

Lorenzo kämpfte fortan an zwei Fronten – gegen Márquez und gegen Rossi, der 2014 erstarkte und ihn 2015 mehrmals in den Schatten stellte.

Lorenzo half sich mit Eigenlob aus der Patsche, wir kennen das. «Mein Qualifying-Runde war nahe an der Perfektion», urteilt er dann. «Ich bin stolz auf meine Performance.»

Tatsächlich wuchs Lorenzo 2015 bei vielen Rennen über sich hinaus. Aber er offenbart weiter Schwächen auf nasser Fahrbahn (Silverstone und Misano 2015), seine Zweikampfstärke ist verbesserungsfähig.

Ich bin neugierig, wie sein sanfter, geschmeidiger und gefühlvoller Fahrstil zur brachialen Power der Desmosedici passen wird.

Natürlich werden wir nie erfahren, mit welcher Gage Lorenzo zu Ducati und Audi gelockt wurde. Fakt ist: Der damalige Ducati-Chef Gabriele del Torchio bot Valentino Rossi beim Laguna-Seca-GP 2012 nicht weniger als 17 Millionen Euro für eine dritte Ducati-Saison.

Solche Gagen sind heute nicht mehr üblich, aber wir rechnen mit rund 10 bis 12 Millionen pro Jahr, denn Sponsor Marlboro ist scharf auf Siegfahrer wie Vettel in der Formel 1, auch wenn die Zigarettenmarke wegen des Tabakwerbeverbots nur noch im Hintergrund wirkt.

Audi hat rund 740 Millionen Euro für Ducati auf den Tisch gelegt. Jetzt wollen die Ingolstädter endlich sportliche Erfolge sehen.

Lorenzo: Autorennen mit Audi oder Lamborghini?

Beim Texas-GP war zu hören, dass der Lorenzo-Vertrag auch Vereinbarungen mit der Audi-Group-Tochter Lamborghini und Audi selbst beinhaltet. Lorenzo gilt als Vierradfan und hat bereits 12-h-Sportwagenrennen in Dubai bestritten. Die Teilnahme am «Race of Champions» (gegen Vettel) sagte er im November 2015 in letzter Minute ab. Jorge könnte aber nach Ablauf des Ducati-Vertrags für Audi Sportwagenrennen (oder die DTM) bestreiten oder für Lamborghini. Auch das Dienstfahrzeug für die schöneren Tage des Weltmeisters (Wahlheimat Lugano im Tessin) wird eher aus Italien als aus Ingolstadt kommen. «Privat fahre ich lieber Auto als Motorrad», räumt der Champion ein.

Endlich vorbei die triste Zeit, als Lorenzo den Botschafter für Alfa Romeo mimen musste.

Andere Einzelheiten werden demnächst durchsickern. Nimmt Lorenzo einen Teil seiner Yamaha-Crew samt Crew-Chief Ramon Forcada mit zu Ducati? Überredet er vielleicht sogar Wilco Zeelenberg zu einem Transfer?

Vielleicht wird Lorenzo irgendwann über die Ursachen seines Weggangs bei Yamaha sprechen. Gekränkte Eitelkeit, eine neue Herausforderung, ein Werk, das ihm zu Füssen liegt, sinnvolle Beschäftigungen für die Zeit nach der MotoGP-Karriere mit der Aussicht auf eine doppelt so hohe Gage wie bisher – das sind die Gründe und Anreize, bei denen auch manch anderer Rennfahrer schwach geworden wäre.

Eigentlich konnte man sich die Trennung bereits beim Katar-GP ausmalen. Dort spielte Lorenzo die beleidigte Leberwurst, weil Yamaha den Rossi-Deal für 2017 und 2018 noch vor dem ersten Rennen verkündete und ausserdem feststellte, dass man das Lorenzo-Angebot um keinen Cent erhöhen werde.

Vor sechs Jahren sagte Rossi zu Yamaha: «Ihr müsst euch entscheiden, Lorenzo oder ich.» Dann ging er unüberlegt zu Ducati.
Jetzt passiert das Gleiche mit umgekehrten Vorzeichen: Rossi bleibt, Lorenzo geht, wenn auch weniger unüberlegt.

Monetäre Verlockungen und Emotionen, eine explosive Mixtur.

Der MotoGP-WM kann es nur guttun.

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