Zweifel an Öncü – doch Toprak stärkt ihm den Rücken
Mit 22 Jahren ist Can Öncü das möglicherweise größte Talent der aufstrebenden jungen Fahrer im SBK-Paddock. Zwölf Podestplätze in 18 Rennen unterstreichen dies, fünfmal hat der Yamaha-Pilot aus dem Team Evan Bros dieses Jahr schon gewonnen.
Doch wie schon in seiner ganzen Karriere, hat Öncü auch dieses Jahr immer wieder negative Ausreißer: Viermal ging er bereits leer aus, zweimal wurde er Fünfter. In Magny-Cours am vergangenen Wochenende sah er in beiden Läufen bis zur letzten Runde wie der sichere Sieger aus, wurde dann aber vom heranstürmenden WM-Leader Stefano Manzi (Ten Kate Yamaha) überrumpelt und vorgeführt.
Can Öncü gilt als heißer Kandidat für den zweiten Platz im Superbike-Werksteam 2026 neben Andrea Locatelli – Jonathan Rea tritt bekanntlich nach dieser Saison zurück. Letzter verbliebener Konkurrent im Streit um den Yamaha-Platz ist Pol Espargaro, aktuell MotoGP-Test- und Ersatzfahrer bei KTM. Denn Noch-MotoGP-Yamaha-Pilot Miguel Oliveira wird bei ROKiT BMW andocken, als Nachfolger von Michael van der Mark.
Am 27. August testete Öncü in Cremona mit der Yamaha R1, kam wegen des schlechten Wetters aber nur einen halben Tag auf trockener Strecke zum Fahren. Mit seinen Leistungen verdiente sich der Youngster viel Respekt, doch es gibt auch Verantwortliche bei Yamaha, die der Meinung sind, dass der Superbike-Aufstieg ein Jahr zu früh kommt. «Der Speed ist da, ihm fehlt es aber an Erwachsensein für so große Verantwortung», ist zu hören.
Sein ehemaliger Kawasaki-Teamchef Manuel Puccetti stößt ins gleiche Horn: «Can sollte ein weiteres Jahr Supersport fahren und die WM gewinnen, bevor er aufsteigt. Dann wäre er 23 Jahre alt und immer noch jung.»
Zur Reihe herausragender Yamaha-Champions gehört Andrea Locatelli. Er wechselte nach der Saison 2019 in die Supersport-WM und gewann diese mit 12 Siegen und 13 Podestplätzen in 15 Rennen in dominanter Manier und stieg anschließend zu den Superbikes auf.
Als Toprak Razgatlioglu nach 2023 von Yamaha zu BMW flüchtete, entwickelte sich Locatelli zur Nummer 1 des Herstellers mit den drei Stimmgabeln im Logo. Aktuell liegt er auf dem vierten WM-Rang, zum Dritten Danilo Petrucci (Ducati) fehlen ihm 24 Punkte.
«Loka» kann den Umstieg von der Supersport-Maschine kompetent beurteilen, da er den gleichen Weg beschritt. «Can hat großes Talent und es wäre schön, ihn an meiner Seite zu haben», unterstrich der Italiener. «Gleichzeitig muss man aber auch sehen, dass er die Supersport-Klasse möglicherweise verlassen würde, ohne die Meisterschaft zu gewinnen. Ich weiß nicht, ob Yamaha lieber zwei Routiniers im Team haben möchte oder einen Jungen, dessen Level dann nach oben geschraubt wird – so, wie sie es mit mir gemacht haben. Wäre ich Can, dann würde ich versuchen die WM zu gewinnen, so wie ich es getan habe, und dann aufsteigen. Ich war nach meiner Moto2-Zeit vielleicht bereit, direkt auf das Superbike zu springen. Aber für mich wäre das gewesen, als hätte ich einen Schritt ausgelassen. Statt zwei Schritte auf einmal zu machen, ist es besser, einen nach dem anderen zu setzen. Als ich die Supersport-WM angeführt habe und sie dann gewann, war klar für mich, dass ich aufsteigen werde. So dachte ich – andere Fahrer haben eventuell andere Vorstellungen.»
Der zweifache Superbike-Weltmeister Toprak Razgatlioglu beurteilte das im Gespräch mit SPEEDWEEK.com nicht so strikt: «In seinem halben Testtag sah er stark aus, nicht schlecht, seine Rundenzeit passt. Aber klar, er muss viel lernen, das war sein erstes Mal auf dem Superbike. Das ist ein ganzes anderes Bike, für das es einen anderen Stil braucht. Er hat Potenzial und muss sich anpassen. Die Entscheidung liegt bei Yamaha – für mich sieht es so aus, als wäre Can bereit für diese Herausforderung. Zuerst haben wir auch über die Moto2-WM geredet, dann sprach Yamaha aber über Superbike. Deshalb vergaßen wir die Moto2-Klasse und fokussieren uns jetzt auf Superbike. Nach dem Test warten wir auf die Yamaha-Entscheidung.»