Jorge Lorenzo: Das Ende einer großen Karriere

Von Günther Wiesinger
Paolo Ciabatti und Jorge Lorenzo

Paolo Ciabatti und Jorge Lorenzo

Viele alte Weggefährten umarmten Jorge Lorenzo heute nach seiner Rücktritts-Pressekonferenz. SPEEDWEEK.com blickt auf die außergewöhnliche Karriere des Spaniers zurück.

Jorge Lorenzo (32) hat im Vorjahr bei Ducati noch drei GP-Siege gefeiert, das Jahr bei Repsol-Honda entpuppte sich als Desaster. Er konnte sich mit der 2019-Werksmaschine nie anfreunden. Mit dem 2018-Modell hatte er beim Jerez-Test 2018 Ende November noch mit Platz 5 geglänzt.

Aber bis heute ist die Nummer 99 in diesem Jahr nie über den elften Platz in Le Mans hinausgekommen. Nur beim Catalunya-GP schien sich ein Aufwärtstrend anzubahnen, aber dann räumte Jorge gleich in der Anfangsphase des Rennens Viñales, Rossi, Dovi und sich selber ab. Tags darauf stürzte er beim Montag-Test schwer. Die Werks-Honda flog weit über die Airfences. Vermutlich hat sich Jorge dort schon den sechsten und achten Brustwirbel angeknackst, der dann in Assen endgültig entzwei ging.

Jorge Lorenzo war ein außergewöhnlich begnadeter Rennfahrer, auch wenn ihm die Herzen der Fans nicht so zuflogen wie seinem langjährigen Teamkollegen Valentino Rossi oder heute Marc Márquez.

Der Italiener betrachtete Lorenzo 2008 bei Yamaha als respektlosen Eindringling, aber der Mallorquiner gewann die WM gegen Rossi 2010, er vertrieb den Superstar dann für zwei Jahre (2011 und 2012) zu Ducati.

Rossi hatte im März 2010 bei Yamaha verlangt, man möge sich zwischen Lorenzo und ihm entscheiden. Yamaha verlängerte den Vertrag mit Jorge – und Rossi zog beleidigt nach Borgo Panigale.
Lorenzo war nie in schlimme Skandale verwickelt. Aber es war sicher kein Höhepunkt in seiner Karriere, als er nach dem Sepang-Clash zwischen Rossi und Márquez 2015 auf dem Siegerpodest die Daumen nach unten reckte. Das war auf Rossi gemünzt, auf seinen Teamkollegen wohlgemerkt. Der hatte aber nach der Kollision mit Márquez für das WM-Finale in Valencia einen «back of the grid»-Penalty bekommen. Damit waren die Titelchancen ohnedies futsch.

Trotzdem verlangte Jorge Lorenzo später bei der Pressekonferenz in Sepang eine härtere Strafe für Rossi. Er forderte eine Disqualifikation seines erbitterten WM-Gegners, der hinter Pedrosa und Lorenzo auf Platz 3 gelandet war.

Das Ende der Eskapaden

Auch die von Rossi kopierten Eskapaden in der Auslaufrunde nach Siegen wirkten oft unsympathisch, es waren meist schwache Kopien der Späße des Champions. In Jerez wäre Jorge nach dem Sprung in einen Teich fast abgesoffen; bald darauf ließ er diese Einlagen sein. Auch das Kapitel «Lorenzo Land» war irgendwann Geschichte. Denn Jorge rammte eine Zeit lang nach Siegen eine Flagge mit dieser Aufschrift in irgendein Kiesbett. Die Sturzonen wurden später sowieso meist asphaltiert.

Heute kann man sagen: Jorge Lorenzo hat keine so erfrischenden unbeschwerten Jugendjahre erlebt wie Rossi. Sein Vater drillte ihn schon mit vier Jahren, am Frühstückstisch wurden Interviews simuliert.

Aufmerksame Beobachter erinnern sich: Jorge hatte anfangs in der 125er-WM offenbar wenig Freude am Rennfahren. Er lachte das ganze Jahr nie.

Später fiel er dem Ex-Rennfahrer Dani Amatriain in die Hände, der sich als Manager aufspielte, ehe er wegen Drogendelikten aus dem GP-Paddock verbannt wurde.

Damals fehlte Jorge Lorenzo eine Vertrauensperson, ein väterlicher Berater, eine Respektsperson, die ihn führte. Der schnelle Erfolg und rasche Reichtum hatte ihm viele Schulterklopfer beschert, die nur etwas von seinem Ruhm erhaschen wollten.

Lorenzo gewann mit 25 Jahren bereits seinen vierten WM-Titel. Er war längst ein gemachter Mann, als ihn sein neuer Manager Albert Valera für die stattliche Jahres-Gage von 12,5 Millionen Euro für zwei Jahre zu Ducati Corse transferierte.

Jorge Lorenzo war inzwischen als Persönlichkeit gereift, er strahlte Zuversicht und Vertrauen aus, er offenbarte Kampfgeist, er merzte seine Regenschwäche aus, er stand den Berichterstattern gern Rede und Antwort, er wirkte gut erzogen und freundlich. Auch wenn ihn manche Fans verabscheuten, weil Rossi 2015 den unbewiesenen Verdacht geäußert hatte, Márquez sei beim Australien-GP für seinen Landsmann Lorenzo gefahren.

«Die größte Angst von Jorge in seiner Yamaha-Zeit waren immer seine Bedenken, er könne sich schwer verletzen», sagte mir kürzlich ein Yamaha-Topmanager.

Lorenzo: Assen war der Anfang vom Ende

Jorge war nie ein Haudegen oder Rabauke wie Cal Crutchlow oder Jack Miller. Er wirkte eher nachdenklich, sensibel, empathisch und feinfühlig, und nach den Wirbelverletzungen in Assen 2019 wusste er genau: Er hätte genauso gut im Rollstuhl landen können.

Deshalb wirkte er beim Comeback Ende August in Silverstone schaumgebremst. Er nahm sich vor, beim nächsten Rennen maximal 30 Sekunden auf den Sieger zu verlieren. Aber das sind keine Aussagen, die man bei Repsol-Honda von einem Ex-Weltmeister mit einer Jahresgage von 3 bis 4 Millionen Euro hören will.

«So etwas darf nicht einmal ein Aprilia-Werksfahrer von sich geben», wunderte sich Ducati-Renndirektor Gigi Dall’Igna, ein langjähriger Bewunderer von Jorge Lorenzo.

Lorenzo verlor bei den Rennen nach seinem Comeback bis zu 55 Sekunden auf den Sieger. So mancher Honda-Verantwortlicher betonte trotzdem, man werde den Vertrag für 2020 respektieren. Aber diesen Unsinn glaubten nur die ganz leichtgläubigen Fans und Berichterstatter.

Denn Lorenzo selbst räumte bereits in Silverstone nach dem FP2 ein: «Ich habe viele Fähigkeiten verloren.» Und: «Nach so einer schweren Verletzung macht man sich Gedanken über das Leben und seine Karriere.»

Aber diese Aussagen bekamen die meisten Reporter gar nicht mit, denn sie blieben nach 18. Trainingsplätzen seinen Media Debriefs geflissentlich fern.

Mich interessierte aber, was in dem fünffachen Weltmeister und 68-fachen GP-Sieger (47 MotoGP-Siege) vorging, wenn er sich mit Rabat, Abraham und Syahrin am Ende des Feldes herumschlug. «Natürlich hat mir das rennfahren mehr Freude gemacht, als ich gewonnen habe», räumte Jorge ein.

In Aragón fragte ich Lorenzo dreimal, ob er auch 2020 auf der Honda RC213V sitzen werde. Er wich aus. «Ich habe einen Vertrag. Ich bin ein Kämpfer.»

Auf die Frage wollte er partout keine exakte Antwort geben.
Damals war ich längst überzeugt: Diese Karriere geht in Valencia zu Ende.

In Australien sickerte durch, dass Lorenzo seine Entscheidung vor Valencia verkünden werde. Wer seinen Vertrag brav erfüllt und einhält, muss nichts verkünden, reimte ich mir zusammen.

Irgendwann wurde bei HRC überlegt, ob man Lorenzo 2020 noch zwei Grand Prix zur Bewährung erlauben sollte. Aber dann hätte man einen Fahrer wie Zarco ein halbes Jahr hinhalten oder Crutchlow während der Saison transferieren müssen, der aber ein Monster-Athlet ist und bei Repsol für Red Bull werben müsste.

Dann schilderte Lorenzo irgendwann, er sei gespannt auf die neue 2020-Werks-Honda, die er nach dem Valencia-GP testen wollte.
Aber die HRC-Manager wussten: Das neue Bike wird nicht um jene 1,5 bis 2 sec schneller sein, die Lorenzo seit Silverstone meistens zur Spitze fehlten.

Vermutlich hat Jorge Lorenzo durch seine Durchhalteparolen immerhin erreicht, dass ihm HRC den Rücktritt noch mit der halben Jahresgage von 2020 versüßt. Das könnten immerhin 2 Millionen Euro sein.

Johann Zarco hingegen hat seinen KTM-Vertrag für 2020 ohne Ansprüche auf eine Abfindung gekündigt – so hat er auf 1,8 Mio verzichtet.

«Das war mutig. Ob es auch intelligent war, kann ich nicht beurteilen», tönte Lorenzo nach Zarcos Abgang bei KTM.
Nicht zuletzt dank Nakagamis Schulterverletzung ging für Zarco eine Türe bei Honda auf.

Ich vermute, Jorge Lorenzo wird künftig nicht zu den Stammgästen im GP-Paddock zählen. Er will sich weiterbilden und auf eine anderen Bühne Erfolge ernten. Vielleicht als Investment-Banker. Mit Überraschungen ist zu rechnen.

Dorna-CEO Carmelo Ezpleta standen die Tränen in den Augen, als er Jorge Lorenzo verabschiedete. Dann liebkosten ihn Weggefährten und Freunde von Lin Jarvis über Paolo Ciabatti bis zu Gigi Dall'Igna, Alberto Puig und sein langjähriger Crew-Chief Ramon Forcada.

Die MotoGP-Welt zeigte Respekt vor einem großen Champion. Hätte ihn Ducati-Chef Claudio Domenicali im Juni 2018 nicht vergrämt, könnte er heute noch von Sieg zu Sieg eilen.

Die Lorenzo-Verletzungen:

Aragón-GP 2018: Luxation der großen Zehe, Bruch des zweiten Mittelfußknochens rechts;

Buriram-GP 2018: schwere Prellung am linken Handgelenk, Verstauchung des rechten Knöchels;

Januar 2019: Trainingssturz beim Offroad-Fahren; Kahnbein am linken Handgelenk gebrochen;

Losail-GP 2019: Knochenriss an einer Rippe; heftige Prellungen am Rücken; am Handgelenk,. an den Fingern und Füssen;

Jerez-Montag-Test am 6. Mai 2019: starke Schmerzen am ganzen Körper;

Barcelona-Montag-Test am 17. Juni 2019: Scherzen am Brustkorb und am Rücken;

Assen-FP1 am 28. Juni 2019: Sechster Brustwirbel gebrochen, Haarriss im achten Brustwirbel.

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