Ein Hoffnungsschimmer bei der KTM AG

Glock und das Brasilien-Drama: «Eine irre Situation»

Von Andreas Reiners
Timo Glock 2008 in Brasilien

Timo Glock 2008 in Brasilien

Vor zehn Jahren spielt Timo Glock im Titelkampf der Formel 1 im letzten Rennen in Brasilien das Zünglein an der Waage. Dafür darf sich der DTM-Pilot noch heute etwas anhören.

Timo Glock hat lange gebraucht, um die Erlebnisse hinter sich zu lassen. Den Shitstorm. Die Wut. Den ganzen Frust. Ja, auch den geballten Hass, der sich auf ihn fokussierte. Den Formel-1-Fans an ihm ausließen.

Warum? Weil er am 2. November 2008 von Lewis Hamilton in der letzten Kurve des letzten Saisonrennens in Brasilien überholt wurde. Irre. 39 Sekunden lang war Ferrari-Star Felipe Massa Weltmeister – doch McLaren-Konkurrent Hamilton brauchte genau dieses Überholmanöver für Platz fünf, um Massa die Krone noch zu entreißen.

Er erfuhr auf der Auslaufrunde, dass es doch nicht gereicht hatte, der Jubel in der Ferrari-Garage verstummte in Sekundenbruchteilen, wich Fassungslosigkeit. Trauer. Tränen. Mehr als 100.000 Fans an der Strecke blieb der Jubel im Hals stecken.

Dass Glock mit seinen Slicks im Regen von Interlagos gegen Hamilton mit Intermediates völlig chancenlos war – das interessierte schon damals keinen Massa-Fan oder Verschwörungstheoretiker. Glock «feiert» dieses Jubiläum inzwischen mit einem Augenzwinkern, Jahr für Jahr geht es auf Twitter rund. Der DTM-Pilot wird noch heute für diese für Massa so tragische letzte Runde, die letzten Meter angegangen.

Freilich nicht mehr so wild wie vor zehn Jahren, aber wie er verriet, sind es bis zu 150 Tweets, die zu dem Thema die Runde machen. Das wird auch heute wieder der Fall sein, zum Zehnjährigen erst recht.

Doch so lustig, wie es sich heute anhört, war es damals freilich nicht. Das fing auf der Strecke an, als fünf Runden vor Schluss langsam der Regen kam. Glock war sich schon vorher sicher gewesen, dass es nass werden würde, doch sein Toyota-Team ließ ihn draußen, während der Rest des Feldes auf Intermediates ging. Seine kurz vor Ende wiederholte Bitte, die Reifen zu wechseln, wurde erneut abgelehnt. «Die Antwort war: „Nein, du kannst nicht reinkommen. Die Boxengasse ist blockiert, weil schon Zäune für die Podiumszeremonie aufgestellt werden und Menschen durch die Boxengasse laufen“», erinnert sich Glock.

Die Reifen kühlten nun massiv ab, die Temperaturen gingen in den Keller. Der Grip war weg, das Wasser stand teilweise auf der Strecke. Es war wie auf Eis. Ein Kampf. Glock: «Zu jener Zeit waren die Bridgestone-Reifen extrem anfällig für Temperatur-Schwankungen. Ich glaube, ich war in dieser Runde 40 oder 45 Sekunden langsamer. Ich habe nur noch versucht, irgendwie auf der Straße zu bleiben. Es ging nur noch darum, keine Fehler zu machen.» Die Entscheidung war strategisch richtig, weil Glock am Ende zwei Plätze gut machte. Doch dass er die Titelentscheidung mit beeinflusst hatte, wusste er da noch nicht.
Bis plötzlich alles auf ihn einprasselte.

Glock: «Mir wurden all diese Geschichten erzählt, dass ich Hamilton geholfen hätte, dass das bereits vor dem Rennen so geplant gewesen sei, oder wieviel Geld ich von Mercedes bekommen hätte, um ihn vorbei zu lassen. Die Situation an diesem Sonntag war so verrückt. Ich war erst einmal völlig baff, weil ich nicht verstehen konnte, dass Leute mir Vorwürfe machten.»

Glock überlegte, ob vielleicht er einen Fehler gemacht hatte. Er erlebte, wie schnell eine Geschichte konstruiert werden kann, wie schnell Stimmungen und Emotionen dafür sorgen, dass der Blick vernebelt, das große Ganze nicht mehr gesehen und stattdessen Jemand zu Unrecht beschuldigt wird. «Ich war wirklich erstaunt, dass solche Dinge im Sport passieren können und plötzlich jeder mit dem Finger auf dich zeigt», so Glock. Er hatte mit dem Taktik-Kniff, nicht zum Reifenwechsel zu kommen, überhaupt erst ermöglicht, dass Massa 39 Sekunden lang Weltmeister war.

Glock: «Wären wir nämlich auch zum Reifenwechsel gekommen, dann wäre Lewis die ganze Zeit problemlos auf Platz fünf gewesen. Das zeigt auch sehr schön, dass Leute einfach nur diesen einen Moment gesehen haben und die Chance nutzten, jemanden beschuldigen zu können, ohne zu verstehen, wie es zu dieser Situation gekommen war. Und dass es ohne uns niemals dieses dramatische Finale um den Titel gegeben hätte.»

Doch das war in Interlagos, beim Massa-Heimspiel, so ziemlich allen Fans an der Strecke egal. Das Volk tobte.

«Mein ganzes Toyota-Team hatte noch an der Strecke einen Shitstorm abbekommen. Sie wurden von Gästen und brasilianischen Fans aus dem Paddock Club bespuckt und mussten sogar ihre Teamkleidung wechseln. Am Ende liefen sie sogar mit Renault-Shirts rum», so Glock. Er wurde am Montag nach dem Rennen mit einer Polizei-Eskorte zum Flughafen und bis ins Flugzeug gebracht. Im Flieger die persönliche «Krönung»: Das ganze Mercedes-Team im Feiermodus, direkt neben Glock saß Norbert Haug. Medial unbemerkt glücklicherweise. Ein Foto der Beiden hätte für noch mehr Zündstoff gesorgt. Dabei gab es davon genug.

Denn zu Hause ging es weiter: «Da ist dann der ganze Shitstorm bei Facebook auf mich eingeprasselt. Selbst deutsche Fans haben mir Briefe geschickt, in denen sie mir üble Sachen an den Kopf warfen. Erst nach ein paar Wochen hatte sich alles wieder ein bisschen beruhigt. Es war nicht leicht zu verstehen, warum das alles passiert ist und Menschen so reagiert haben. Insgesamt war es eine absolute irre Situation. Es hat lang gedauert, bis ich das hinter mir lassen konnte.»

Was fast ebenso unglaublich ist: Hamilton, Massa und Glock haben über Interlagos 2008 nie gesprochen. «Es wäre aber sicher cool, sich irgendwann mal darüber zu unterhalten», so Glock. Möglicherweise ja zum Jubiläum.

Denn beim GP am 11. November wird Glock zum ersten Mal nach sechs Jahren wieder in Brasilien sein, als Experte für RTL.

«Vielleicht treffen wir uns ja auch alle drei dort in der letzten Kurve für ein Interview, wer weiß. Das könnte lustig werden, vielleicht für Felipe nicht so sehr. Schauen wir, was passiert. Ich hoffe, dass man mich an der Passkontrolle in Brasilien einreisen lässt...»


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