Zum Tod von Jules Bianchi: Keine absolute Sicherheit

Von Mathias Brunner
Jules Bianchi

Jules Bianchi

Jules Bianchi ist verstorben: Die Rennwelt trauert um den ersten Toten nach einem GP-Wochenende seit Ayrton Senna 1994. Aber die Wahrheit ist: wir hatten zwanzig Jahre lang nur Glück.

Was trifft den Menschen härter – ein Todesfall aus heiterem Himmel oder wenn man sich auf das Unvermeidliche vorbereiten kann? Viele von uns haben schon Familienmitglieder und Freunde verloren, durch Unfälle, durch Krankheiten. Ein solcher Schicksalsschlag ist immer eine harte Probe, ob urplötzlich oder nach längerem Leidensweg, es gibt kein Schlimmer oder weniger schlimm, es ist nur anders.

Seit dem grauenvollen Unfall von Jules Bianchi am 5. Oktober 2014 beim Grossen Preis von Japan in Suzuka befand sich die Familie in einem scheinbar endlosen Albtraum. Noch in der vergangenen Woche meldete sich der Vater des Rennfahrers, Philippe Bianchi, zu Wort. So wie es der tapfere Franzose immer wieder getan hatte, es war seine Art, sich einen Teil seines Kummers von der Seele zu reden, ich bewundere ihn dafür sehr.

Dieser Fels von einem Mann gab offen zu, dass sein Optimismus bröckelt: «Generell bei solchen Verletzungen muss man im ersten halben Jahr Fortschritte erkennen können, wenn man Hoffnung haben will. Wir stehen nun bei rund neun Monaten, ohne dass Jules aufgewacht wäre, und wir sehen keine markanten Fortschritte. Wenn er mit einer schweren Behinderung aufwachen würde, dann wäre das bestimmt etwas, das Jules nicht gewollt hatte. Wir hatten uns über solche Möglichkeiten unterhalten. Er sagte uns – wenn ihm ein Unfall zustossen sollte wie Michael Schumacher, wenn er nicht mehr fahren könnte, dann wäre das für ihn kaum zu ertragen, denn das war sein Leben.»

Nun ist dieses Leben erloschen, und in der ganzen Betroffenheit der Rennwelt, die in solchen Momenten eng zusammenrückt, wenn Rennerfolge und Geld und Macht wenigstens für kurze Zeit keine Leitthemen sind, in dieser schweren Stunde fühle ich Erleichterung, dass die Familie nun abschliessen kann, dass «der nicht enden wollende Horror», wie es Philippe Bianchi nannte, zu Ende ist.

Vor 21 Jahren wurde der Sport am schwarzen Imola-Wochenende in seinen Grundfesten erschüttert: Am Freitag ein schwerer Unfall von Rubens Barrichello, der mit Glück keine gravierenden Verletzungen davontrug; am Samstag im Abschlusstraining der tödliche Unfall von Roland Ratzenberger; am Sonntag dann «fiel die Sonne vom Himmel», wie es Gerhard Berger bezeichnete, wir verloren Ayrton Senna, für viele der grösste aller Formel-1-Fahrer.

Knapp zwei Wochen danach lag der Tiroler Karl Wendlinger nach einem Trainingsunfall in Monte Carlo mehr als zwei Wochen lang im Koma, zum Glück hat sich der damalige Sauber-Fahrer wieder ganz erholt.

Die Formel 1 reagierte umgehend, die Sicherheitsbestimmungen wurden verschärft, die jahrelange, bis heute anhaltende Arbeit war der Grund, wieso wir so lange keinen Piloten verloren haben.
Aber absolute Sicherheit ist eine Illusion. Die Formel 1 blieb immer überaus gefährlich, und nur dank verbesserter Autos und optimierter Strecken gingen zahlreiche schwere Unfälle für die Fahrer glimpflich aus.

Formel-1-Unfälle: Schutzengel im Dauereinsatz

Mika Häkkinen überlebte einen Trainingsunfall in Adelaide 1995 lediglich dank der medizinischen Schutzengel der Formel 1, allen voran der 2012 verstorbene Professor Sid Watkins, zusammen mit dem früheren FIA-Präsidenten Max Mosley eine Triebfeder hinter den ständigen Bemühungen, Risiken zu minimieren. Häkkinen lag im Koma, kehrte aber auf die Rennstrecken zurück und wurde 1998 und 1999 mit McLaren-Mercedes Weltmeister.

Michael Schumacher erlitt 1999 in Silverstone beim Aufprall in einen Reifenstapel Beinbrüche und sprach später von einer Nahtod-Erfahrung. «Ich spürte, wie mein Herz langsamer und langsamer schlägt.»

2000 und 2001 kamen Streckenposten ums Leben, die ungefeierten Helden im Rennsport: In Monza 2000 wurde Paolo Gislimberti nach einem Massencrash von herumfliegenden Teilen getroffen und erlag später seinen Verletzungen. In Melbourne 2001 wurde Graham Beveridge von einem Rad erschlagen, das nach der Kollision zwischen den Autos von Jacques Villeneuve und Ralf Schumacher durch eine Lücke im Schutzzaun geschossen war.

In Spa-Francorchamps 2001 schoss der Prost-Renner von Luciano Burti mit fast 300 km/h in die Reifenstapel. Der Brasilianer zog sich eine schwere Gehirnerschütterung und Hirnblutungen zu und brauchte fast zwei Jahre, um sich von den Folgen des Unfalls zu erholen.

Viele dachten nach dem grauenvoll aussehenden Crash von Robert Kubica in Montreal 2007, dass der BMW-Sauber-Fahrer das unmöglich überlebt haben konnte. Aber auch der Pole kam mit verhältnismässig leichten Blessuren davon, ein Jahr später gewann er am gleichen Ort seinen einzigen Grand Prix.

Felipe Massa wurde? im Training zum Ungarn-GP 2009 von einer Schraubenfeder aus dem Heck des BrawnGP-Renners von Rubens Barrichello getroffen und am Kopf schwer verletzt. Nur wenige Zentimeter weiter unten, und man hätte mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Der Brasilianer erholte sich vollständig.

Im Juli 2012 konnte die Spanierin Maria de Villota bei Testfahrten mit Marussia in England aus bis heute nicht vollständig geklärten Gründen nicht rechtzeitig anhalten und krachte in die heruntergelassene Laderampe eines Lkw. Sie zog sich schwere Kopfverletzungen zu, verlor ein Auge sowie den Geruchs- und Geschmackssinn. Im Oktober 2013 wurde sie tot in einem Hotel in Sevilla aufgefunden, die Gerichtsmediziner kamen zum Schluss, dass sie an den Folgen des Testunfalls verschieden ist.

In Belgien 2012 flog der Lotus von Romain Grosjean über den Ferrari von Fernando Alonso. Verschiedene TV-Blickwinkel zeigten – der Spanier konnte von Glück reden, dass er vom Rennwagen des Genfers nicht erschlagen wurde.

2013 starb Mark Robinson, als nach dem Kanada-GP der Sauber-Renner von Esteban Gutiérrez abtransportiert wurde. Der Streckenposten war gestolpert und vom Kranwagen überrollt worden.
Die Liste soll zeigen: es ist möglich, die Risiken in der Formel 1 zu verringern, aber es bleibt unmöglich, die Gefahr zu verbannen.

Für viele kam der Unfall von Jules Bianchi im vergangenen Oktober wie ein Hammerschlag. Eine neue Generation von Fans und Berichterstattern ist seit Imola 1994 herangewachsen, eine Generation, die den Tod als Fahrerlagergast nicht kannte, eine Generation, die im Frühling 1994 nicht fassungslos vor dem Fernseher sass, geschweige denn wie einige meiner Arbeitskollegen und ich vor Ort erlebten.

Oft habe ich selbst Fachleute sagen gehört: «Ach, in der Formel 1 kann doch nichts mehr passieren.» Ein trügerischer, kurzsichtiger, dummer Gedanke, der mich immer ärgert. Denn es bedurfte nur verschiedener Faktoren, die aufeinander trafen, um wieder einen Formel-1-Toten beklagen zu müssen. Jules Bianchis Unfall in Japan war ein solcher Unfall.

Jules Bianchi: Der perfekte Sturm

Wenn verschiedene Einflüsse zu einem unsagbar machtvollen Wirbelsturm zusammenfinden, dann sprechen die Meteorologen – was ich immer etwas seltsam finde – vom perfekten Sturm. Der Unfall von Jules Bianchi war motorsportlich der perfekte Sturm.

Seit Jahren hatten die Rennfahrer betont, wie unwohl sie sich fühlen, wenn sie an einer Unfallstelle vorbeifahren, wo Rettungsfahrzeuge auf oder neben der Strecke im Einsatz stehen, so wie bei Bianchis Unfall am Wagen von Adrian Sutil. Aber erst nach dem Unfall von Jules wurde das so genannte «virtuelle Safety-Car» eingeführt, wenn das Rennen neutralisiert ist und die Piloten in konstant niedrigem Tempo fahren.

Die Organisatoren und Rennpromoter Bernie Ecclestone wussten, dass ein Taifun schlechtes Wetter in die Region Suzuka bringen würde. Aber der vernünftige Vorschlag, das Rennen vorzuziehen, um Regen und einbrechender Dunkelheit zu entgehen, wurde aus wirtschaftlichen Gründen verworfen. Man fürchtete, es würden nicht alle Fans rechtzeitig zur Strecke kommen, dazu gab es Sachzwänge mit gebuchten Satellitenzeiten.

Die Wetterverhältnisse änderten sich im Japan-GP mehrfach, und ausgerechnet als die meisten Piloten mit abgefahrenen Intermediates-Reifen unterwegs waren, begann es wieder stärker zu regnen.

Kein Fahrer will sich vorwerfen lassen, freiwillig Sekunden hergeschenkt zu haben – zahlreiche Piloten fuhren an der Unfallstelle Sutils viel zu schnell durch, auch Jules Bianchi.
Die Rennleitung verzichtete nach dem Unfall von Sauber-Fahrer Adrian Sutil auf den Einsatz des Safety-Car.

Bianchi geriet mit seinem Wagen, genauer mit dem rechten Hinterrad auf eine Pfütze, er korrigierte instinktiv, das führte dazu, dass der Wagen die Piste in einem ungewöhnlichen Winkel verliess.
Es kann nur unfassbares Pech genannt werden, wie sein Wagen dann den tonnenschweren Rettungswagen traf.

Nur ein oder zwei Faktoren weniger, und der Franzose wäre noch unter uns.

Jules Bianchi, der Mensch, der Racer

In einer heilen Welt würden wir heute nicht darüber diskutieren, ob Valtteri Bottas oder Nico Hülkenberg als Kimi-Räikkönen-Ersatz in Frage kommt. In der Idealwelt war Jules Bianchi für diesen Platz neben Sebastian Vettel 2016 gesetzt. Denn der Plan des berühmtesten Rennstalls der Welt für seinen Nachwuchsakademie-Absolventen war: Bianchi sollte nach der Lehrzeit bei Marussia 2014 in diesem Jahr in einem Sauber-Ferrari sitzen, dort also in einem Mittelfeld-Team zusätzliche Erfahrung sammeln, um dann 2016, spätestens 2017 im Werks-Ferrari zu sitzen.
Was für ein Mensch war der 25-Jährige aus Nizza?

Wohlerzogen, lebenslustig, eher introvertiert, oft mit einem Lächeln auf dem Gesicht, unterschätzt. Ein Mann von erdverbundener Erziehung und gutem Charakter, trotz des Wissens um die eigenen Fähigkeiten nie blasiert.

Ein typischer Vertreter der neuen Generation, top-fit im Umgang mit sozialen Netzwerken wie Twitter und Instagram oder Facebook, an seiner Seite meist die bildschöne Korsin Camille Marchetti. Wenn Bianchi bei Tests oder Rennen ohne Freundin um die Welt tingelte, dann war er auch mal alleine in einem Restaurant anzutreffen, in seine Gedanken vertieft.

Ich erlebte ihn als immer ansprechbar, seine Antworten fundiert, ohne in Stomlinien-Blabla zu verfallen. Bianchi scheute sich nicht, seine Meinung zu sagen, aber er tat dies, ohne verletzend zu werden.

Bianchi hätte in seiner unaufdringlichen, offenen Art gut zu Sebastian Vettel gepasst.

FIA-Rennkommissar Paul Gutjahr sagt zum Tod von Jules Bianchi: «Ich fühle mich betroffen und erleichtert zugleich. Es klingt vielleicht seltsam, aber für Jules und seine Familie ist es das Beste so. Bianchi hatte sich in Japan so schwere Hirnverletzungen zugezogen, dass er sich nie davon erholt hätte. Der Leidensweg für die Familie und ihn ist nun zu Ende.»

«Motorsport is dangerous» steht auf jede Zugangspass fürs Formel-1-Fahrerlager.

Wir sollten das nie vergessen.

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