Ein Hoffnungsschimmer bei der KTM AG

Brutal: Can Öncü (20) wurde mental zweimal gebrochen

Von Ivo Schützbach
Can Öncü kehrt zurück auf die Rennstrecke

Can Öncü kehrt zurück auf die Rennstrecke

Am kommenden Wochenende wagt Can Öncü nach über vier Monaten Verletzungspause das Comeback in der Supersport-WM. Der lädierte Nerv im mehrfach gebrochenen Arm macht immer noch Probleme.

Seit dem 23. April ist Can Öncü rekonvaleszent: Direkt nach dem Start des zweiten Supersport-Rennens in Assen verschätzte sich Yari Montella (Barni Ducati) beim Anbremsen auf die erste Kurve und rammte den Türken von der Strecke. Can brach sich im linken Unterarm Elle und Speiche – knapp über dem Handgelenk und knapp unterhalb des Ellbogens.

Was sich als noch schlimmer herausstellte, ist eine Nervenverletzung im Arm. Die fünf Nerven musculocutaneus, axillaris, medianus, radialis und ulnaris steuern jegliche Bewegungen in der Schulter, im Arm, der Hand und den Fingern und sorgen für die Empfindsamkeit. Wird ein Nerv überdehnt, verletzt oder sogar durchtrennt, regeneriert er sich nur langsam – wenn überhaupt. Solange der Körper der Nervenzelle intakt ist, und die Zellfortsätze die elektrischen Erregungen vom Zellkörper aufnehmen und zum Endknöpfchen weiterleiten, kann der Nerv regenerieren. Die Wachstumsrate kann bis zu 2 mm pro Tag bei kleineren Nerven und bis zu 5 mm pro Tag bei größeren Nerven betragen. Oft ist sie aber deutlich geringer.

Mitte Juli drehte Öncü auf der Trainingsstrecke seines Mentors und Managers Kenan Sofuoglu in der Türkei erste Runden mit einer 300er. Am vergangenen Freitag war der 20-Jährige mit dem Kawasaki-Team von Manuel Puccetti in Cremona unterwegs und fuhr 82 Runden mit der 600er. Jetzt ist beschlossen: Can Öncü gibt am kommenden Wochenende in Frankreich sein Comeback in der Weltmeisterschaft.

«Wenn du den Arm von Can siehst, dann kannst du dir nicht vorstellen, dass er damit Rennen fahren kann», erzählte Teamchef Puccetti SPEEDWEEK.com. «Das ist unmöglich zu glauben, er hat fast keine Muskeln mehr. Aber auf dem Motorrad schaut es nicht so schlecht aus. Weil es der linke Arm ist, strauchelt er etwas in Linkskurven. Verglichen mit der Zeit nach dem Unfall, ist seine Hand deutlich besser. Wir waren nach dem Test bei einem Arzt in der Nähe von Cremona, er war sehr beeindruckt. Nach dem Sturz im April und zwei Monate später waren wir auch beim Arzt, da waren keinerlei Fortschritte ersichtlich. Aber in den zwei Monaten seither hat sich viel getan. Die Ärzte sagen, dass sie sechs bis sieben Monate nach dem Crash sehen, ob sich der Nerv komplett erholt. Tut er das nicht, müssen wir über eine Operation nachdenken.»

Natürlich hat sich Puccetti intensive Gedanken darüber gemacht, ob es sinnvoll ist, Öncü in der jetzigen Phase der Regeneration zurück aufs Rennmotorrad zu bringen.

«Körperlich ist er nicht bereit, zurückzukommen», ist dem Italiener bewusst. «Aber wir machen das, weil wir auch auf die mentale Seite von Can achten müssen. Die Verletzung stresst ihn sehr, wir müssen ihn aber auch auf das nächste Jahr vorbereiten. Er ist körperlich in der Lage, Rennen zu fahren. Wir wollen schauen, dass er nach den letzten vier Veranstaltungen dieser Saison in bestmöglicher Verfassung ist. Wir reden mit Kawasaki darüber, dass Can noch eine Saison Supersport-WM fährt. Can bekam viele Angebote, darunter sehr gute. Aber er sagt, auch zu Kenan, dass es sein Traum ist, seine Arbeit mit uns mit dem Titel zu Ende zu bringen. Er hat einen Fünf-Jahres-Vertrag, der nach der Saison 2024 endet. Dieses Jahr funktioniert es wegen der Verletzung nicht mit dem Titel, also versuchen wir es nächstes Jahr erneut. Unser Motorrad ist vielleicht nicht so konkurrenzfähig wie die Ducati, aber wir sind wie Familie für Can. Der Sturz hat ihn mental gebrochen – wenn er im gewohnten Umfeld bleibt, ist das der beste Weg für ihn, zurückzukommen. Das ist jetzt das zweite Mal, dass wir ihn aufbauen müssen. Das erste Mal war, als er nach 2019 aus der Moto3-WM kam, da war er ein gebrochener Junge. Wir haben ihn bis zum Toplevel aufgebaut, dann wurde er zum zweiten Mal gebrochen – dieses Mal von der Verletzung.»


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