KTM: Im Werk gingen die Lichter aus

Stefan Bradl am Scheideweg: Honda? Aprilia? Yamaha?

Von Günther Wiesinger
Stefan Bradl ist bei der mächtigen Honda Racing Corporation (HRC) in Ungnade gefallen. Das ist kein Grund zur Beunruhigung. Es gibt für 2015 reizvolle Alternativen.

Stefan Bradl, Deutschlands erfolgreichster Motorradrennfahrer in der Königsklasse in den letzten 50 Jahren (keiner war drei Jahre lang in den Top Ten), steht vor einem Scheideweg.

Der 24-jährige Bayer bestreitet die dritte MotoGP-Saison auf einer Werksmaschine des weltgrössten Motorradherstellers Honda, auch wenn sie im LCR-Kundenteam eingesetzt wird.

Er gewann 2012 die Rookie-of-the-Year-Wertung und wurde WM-Achter, er erzielte 2013 in Laguna Seca seine erste Pole-Position, er führte 2013 auf dem Sachsenring sechs Runden lang und in Laguna Seca 21 Runden lang, er wurde schliesslich dort Zweiter hinter Marc Márquez.

Daraufhin erhielt Bradl für 2014 erstmals einen Vertrag mit HRC, ein Ritterschlag für jeden MotoGP-Fahrer.

Er nahm sich vor, in den Rennen näher an Rossi und Pedrosa ranzurücken, er wollte sich anstelle von Pedrosa (neun Jahre im Werksteam, kein WM-Titel) als Teamkollege Marc Márquez empfehlen, er wollte die, vier oder fünf Podestplätze erzielen und sich nach dem siebten WM-Rang von 2013 unter die ersten fünf vorschieben.

Jetzt liegt Bradl zwar im Qualifyer-Award an fünfter Stelle, aber in der WM-Tabelle ist er nach Platz 10 in Assen (Sturz in der Besichtigungsrunde) und Platz 16 in Sachsen (falscher Vorderreifen, Gabel mit Regen-Set-up im Trockenen) vom sechsten auf den neunten Platz zurückgefallen. Auf Platz 6 fehlen aber nur 21 Punkte, auf Platz 7 nur zehn.

Klar, Stefan Bradl hat die hohen Erwartungen der Honda Racing Corporation 2014 bisher nicht erfüllt. Aber er stand bei den letzten drei Rennen zweimal als Vierter und einmal als Dritter auf dem Grid. Und er hat immerhin drei Top-5-Plätze eingefahren.

Bradl bekam im Frühjahr mit, wie bei HRC und LCR-Honda immer neue Namen von Jack Miller, Dovizioso, Iannone, Rea, Viñales, Crutchlow und Aleix Espargaró ins Gespräch kamen. Keiner ist wirklich besser als er.

Aber dass all diese in der Öffentlichkeit geführten Diskussionen für den Fahrer keine vertrauensbildende Massnahme waren, kann ich gut nachvollziehen.

Und sie haben Bradls Race-Performances sicher nicht beflügelt.

«Wenn du nicht genug Vertrauen vom Team spürst, wenn du deshalb im Kopf nicht frei und locker bist, kannst du selbst mit dem besten Motorrad nicht dauerhaft im Limit fahren», erklärte der finnische Weltmeister-Macher und Red-Bull-KTM-Teambesitzer Aki Ajo am Freitag gegenüber SPEEDWEEK.com.

Er hat mit di Meglio, Marc Márquez und Cortese 2008, 2010 und 2012 den WM-Titel in der kleinsten Klasse (125 ccm/Moto3) gewonnen, jetzt führt Ajo mit Jack Miller.

Die japanische Mentalität

Die japanische Mentalität stösst in Europa nicht immer auf volles Verständnis. Wer gerade gewinnt und dominiert, wird wie ein Gott behandelt (siehe Márquez und Miller), wer ein halbes Jahr die Erwartungen nicht erfüllt (Bautista, Bradl) gilt als Wegwerfprodukt.

Valentino Rossi hat Ende 2003 bei Honda Richtung Yamaha Reissaus genommen, obwohl er dort mit der Fünfzylinder-RC211V ein überlegenes Motorrad hatte.

Der damalige Honda-Rennchef schickte ihm nach vier Titelgewinnen hintereinander reizvolle Worte hinterher., «Wenn er weggeht, bauen wir ein noch besseres Motorrad und zerstören ihn.»

Der Rest ist bekannt: Rossi gewann 2004 gleich sein erstes Rennen auf der Yamaha, er gewann die WM 2004 und 2005, dann 2008 und 2009.

Als HRC 2011 einen Nachfolger für Casey Stoner suchte, der selbst für 11 Millionen Euro nicht mehr für Honda fahren wollte, schloss HRC-Sportdirektor Livio Suppo den neunfachen Weltmeister und 206-fachen GP-Sieger Valentino Rossi als Kandidaten aus.

«Die neue Sharon Stone ist nicht Sharon Stone», ätzte er.
Heute kämpft Rossi bei Yamaha gegen Honda-Star Pedrosa um den zweiten WM-Rang. Und sein Marketingwert ist so hoch wie der von allen restlichen MotoGP-Fahrern zusammen.

Wie auch immer: Wegen der emsigen Nachfolge-Kandidatensuche vergass Honda ein bisschen auf ein Angebot für Stefan Bradl, es gab kein einziges Gespräch seit Ende Mai in Mugello, erzählt der Bayer.

Also hörte er sich um. «Das ist ja kein Verbrechen», sagt Bradl.

Selbst eine Woche nach dem Sachsenring-GP lag noch kein Angebot vor, es gab keinen Sponsor für den zweiten Startplatz, der fixe erste Startplatz ist ohnedies für Jack Miller vorgesehen.

Bradl wurde wochenlang nicht informiert, ob er im Falle eines Zwei-Fahrer-Teams bei LCR das Werksmotorrad oder das diesjährige Open-Class-Motorrad erhalten würde. Er entnahm den Aussagen der HRC-Manager nur: Es gibt 2015 nur vier Open-Bikes wie 2014.

Also noch mehr Ungewissheit.

Bradl bei bei LCR: Ein Trugschluss?

LCR-Honda-Teamchef Lucio Cecchinello ging vielleicht davon aus, dass Stefan Bradl am Schluss sowieso bleiben würde. Das könnte sich als Trugschluss erweisen.

Vielleicht ging der ehrgeizige und tüchtige Teambesitzer auch davon aus, dass er ohnedies Aleix Espargaró (er geht aber von Forward-Yamaha zu SuzukI) oder Cal Crutchlow (er hat seinen Verbleib bei Ducati angekündigt) als gleichwertigen Ersatz bekommen würde.

In dieser heissen Transferphase ereignete sich aber letzte Woche einiges, was HRC und LCR-Honda offenbar nicht erwartet hatten.

Bei Forward-Yamaha musste plötzlich neben Colin Edwards (Rücktritt mit 40) auch der WM-Sechste Aleix Espargaró (Wechsel zu Suzuki) ersetzt werden. Ausserdem entschied sich das Aprilia-Werk, bereits 2015 statt 2016 in die MotoGP-WM zurückzukehren.

Plötzlich herrschte ein eklatanter Mangel an fahrerischen MotoGP-Spitzenkräften.

Denn ausser Stefan Bradl (24) und Alvaró Bautista (30) sind alle aktuellen Top-Ten-Fahrer vom Markt.

Dass sich Werke wie Yamaha und Aprilia lieber für einen aufstrebenden 24-Jährigen interessieren, der als einziger Deutscher den grössten europäischen Markt repräsentiert und ausserdem im Gegensatz zu Bautista (er ist einer von acht Spaniern im Feld) noch über Entwicklungspotenzial verfügt, leuchtet ein.

Die Yamaha-Rennchefs Nakajima, Tsuji und Jarvis verstärken sich natürlich gern mit einem Hoffnungsträger, der 2015 in die Honda-Phalanx eindringen kann – wie Forward-Yamaha-Pilot Aleix Espargaró 2014. Yamaha dominiert 2014 die Open Class – und könnte es mit Bradl auch 2015 tun.

Aleix Espargaró lehnte das Honda-Angebot ab, weil er dort keine Aufstiegschancen sieht. Das Repsol-Honda-Werksteam ist für 2015 und 2016 mit Márquez und Pedrosa blockiert, nach Miller werden bei Honda Alex Rins und Alex Márquez für die MotoGP-WM aufgebaut.
Aleix wusste: Bei Honda bin ich ein Notnagel für eine Saison, kein Hoffnungsträger.

Stefan Bradl war offenbar bei Honda ursprünglich auch nur vierte oder fünfte Wahl. Dass er bei HRC bereits in Ungnade gefallen ist (kein Angebot für 2015), hat er längst begriffen.

Ob und wann Moto3-Pilot Jack Miller bessere Ergebnisse als Bradl erzielen wird, bleibt abzuwarten.

Erstaunlich erscheint auch, dass Ducati trotz des deutschen Eigentümers Audi kein Interesse an Bradl hat. Im August 2012 war das noch anders. Stefan war für 2015 nicht einmal im Pramac-Kundenteam ein ernsthaftes Thema, dort wird ihm der Kolumbianer Yonny Hernandez vorgezogen.

Vielleicht verkauft Audi in Kolumbien mehr Autos als in Deutschland.
Klar, der gute Yonny verfügt in der MotoGP nicht über das gleiche Material wie Bradl.

Also nehmen wir die Moto2-WM als Vergleich. Dort gibt es Einheitsmotoren, Einheitsreifen, Einheitsöle, Einheitssprit, man kann mit Kalex, Suter oder Speed-up gewinnen, es entscheidet das Fahrkönnen. Hernandez hat dort in 31 Rennen immerhin einen sechsten Platz erreicht. Bradl hat in 33 Rennen fünf Siege verbucht, zwölf Podestplätze und einen WM-Titel.

Auch wenn Stefan Bradl in den letzten zwei MotoGP-Jahren die Erwartungen nicht immer erfüllt hat und manchmal die Konstanz in den Rennen fehlt: Die meisten deutschsprachigen Fans sind froh und dankbar, dass die MotoGP-Rennen nicht nur mit Spaniern und Italienern bevölkert sind.

Der LCR-Honda-Pilot ist immerhin der einzige Fahrer, der seit 2010 einen Titelgewinn von Marc Márquez (2011 in der Moto2) verhindert hat.

Stefan Bradl: Drei reizvolle Angebote

Stefan Bradl verbringt eine geruhsame Sommerpause. Er trainiert hart, denn er will 2014 bei den restlichen neun Rennen noch einige Male um Podestplätze kämpfen und sich in der WM vom neunten auf den sechsten Platz verbessern.

Der Honda-Pilot hat reizvolle Angebote von LCR-Honda, Forward-Yamaha und Aprilia vorliegen. «Stefan, du musst dorthin gehen, wo du dich am wohlsten fühlst», empfahl ihm Dorna-Chef Carmelo Ezpeleta letzte Woche.

Bei Aprilia könnte Bradl Teil eines vielversprechenden Werksteams sein, die Nr. 1 eines tragfähigen Zukunftsprojekts, allerdings mit dem Handicap, dass 2015 Top-Ten-Plätze Mangelware wären, weil der neue High-Tech-Prototyp erst für 2016 (dann kommt Michelin statt Bridgestone) gebaut wird. Die aktuelle MotoGP-Maschine ist vom RSV4-Superbike abgeleitet, mit dem Max Biaggi 2010 und 2012 Weltmeister wurde.

Bei LCR-Honda könnte Bradl ein viertes Jahr absolvieren. Es spricht manches für so einen Deal, vieles dagegen. Siehe oben.

Bleibt noch das Forward-Yamaha-Team von Giovanni Cuzari und Marco Curioni. Dort könnte Bradl statt Aleix Espargaró die neue Nummer 1 werden, er hätte ein schlagkräftiges Motorrad, er ist dort erste Wahl. Und wenn Lorenzo bei Yamaha nur für ein Jahr unterschreibt, könnte Bradl 2016 ins Movistar-Yamaha-Werksteam aufrücken – wenn er 2015 besser als Pol Espargaró abschneidet, was wegen der Open-Class-Vorteile (24 Liter statt 20 Liter Sprit, 12 statt fünf Motoren, weichere Hinterreifen, Motorenentwicklung nicht eingefroren) nicht ganz aussichtslos ist.

Wenn dieses Vorhaben nicht klappen sollte, winkt immer noch eine zweite verheissungsvolle Saison bei Forward oder ein verspäteter Wechsel zu Aprilia, wo trotz eines italienischen Eigentümers schon jetzt eine Zuneigung zum schnellen Deutschen zu spüren ist.

Und 2017 schliesst sich ja vielleicht der Kreis.

Stefan Bradl hat seine WM-Karriere 2005 bei KTM in der 125-ccm-Klasse begonnen. Und KTM wird 2017 aller Voraussicht nach in die Königsklasse einsteigen.

Firmenchef Stefan Pierer («Unser Motto heisst: Ready to race») hat nach der verunglückten Saison 2005 mit dem Team Roberts in der MotoGP-Klasse noch eine Rechnung offen.

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