Dankbarer Can Öncü: «Kenan hat mir Tritt verpasst»
Can Öncü (li.) und Kenan Sofuoglu
Nach seinem Sturz im zweiten Supersport-Rennen in Assen am 23. April fiel Can Öncü bis Anfang September verletzungsbedingt aus und konnte nur noch die vier letzten WM-Events in Magny-Cours, Aragon, Portimao und Jerez bestreiten.
Der 20-Jährige hatte sich im linken Unterarm Elle und Speiche gebrochen und litt seither an einer Lähmung des Radialisnervs, die eine Fallhand verursachte. Bei so einer Verletzung hängt die Hand schlaff herunter und der Betroffene hat nur wenig Bewegung in den Fingern. Trotz dieses Handicaps brauste Öncü beim Saisonfinale in Jerez im zweiten Rennen sensationell auf den dritten Platz.
Am 31. Oktober erhielt der Türke die niederschmetternde Nachricht, dass sich der geschädigte Nerv nicht vollständig regenerieren wird, am 12. November wurde in Birmingham im Royal Orthopaedic Hospital eine Nerventransplantation durchgeführt. Ob der Eingriff die erhofften Fortschritte bringt und Öncü seine Hand wieder normal bewegen wird können, bleibt abzuwarten.
Öncü hat nichts zu verlieren: Schlimmstenfalls wird sein Arm wie vor der Operation sein. Der WM-Dritte von 2022 hat bewiesen, dass er auch so aufs Podest fahren kann – und rechtfertigt damit das Wagnis, mit dieser Behinderung anzutreten.
«Einige Fahrer machen Pause, wenn sie verletzt sind», erzählte der Kawasaki-Pilot SPEEDWEEK.com. «Aber ich glaube, dass es richtig war, weiterhin Motorrad zu fahren. Auch, wenn ich meinen Arm nicht bewegen und anfänglich nicht mal die Kupplung halten konnte. Wenn du so wie ich lange etwas getan hast, das du liebst, und du musst dann im Bett bleiben, dann macht dich das wütend. Natürlich hätte ich zuhause bleiben können, mir die Rennen anschauen und mir einreden, dass ich vorne fahren könnte. Aber wenn du dabei bist, dann siehst du die Realität. Und du merkst, ob du dich verbessern kannst.»
«Im ersten Rennen in Jerez kam ich mit 26 Sekunden Rückstand auf den Sieger ins Ziel, im zweiten Lauf stand ich auf dem Podium», bemerkte Öncü. «Das war, als würde ein Traum Wirklichkeit. Bis Samstag war ich langsam und habe deswegen nicht gut geschlafen. Nach dem Podium gehöre ich nicht mehr zu den Langsamen, ich habe nie aufgegeben. Immer, wenn ich kurz davor war, hat mich Kenan Sofuoglu wieder aufgebaut und mir gesagt, dass ich das viel besser kann. Er sagte mir, dass er weiß, dass ich schnell bin, ich aber nicht so pushe, wie er sich das vorstellt. Ich war teilweise böse auf mich selbst, weil ich weiß, dass Platz 10 oder 12 nicht ist, wo ich hingehöre. Aber ich hielt es nicht für möglich, es besser zu machen.»
«Also erzählte mir Kenan am Samstagabend in Jerez eine Geschichte aus seiner Karriere», verriet Can. «Ich hörte ihm genau zu und bekam sie die ganze Nacht nicht aus dem Kopf. Wenn du nicht genügend pusht, dann brauchst du jemanden, der dir einen Tritt verpasst. Kenan ist wie der große Bruder von Toprak, Bahattin und mir. Er sagte mir, dass ich es entweder richtig machen soll oder heimgehen kann. Kenan und mein Teamchef Manuel Puccetti haben mich aufgeweckt, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Jetzt glaube ich, dass ich zurück bin. Im Winter arbeite ich schwer und werde ab dem Saisonstart versuchen, zu gewinnen. Ich habe gezeigt, dass man mit der Kawasaki selbst mit eineinhalb Händen aufs Podium fahren kann. Das beweist, dass sie ein hervorragendes Motorrad ist. Ich will Kawasaki glücklich machen.»