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Jackie Stewart: «Wo bleibt Respekt vor der Historie?»

Von Mathias Brunner
Rennlegende Sir Jackie Stewart graut beim Gedanken, dass sich die Formel 1 von noch mehr traditionsreichen Strecken abwendet: Respektiert die Formel 1 ihre Herkunft zu wenig?

Seit Jahren kein Grosser Preis von Frankreich mehr, seit 60 Jahren erstmals kein Grosser Preis von Deutschland, offene Drohungen, aus Monza wegzugehen – dem dreifachen Formel-1-Champion Sir Jackie Stewart bleibt quer im Halse stecken, wie sich sein Sport entwickelt.

Bald könnte es heissen: Baku statt Nürburgring, Losail statt Monza. Da kann Stewart nicht einfach tatenlos zusehen. «Natürlich werden viele Leute sagen, ich sei ein Purist, aber wir müssen doch die Historie unseres Sports schützen und sicherstellen, dass ein Kern von europäischen Rennen erhalten bleibt», findet der Schotte.

Stewart weiter: «Ich finde es fabelhaft, wenn wir in den USA fahren, in Brasilien, selbst in Bahrain. Aber wir müssen gleichzeitig das Erbe der Formel 1 respektieren. Die Mischung muss einfach stimmen.»

Europa kann und will sich die Formel 1 offenbar immer seltener leisten, dies zeigt sich bei einem flüchtigen Blick auf die WM-Kalender der letzten zehn Jahre. So fanden 2005 noch elf von 19 Grands Prix auf europäischem Boden statt, was einem Anteil von rund 58 Prozent entspricht. 2015 sind es sieben von 19 Rennen, was knapp 37 Prozent ausmacht.

Dass selbst der Europa-GP künftig in Aserbaidschan stattfinden soll, ist bezeichnend für die Flucht der Königsklasse, die ihre Fan-Basis immer noch in Europa hat. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der Tatsache wider, dass die Startzeiten für die Grands Prix möglichst auf das europäische TV-Publikum ausgerichtet werden. Auch sind sämtliche aktuelle Formel-1-Werke in Europa zuhause. Selbst das jüngste Formel-1-Team des US-Amerikaners Gene Haas, der ab 2016 in der Königsklasse antreten will, hat eine Basis in England.
Wie hat sich der Anteil europäischer Rennen so zurückentwickeln können? Einen Rückblick in Zehnjahreschritten finden Sie hier.

2005: Einige Sorgenkinder
Vor zehn Jahren gab es 19 WM-Läufe. Damals waren es jedoch zehn in Europa, fünf in Asien/Ozeanien, zwei in Nordamerika, einer in Südamerika und einer im Mittleren Osten. Gemessen an 2015 sind seit 2005 der San-Marino-GP in Imola verschwunden (damals eine gute Ausrede, um zwei Rennen auf italienischem Boden zu haben), der Europa-GP auf dem Nürburgring (eine gute Ausrede damals, um zwei Rennen auf deutschem Boden zu haben), der Indy-GP (heute fahren wir in Austin/Texas), der Türkei-GP ausserhalb von Istanbul. Bahrain gab es zwar schon, nicht aber Abu Dhabi. Damals ebenfalls noch im WM-Angebot: der Grosse Preis von Frankreich.

1995: Ganz anderes Bild
17 Rennen, die sich wiefolgt aufteilten: Gleich elf Rennen in Europa (also 64 Prozent der WM, Anteil 2015 noch 40 Prozent!), drei in Asien und Ozeanien, nur einen in Nordamerika, zwei in Südamerika und basta. Im Mittleren Osten wurde damals von einem Grand Prix nur geträumt, die Südamerika-Tournee bestand aus Brasilien und Argentinien, in Japan gab es gleich zwei Grands Prix (neben dem fabelhaften Suzuka der eher peinliche TI-Circuit in Aida), und in Australien wurde damals in Adelaide gefahren, nicht in Melbourne. Die Europäer freuten sich über einen WM-Lauf in Portugal, zusätzlich zu den genannten Rennen auf europäischem Boden oder jenen WM-Läufen, die auch im aktuellen Programm enthalten sind.

1985: Schon damals kein New-York-GP
Vor dreissig Jahren gab es 16 WM-Läufe. Mit elf von sechzehn Rennen lag der Anteil von Europa bei stattlichen 68,75 Prozent, ergänzt wurde die WM durch ein Rennen in Brasilien (damals in Rio), eines in Australien (erster Grand Prix des Landes im Rahmen der Formel-1-WM!), zwei in Nordamerika (Strassen-GP in Detroit sowie Montreal) und eines in Südafrika. Gemessen an 2015 hat sich der Anteil der Rennen in Nordamerika also gehalten, Asien/Ozeanien jedoch ist von 6,25% der Rennen auf 30 geschnellt! 1985 gab es noch einen Holland-GP, der Kurs in der Steiermark hiess noch Österreichring, und der Europa-GP fand in Brands Hatch statt – weil sich die Pläne für Strassen-GP in Rom und New York (!) zerschlagen hatten.

1975: Asien, wo bist du?
14 Rennen der WM, zehn davon in Europa (= 71,43 Prozent Anteil). Dazu zwei Rennen in Südamerika, eines in Südafrika und eines in den USA. Von einem Rennen in Asien ist noch nichts zu sehen: der erste Japan-GP kam erst ein Jahr später (mit dem dramatischen Finale von Fuji zwischen Niki Lauda und James Hunt).

1965: Nur zehn Rennen
Die Fans erhielten vor 50 Jahren eben mal die Hälfte der Rennen von 2015 serviert, also ganze zehn Grands Prix. Europa dominierte mit 70 Prozent, dazu gab es je einen Lauf in Südafrika, den USA und Mexiko.

1955: Der Witz namens Indy-GP
Das Indy 500 gehörte damals zum WM-Programm, aber kaum ein europäisches Team reiste nach Amerika. Das Rennen hiess auch nicht USA-GP. Im Grunde könnten wir die Veranstaltung aus Sicht der Formel 1 glatt ignorieren. Abgesehen vom Argentinien-GP fanden die restlichen fünf Grands Prix alle in Europa statt. Genau: eine Saison, nur sieben Läufe (wenn wir Indy nicht rechnen, sogar nur sechs). Noch wilder: Die WM begann zwar schon am 16. Januar in Buenos Aires, dann aber mussten sich die Rennfans bis zum 22. Mai gedulden, um in Monaco einen weiteren Lauf zu erleben. Mit dem Monza-GP am 11. September war die Herrlichkeit schon vorbei.

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