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Fahrbericht Aprilia RS660: Tiefes Vertrauen

Von Klaus Nennewitz
Mit der RS660 will Aprilia die sportliche Mittelklasse neu beleben, mit Entwicklungsschwerpunkt nicht auf Rundenzeiten, sondern auf entspannter Fahrbarkeit auf der Landstrasse. Das ist gelungen.

Weil auf 2021 auch bereits homologierte Motorräder Euro 5 erfüllen müssen, läuft die Produktion der Shiver- und Dorsoduro-900-Modelle aus, die beide mit dem 90° V2-Motor der Mutterfirma Piaggio ausgestattet sind. Dadurch hätte sich zwischen den 1100 ccm starken RSV4- und Tuono V4-Sportbikes und den 125er Viertaktmaschinen eine klaffende Lücke im Aprilia-Modellprogramm aufgetan. Die mittlere Hubraumklasse wird inzwischen von der Schwesterfirma Moto Guzzi mit den Bestsellern V7 und V85 bedient. Aprilia hat nachgezogen und die im November 2018 auf der Mailänder Motorradmesse vorgestellte Studie RS660 im italienischen Bassano der Presse vorgestellt.

Die Technik unter der innovativen Verkleidung lässt aufhorchen: der Zweizylinder-Reihenmotor mit 659 ccm wurde komplett neu entwickelt und wird, anders als alle anderen Motoren der Piaggio-Gruppe, im Aprilia Stammwerk in Scorzè produziert. Damit wird Aprilia zum ersten Mal in der Geschichte zum Motorenhersteller!

Entwicklungsziele fürs Lastenheft waren: hervorragende Fahrbarkeit und Handlichkeit dank dem niedrigsten Fahrzeuggewicht in der Klasse, Komfort sowie eine entspannte Sitzposition, breites nutzbares Drehzahlband mit viel Drehmoment, elektronische Fahrassistenten und ein eigenständiges Design mit Anleihen aus dem Rennsport.

Der Zweizylinder Paralleltwin mit 659 ccm übernimmt den vorderen Zylinderkopf der RSV4 und behält das Bohrungsmaß von 81 mm bei. Zur Hubraumerhöhung wurde der Hub von 52,3 mm auf 63,93 mm erhöht, das verspricht Drehmomentgewinn. Seine Höchstleistung von 100 PS erreicht der 13,5:1 verdichtete Twin bei 10.500/min, das maximale Drehmoment von 67 Nm liegt bei 8500/min an, bei 11.500/min setzt der Drehzahlbegrenzer ein.

Zur Reduzierung der Vibrationen kommt ein Hubzapfenversatz von 270° mit unregelmäßiger Zündfolge zum Einsatz, mit einer Ausgleichswelle vor dem Kurbelgehäuse sind die freien Massenkräfte erster und zweiter Ordnung eliminiert. Der Motor wird über zwei Drosselklappenkörper mit 48 mm Durchmesser sowie Einlassventilem mit 33 mm Durchmesser (Auslass 26 mm) gesteuert. Zur Reduzierung der Reibungskräfte zwischen Kolben und Zylindern wurde ein Offset der Zylinderachse um 7 mm zur Kurbelwelle umgesetzt. Geschaltet wird über ein Sechsganggetriebe mit Quickshifter und Antihopping-Kupplung.

Der Brückenrahmen aus Kokillengussteilen einer Aluminium-Silizium Legierung ist an drei Stellen mit dem Motor verschraubt, die gegossene Schwinge ist direkt im Motorgehäuse gelagert. Das in Federvorspannung und Zugstufe einstellbare Kayaba-Federbein stützt sich ohne Umlenkhebel direkt am Rahmen ab, vorne kommt eine 41 mm Kayaba Upside-Down-Gabel zum Einsatz, einstellbar in Federvorspannung und Zugstufe.

Die Reifengrößen sind mit 120/70-17 vorne und 180/55-17 hinten Standard, verzögert wird über eine Brembo-Bremsanlage mit radial verschraubten Bremszangen und Scheiben mit 320 mm Durchmesser vorne, hinten ist eine 210 mm große Bremsscheibe verbaut.

Die Underfloor-Auspuffanlage ist als einteilige Baugruppe mit einem Gesamtgewicht von 6,2 kg sehr leicht konstruiert, unterschiedliche Krümmerdurchmesser dienen dabei der Leistungsoptimierung.

Ein LED-Scheinwerfer mit integrierten Blinkern und Kurvenlicht leuchtet die Fahrbahn nach vorne aus. Neue Wege geht Aprilia bei der Karosserie mit einer doppelten Seitenverkleidung welche die heiße Abluft des Motors «absaugt», bevor diese an die Fahrerbeine gelangen kann.

Das TFT-Display ist aus der Moto Guzzi V85 bekannt. Großer Entwicklungsaufwand wurde in die Canbus-Fahrzeugelektronik gesteckt: Das neue Steuergerät 11 MP von Marelli mit einer Taktfrequenz von 200 MHz und Flash Memory von 4 MB ist die Basis für das neue Elektronikzeitalter der Piaggio-Gruppe. Beeindruckend auch die Anzahl der Pins: 144 anstatt wie zuvor 80! Selbstverständlich verfügt die Aprilia RS660 über elektronische Fahrassistenten wie Wheelie- und Traktionskontrolle, Kurven-ABS, Quickshifter und verschiedene Riding Modes (drei für die Straße, zwei für die Rennstrecke). Neu ist das dreifach einstellbare Motor-Bremsmoment.

Ab Ende Oktober 2020 sollen die ersten Maschinen in den drei Graphikversionen Lava Red und Apex Black (außergewöhnlich: jeweils mit rotem Vorderrad und schwarzem Hinterrad) sowie Acid Gold (mit zwei roten Rädern) ausgeliefert werden. Zubehörpakete für den Rennstreckeneinsatz und für Tourenfahrer sind erhältlich.

Das Ergonomie-Dreick Lenker-Sitzbank-Fußrasten liegt zwischen Supersport und Touring und passt für Fahrer mittlerer Statur gut. Der nicht einstellbare Kupplungshebel ist weit vom Lenker entfernt, die Betätigungskraft per Seilzug ist aber angenehm, auch der Ride-by-Wire-Gasgriff überzeugt mit guter Haptik.

Im kalten Zustand springt die Aprilia sofort an und überrascht mit einer dezenten mechanischen Geräuschkulisse, die sich auch bei gezogener Kupplung nicht großartig verändert. Die Fußrasten und -hebel sind optimal positioniert, der erste Gang rastet sauber ein und bereits ab rund 2000/min setzt sich die handliche Maschine unspektakulär in Bewegung.

Hochschalten geht besser als Runterschalten, besonders beim harten Anbremsen von Kehren mit Durchsortieren der Gänge nach unten fehlen klare Druckpunkte und eine genaue Rückmeldung vom Einrasten, die Leerlaufsuche im Stand ist schwierig.

Der Motor verfügt über ein sehr breites Drehzahlband und sorgt auch dank des niedrigen Maschinengewichts (183 kg fast vollgetankt) für Begeisterung auf der Landstraße. Ruckfrei zieht er auch beim plötzlichen Gasgeben unter 3000/min los, bei 8000/min legt der Paralleltwin noch einmal richtig nach und schießt die Sportmaschine zur nächsten Kurve.

Dort kommt man dann gelegentlich zu schnell an, aber die Bremsanlage ist hervorragend dosierbar und zusammen mit den Pirelli Rosso Corsa II lässt sich die Aprilia kinderleicht wieder auf angepasste Geschwindigkeit verzögern. Das ABS regelte bei einigen Testmaschinen etwas früh am Hinterrad, wohl eine Konsequenz der unterschiedlichen Fahrwerkseinstellungen bei den Testmaschinen.

Die Elastizität des 57 kg schweren Motors ist dermaßen frappierend, dass zwischen 70 und 140 km/h schaltfaul im dritten, vierten oder fünften Gang gefahren werden kann, je nach Gangwahl gibt es dann eine Geräuschkulisse von Racing bis Touring. Überhaupt der Sound: das tief gutturale Brummen, vor allem aus der Ansauganlage, erinnert an die RSV4 und vermittelt in Verbindung mit angenehmen Motorschwingungen ein intensives und lebhaftes Fahrerlebnis. Nur beim Gaswegnehmen kribbelt es bei rund 8000/min fein in den Fußrasten und am Tank.

Bei einstelligen Temperaturen während des Testrides über die Asiago-Hochebene konnten die Grenzen des Fahrwerks nicht komplett ausgelotet werden. Abrupte Beschleunigung am Kurvenausgang lässt aber schon erahnen, welche Reserven in diesem ausgewogenen Fahrwerk stecken, um den persönlichen Grenzbereich in aller Sicherheit zu verschieben.

Die RS660 vermittelt sofort ein tiefes Vertrauen und legt ihren Charakter in den ersten Kurven offen, so dass sie auch für Anfänger ganz einfach zu verstehen und zu fahren ist. Sie wedelt mit der ihrer Klasse und ihrem Gewicht angemessenen Leichtigkeit durch Kurven und Kurvenkombinationen aller Art und ermöglicht durch eine optimale Schwerpunktlage präzise Schräglagenwechsel. Ist die Kurvenlinie einmal angepeilt zieht der Motor, egal in welchem Gang, die Sportmaschine ohne störende Lastwechselreaktionen durch. Die Federelemente absorbieren dabei kleine wie große Unebenheiten perfekt und das Eigenlenkverhalten ist selbst auf ausgeprägten Längsrillen kaum wahrnehmbar.

Die dynamischen Eigenschaften der Aprilia RS660 folgen der untadeligen Tradition ihrer Vorgängermodelle aus Noale. Bei den getesteten Maschinen handelte es ich um Vorserienmodelle; an einigen Stellen besteht vor der Auslieferung der ersten Kundenmaschinen noch Verbesserungspotential im Finish.

Nicht gefallen hat die Verschraubung der Lenkerenden direkt in der gegossenen oberen Gabelbrücke ohne Einstellmöglichkeiten, außerdem wirkt der Hartplastik-Zündschlüssel billig und die Schaltereinheit am linken Lenkerende ist etwas klobig geraten.

Die dynamische Aprilia-DNA erschließt sich unspektakulär kurz vor Testende auf der Rückfahrt durch die Ebene südlich der Venetischen Alpen: Ohne große Last schnurrt der Motor bei 3000-5000/min vor sich hin wie eine Großkatze beim Verdauungsschlaf. Dabei fühlt es sich im Schubbetrieb für einen Moment so an, als pulsiere der gute alte 60°-V2 der RSV Mille zwischen den Knien: Wer diesen Motor ausgiebig genossen hat kann sich seiner Faszination kaum entziehen und wird auf der RS660 ähnliche Emotionen und genau die Werte erleben, die Aprilia einst groß gemacht haben!

Technische Daten

Motor: Flüssigkeitsgekühlter R2, DOHC, 4 Ventile, Bohrung x Hub 81 x 63,93 mm, 659 ccm, elektronische Motorsteuerung mit Benzineinspritzung und Zündung, Drosselklappen 48 mm. Mehscheiben-Ölbadkupplung, 6 Gänge, Kette. 100 PS bei 10.500/min, 67 Nm bei 8500/min.

Fahrwerk: Alu-Brückenrahmen. USD-Teleskopgabel 41 mm, Federvorspannung und Zugstufe einstellbar. Aluschwinge, Federbein direkt angelenkt, Federvorspannung und Zugstufe einstellbar, Federwege 120/130 mm. Vorne Doppelscheibenbremse 320 mm, Vierkolbenzangen, hinten Scheibenbremse 240 mm, Zweikolbenzange. Reifen vorne 120/70-17, hinten 180/55-17.

Elektronik: Sechsachsen- IMU, APRC inklusive ATC (Traktionskontrolle), AWC (Wheeliekontrolle), AEB (Motorbremskontrolle), AEM (Motormappings), Kurven-ABS, ACC (Tempomat).

Abmessungen: Sitzhöhe 820 mm, Gewicht 183 kg (gemäß EU-Norm mit allen Flüssigkeiten und 90 % Benzinvolumen, Tank 15 Liter.

Preise: 10.770 € (Deutschland), 12.250 € (Österreich), 11.900 CHF (Schweiz).

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