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Aus China: Die Motorrad-Konfektionäre der Neuzeit

Von Rolf Lüthi
Wer aus Prinzip «Made ich China» verschmäht, kann heute kein neues Motorrad mehr kaufen, an dem keine Teile chinesischer Produktion verbaut sind. Wir erklären am Beispiel der 125er, warum das so ist.

Es gab in der Motorradhistorie während zweier Dekaden neben den Herstellern so genannte Konfektionäre. Diese Kleinhersteller, Manufakturen oder Handwerksbetriebe bauten (oder konfektionierten) ihre Motorräder aus zugekauften Komponenten. Einen Boom erlebten diese Kleinkonfektionäre in den 1920er Jahren, als unzählige Kleinbetriebe mit eingekauften Motoren und weiteren Zutaten ihre Motorräder bauten. Im Motorradland Deutschland gab es nur schon mehr als 30 solcher Konfektionäre, die Motoren von Sachs verbauten. Neben Sachs belieferten neben anderen JAP, Villiers, Columbus, Bark, Moser, Küchen oder Ilo diese Konfektionäre mit ihren Motoren. Auch BMW begann als Motorenlieferant von Victoria.

Die Konfektionäre zeigten oft wenig Markentreue und verbauten Motoren wechselnder Hersteller. So verbaute die längst vergessene deutsche Marke Sieg, die von 1922 bis `30 existierte, in dieser Zeit Motoren von DKW, Cockerell, Ilo, Villiers, JAP, Blackburne, Columbus und MAG. Die Weltwirtschaftskrise, die dem New Yorker Börsencrash vom Herbst 1929 folgte, fegte die Kleinkonfektionäre fast restlos vom Markt.

Das Geschäftsmodell der Konfektionäre, dessen Vorteil der geringe Kapitalbedarf ist, erlebte in Deutschland eine zweite erfolgreiche Phase in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg. Die Industrieanlagen waren zerstört und erst im Aufbau, gleichzeitig bestand eine grosse Nachfrage nach möglichst preisgünstigen Transportmitteln. Nach der Währungsreform und der Aufhebung der Rohstoff-Rationierung 1948 begannen neben den grossen Marken BMW, NSU, DKW, Zündapp und Horex auch Kleinhersteller und Konfektionäre mit dem Bau kleinvolumiger Motorräder. Die Marken hiessen Ardie, Göricke, Mars, Meister, Tornax oder Miele. Insgesamt gab es zeitweise gegen 40 deutsche Hersteller.

Als die Wirtschaft boomte und sich der Mittelstand Kleinwagen leisten konnte, geriet die Zweiradbranche ab 1954 in eine Krise, die in Westdeutschland bis auf BMW alle Hersteller grossvolumiger Motorräder hinwegraffte. Etwas länger überleben konnten Hercules, Kreidler und Zündapp, die sich auf 50er und Mopeds spezialisierten, dazu Maico mit seinen Geländemaschinen.

Das Geschäftsmodell des Motorrad-Konfektionärs erlebt derzeit in veränderter Form seine Wiederbelebung in China. Längst haben wir zur Kenntnis genommen, dass China die Werkbank der Welt ist: im Zuge der Globalisierung und mit einer stufenweisen Reform der kommunistischen Wirtschaftsordnung wurde ein grosser Teil der industriellen Produktion von den westlichen Staaten nach China verlegt.

Das gilt auch für die kleine Welt der Motorradszene: Honda, Suzuki und Yamaha haben Produktionsstätten in China. BMW, KTM, MV Agusta, Harley-Davidson und Piaggio/Aprilia kooperieren mit chinesischen Herstellern und lassen Motoren oder komplette Motorräder in China bauen. Die italienische Traditionsmarke Benelli gehört dem chinesischen Hersteller QJ Motor, SWM ist im Besitz von Shineray. Wer aus Überzeugung niemals ein Motorrad aus China kaufen würde, dem sei gesagt: Heutzutage baut niemand mehr ein Motorrad ohne Teile aus China.

Aktuell erfahren wir beinahe im Tagesrhythmus vom Aufploppen neuer Marken und Modelle «Made in China». Teilweise expandieren chinesische Hersteller nach Europa, teilweise lassen europäische Konfektionäre ihre Motorräder nach ihren Vorgaben in China bauen und verkaufen sie dann in Europa.

Auf dieses Thema aufmerksam wurden wir bei einem Kaffee mit Andy Leuthe. Einigen Lesern wird der Süddeutsche noch bekannt sein aus seiner Zeit als Privatrennfahrer in der 500er Weltmeisterschaft in den 80er und 90er Jahren. Nach seiner Rennkarriere wechselte er in die Motorradindustrie, wo er seither als Berater und Importeur tätig und mit seiner Leuthe GmbH für den Vertrieb der Motorradmarke KL in der Schweiz und Deutschland zuständig ist.

Die ursprünglich italienische Marke KL gab es schon in den 80er Jahren. Unter diesem Namen wurden zu Enduros umgebaute Motocross-Maschinen der Marke Kawasaki vertrieben. Einer der damaligen Inhaber, der Italiener Cesare Galli, hat nun diese Marke wiederbelebt, um unter dem Label KL Roller und Motorräder zu verkaufen. Gebaut werden diese in China.

Derzeit gibt es im Segment der 125er Motorräder mit Viertaktmotor eine Fülle von Marken und Modellen, doch bis vor kurzem wurde in China nur ein Motor gefertigt, der Euro 5 erfüllte und das Leistungslimit von 15 PS ausnutzte: Der von Zongshen (Sitz in Chongqing, Zentralchina) in Lizenz gebaute Motor der Piaggio-Tochter Aprilia mit DOHC-Ventilsteuerung und Flüssigkeitskühlung, verbaut in Motorrädern von Mondial, Malaguti, Zündapp, Brixton und nun KL.

Weit verbreitet ist ebenfalls der Motor von Minarelli (Italien), verbaut in den Motorrädern von Yamaha, Fantic, Beta, Rieju und Vent. Dazu gibt es noch den 125er Motor, der auf der Konstruktion des südkoreanischen Herstellers Hyosung basiert und bei Jinan Dalong (im Hinterland von Shanghai) für die Marken Motron und Mash gebaut wird, der aber nur 12 PS leistet.

Nun kommen laufend neue Konstruktionen aus China hinzu, so der von Tayo (bei Macau) gebaute Motor von Beta und Zontes und die Marke Kove, deren Werk nur 40 km vom Zongshen-Hauptsitz in Chongqing entfernt ist und die nach Europa expandieren will.

Für Cesare Galli ist KL nicht die erste Zusammenarbeit mit chinesischen Herstellern. Mit seiner 2002 gegründeten Firma Pelpi International importierte er die taiwanesischen Roller und Quads der Marken Aeon und Oveer, bevor er die italienische Traditionsmarke F. B. Mondial reaktivierte. F. B. steht für Fratelli Boselli, Gebrüder Boselli. Galli einigte sich mit Pierluigi Boselli, einem Nachfahren der adligen Boselli-Familie und Eigner der Marke Mondial, und wurde exklusiver Lizenznehmer der Marke. Damit hatte sich Galli einen traditionsreichen Markennamen gesichert, aber noch keine Motorräder. Als Galli einen Designer für Mondial suchte, stellte Andy Leuthe den Kontakt zu Alessandro Tartarini her.

Tartarini (57) ist der Sohn von Leopoldo Tartarini, einst Ducati-Werksfahrer, Gründer von Italjet und Designer der Ducati-Ikonen 750 Sport und 750 SS. Alessandro Tartarini wanderte 2010 nach China aus und gründete dort 2014 die Firma Velocifero, welche in Taizhou City (südlich von Shanghai am ostchinesischen Meer) hauptsächlich Elektro-Tretroller baut, dazu Elektromotorräder für Kinder und Erwachsene, ebenso Roller mit Elektro- und Benzinmotoren; insgesamt eine Jahresproduktion von 100'000 Stück. Das zweite Velocifero-Geschäftsfeld ist das Design von Motorrädern und Scootern für Drittfirmen. Heute beschäftigt Velocifero 200 Leute.

In dieser Funktion designte Tartarini für Galli die Motorräder der wiederbelebten Marke F. B. Mondial. In China kostete die Erstellung eines produktionsfertigen Designs inklusive der Formen eine mittlere sechsstellige Zahl (in Euro), in Europa wäre gleiches etwa doppelt so teuer gewesen. Technische Basis der 125er Modelle ist der Motor und das Chassis von Piaggio/Aprilia, das von Zongshen gebaut wird. Markteinführung in Deutschland war Ende 2016, den Vertrieb in Deutschland wickelt die MSA GmbH ab, die über ein Netz von 550 Händlern verfügt und auch die asiatischen Motorrad- und Rollermarken Kymco, Hyosung und Voge vertreibt.

Als Galli die Marke KL 2021 zurückkaufen konnte, war das Mondial-Projekt längst angelaufen. Galli entschied sich, unter dem Markennamen KL weitere Motorräder zu konfektionieren. Naheliegend, dass wiederum Alessandro Tartarini mit seiner Firma Velocifero das Design entwickelte und dass die technische Basis der F. B. Mondial SMX 125i (oder eben die bei Zongshen in Lizenz gebaute Motoren-Chassis-Einheit von Piaggio/Aprilia) unverändert übernommen wurde.

Das tönt nun so, als dass man vom europäischen Schreibtisch aus in China Motorräder bestellen könnte, doch dem ist nicht so. Die Auspuffanlage der Mondial SMX, die auch an die KL angebaut wird, hat Pelpi in Italien entwickelt, wo auch die EU-Homologation abgewickelt wurde. Gallis Firma Pelpi International ist in China mit 15 Angestellten präsent, davon zwei Italiener, die mit dem Mutterhaus in Arosio/Italien praktisch täglich mit Videokonferenzen in Kontakt stehen. Dieses Pelpi-Team in China kauft bei chinesischen Zulieferern weitere Komponenten wie Gabeln, Federbeine, Räder, Bremsen oder Kabelbäume ein und ist besorgt, dass diese rechtzeitig für die Montage im Zongshen-Werk in Foshan (bei Hongkong) angeliefert werden.

Die Qualität der Komponenten muss mit Eingangskontrollen sichergestellt werden, die Pelpi-Mitarbeiter direkt bei Zongshen durchführen. Zongshen selber ist Iso-zertifiziert (erfüllt also internationale Industriestandards) und baut auch die Aprilia RX 125 und SX 125 für den europäischen Markt; die Modelle, auf denen die KL KXE 125 basiert. Wie die Zulieferer verlangt auch Zongshen eine Vorfinanzierung, und der Preis für Komponenten und Produktion hängt stark von der georderten Stückzahl ab.

Dann geht es plötzlich recht schnell: Die Produktion dauert etwa sechs Wochen, der Schiffstransport nochmals sechs Wochen. Nach drei Monaten kommt ein voller Container mit 25 Motorrädern in Genua an. Im Falle der Marke KL werden die Motorräder verzollt, bei Pelpi in Arosio eingelagert und dann den deutschen Händlern zugestellt. Die für die Schweiz bestimmten Motorräder werden (korrekte Dokumente und Zertifikate vorausgesetzt) zollfrei in die Schweiz eingeführt und von einem Zwischenlager an die Händler weitergeliefert, denn die Schweiz und China haben ein Freihandelsabkommen und erheben gegenseitig keine Zölle.

Cesare Galli startete seine Geschäftstätigkeit in Fernost vor 25 Jahren mit dem Import der taiwanesischen Quadmarke Aeon. Nach unzähligen Besuchen bei fernöstlichen Herstellern und dem Aufbau einer Niederlassung in China funktioniert die Geschäftstätigkeit praktisch reibungslos. Jene, die Schiffbruch erlitten, wollten oftmals nur schnelles Geld verdienen, bauten sich kein Kontaktnetz auf und waren vor Ort nicht präsent.

Die etablierten Marken verlangen hierzulande von ihren Händler repräsentative Bauten und ein markenkonformes Erscheinungsbild, neudeutsch Corporate Identity. Die China-Konfektionäre sind da viel weniger restriktiv, verlangen oftmals auch keine Übernahme von Mindeststückzahlen und bieten darum kleineren Händlern eine Existenz. Vor diesem Hintergrund macht es auch Sinn, die bestehende Mondial SMX 125 mit einem anderen Dekor neu einzufärben und versehen mit Vorderkotflügel und Lampenmaske, gefertigt bei Acerbis in Italien, auf den Markt zu bringen. Kostengünstig konnte Pelpi so mit einer weiteren Marke ein zusätzliches Standbein schaffen, das nun mit weiteren Modellen ausgebaut wird.

Die Firma Pelpi vertritt in Europa die taiwanesische Quadmarke Aeon. In China lässt Pelpi die Roller und Motorräder der Marken Mondial und KL bauen und kommt so ohne eigene Produktionsanlagen auf eine Jahresproduktion von 10'000 Stück, wobei die Roller und das 125er Naked-Bike, mit denen das Sortiment erweitert wurde, nicht von Zongshen, sondern von Ningbo Longjia Motorcycle (südlich von Shanghai) gebaut werden.

Mit seinem sicheren Gespür und Kenntnissen in asiatischen Märkten sicherte sich Pelpi-CEO Galli kürzlich Import und Vertrieb der chinesischen Marke Kove. Eine Marke, die man sich merken sollte: Kove trat mit einem selbst gebauten Rallyemotorrad und drei unbekannten Fahrern an der Dakar-Rally 2023 an – und erreichte bei der ersten Dakar-Teilnahme mit allen drei Fahrern das Ziel. Das hört sich alles komplett verrückt und chaotisch an – und ist es wohl auch, und trotzdem ist das noch längst nicht die ganze Geschichte, denn in Indien beginnen Konfektionäre, den chinesischen Herstellern Konkurrenz zu machen.

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