KTM: Im Werk gingen die Lichter aus

Indien: Neues Kurs-Erlebnis

Kolumne von Peter Hesseler
Virgin-Pilot D’Ambrosio crashte später gründlich

Virgin-Pilot D’Ambrosio crashte später gründlich

Überwiegend Pluspunkte für den Kurs südlich von Delhi, wie der SPEEDWEEK-Reporter live an der Strecke erfährt.

Wenn die Formel 1 neue Wege geht, muss SPEEDWEEK dabei sein. Sonst natürlich auch, aber dieses Mal etwas näher. Deshalb haben wir uns am Freitagmorgen auf den Weg gemacht ins indische Nirwana. Das heisst: die ausgetrocknete lehmige Prärie rund um die Strecke herum.

Zugegeben, auf den Tribünen war noch Platz, aber es war ein Erlebnis zu sehen, wie sich die Fahrer an das Neuland herantasten. Die meisten hatten nur vage Informationen zur üblichen Play-Station- und/oder Simulator-Vorbereitung. Ich postierte mich zunächst zwischen Kurve 10 und 11, einer zusammenhängenden, ziemlich gemeinen Doppelkurve mit mindestens zwei Scheiteln – zu nehmen mit rund 200 km/h. Der erste Teil ist überhöht, der zweite dagegen flach, bevor die Biegung in eine Senke plumpst. Das müssen – für die Fahrer – Achterbahngefühle vom Feinsten sein.

Man fühlte sich dort sofort an Kurve 8 von Istanbul erinnert. Die ist allerdings noch schneller und überdies mit Magen-senkenden und Blutdruck-steigernden Buckeln durchsetzt.

Kurz nach Elf röhren aus der Ferne die ersten Boliden heran: Sutil, Chandhok, Karthikeyan, Di Resta – allesamt mit indischem Bezug, sei es qua Team-Zugehörigkeit (Force India) oder der entsprechenden (indischen) Nationalität. Verhaltener Applaus ertönt von den Sitzen hinter mir. Aber wie gesagt: Das sah noch mehr als Schulausflug aus als nach Grand-Prix-Kulisse.

Mercedes-Pilot Nico Rosberg hatte am Vortag versprochen: «Innerhalb von zehn Runden muss man die Strecke gelernt haben.»

Tatsächlich suchten die Fahrer das Limit von der zweiten Runde an. Auffallend ist sofort, mit welcher Aggressivität Michael Schumacher im Mercedes zu Werke geht. Der 42-Jährige ist einfach immer noch ein gieriger Rennfahrer. Selbst Lewis Hamilton scheint sich im Vergleich mit dem Altmeister anfangs vorsichtig über den neuen Asphalt heranzutasten.

Das hat auch damit zu tun, dass der Teer noch erkennbar mit Staub belastet ist. Nicht Feinstaub, wie die flimmernde, dunstige Glocke über Neu-Delhi, sondern ein dicker, sandiger Film. Normalerweise würden die Topfahrer unter solchen Bedingungen warten, bis die Hinterbänkler den Staubsauger gespielt haben, um dann auf dem frischen Teppich selbst an Haftung und Vertrauen und Tempo zu gewinnen.

Aber hier müssen alle sofort und solange wie möglich raus auf die Bahn, denn jede Runde hilft beim Kennenlernen und beim Fahrzeugabstimmen.

Der zweite Eindruck ist akkustischer Natur: Die mit Renault-Motoren bestückten Lotus von Chandhok und Trulli klingen beim Gaswegnehmen wie das reinste «Kettensägen-Massaker», nur dass die erschreckenden Töne offenbar im mechanischen Inneren der Grünen kein Unheil anrichten. Seltsamerweise verursachen die Schleppgeräusche der gleichen Aggregate in den Red-Bull-Racing-Autos nicht annähernd solche Ohrenschmerzen. Und alarmierend kann das auch nicht sein, denn Vettel hat mit der Maschine dieses Typs in der laufenden Saison schon zehn Rennen gewonnen.

Dennoch: Verglichen mit dem Knattern der Renault-Achtzylinder, verbreitet der Mercedes-V8 einen wohligen, aber satten und eher der Formel 1 angemessenen Sound. Das Aggregat scheint – mit Stuttgarter Sparsamkeit gebaut und Charakter ausgestattet – jeden Hauch seiner Leistungsfähigkeit bei sich zu behalten, auf die Kurbelwelle zu befördern und in Geräusch und Vortriebskraft umzusetzen. Der Benz klingt einfach höher verdichtet, aber wir wissen: Die verschiedenen Auspuff-Konfigurationen können auch die unterschiedlichste Musik machen.

Andererseits weist Schumi am Ende des ersten Messpunkts mit 260 km/h Spitze den absoluten Spitzenwert dieses Vormittags auf…

Dann ist plötzlich merkwürdige Ruhe. Und noch während ich mich frage, wieso sich Vettel am Horizont auf einmal so langsam nähert, hoppelt auch schon die Ursache ins Blickfeld. Ein nervöser Vierbeiner, im üblichen Braun-Grau der vereinsamten Strassenköter gehalten, die nur gelegentlich einen Bissen ergattern (und noch seltener eine pflegende Hand), der den Ausgang aus dieser Arena sucht.

Als es wieder losgeht, versuche ich festzustellen, wie die Fahrer diese Passage angehen, lernen und sich darin verbessern. Aber das alles geht viel zu schnell. Kaum ist das Hundeleben gerettet (ich frage mich leicht amüsiert, ob Corinna Schumacher wieder im Madonna-Tempo zur üblichen Adoption herbeigeeilt ist), sehe ich nur noch Halbstarke am Limit vorbeifliegen. Selbst mein eher fernseh-geschultes Auge stellt fest, wie gut die Toro-Rosso-Ferrari in dieser fahrerisch und aerodynamisch anspruchsvollen Passage am Asphalt kleben, wie die Funken sprühen, wenn die Piloten die Kurve zu weit innen über dem Randstein anfahren (wobei sich offenbar jeweils abgeraspelte Späne von den unteren Seitenkästen in fliegende Funken verwandeln).

Der als Stilist bekannte Nico Rosberg vermeidet es strikt, seine schicke GP-Klasse auf diesem rabiaten Untergrund anzufeilen, Jenson Button auch, aber auch Lewis Hamilton, der nicht gerade für schonende Fahrweise berüchtigt ist.

Doch wo gehobelt wird, fallen automatisch Späne. Und das zeigt sich an dieser Stelle eben auch, wenn die Fahrer zu weit nach aussen getragen werden, denn dort ist der Randstein ebenso gerippt. Und das wirft die Frage auf, ob die Piloten, die zu wenig Rücksicht auf ihren Untersatz nehmen, nicht nach dem Rennen mit Untergewicht im Parc Fermé einrollen werden – und mit noch stärker «eingezogenen» Kühlschächten?

Ein Fotograf weist mich darauf hin, dass der Ausgang aus diesem Schnörkel sich wie ein Strick um die Kehle der Kurve legt und dort hinten, wo er jetzt hinzeigt, die Auslaufzone sich bedrohlich verengt. Das ist selbst für abgeklärtere Reporter ein gefundenes Fressen, denn reflexartig wird klar: Da hinten, wo es am nahenden Beton-Mäuerchen bei 200 Sachen durchaus böse enden kann, scheiden sich die Männer von den Männlein. Also nichts wie hin. Man steht dann da und denkt: Wenn hier einer aus dem Endrohr dieser Parabolika wie eine Kanonenkugel abfliegt, musst du dich wie ein Stein auf den Bauch fallen lassen, um nicht von Schrapnellteilen getroffen zu werden.

Es kommt aber keiner. Nur Alonso, der unten in der Senke ausrollt und den Ferrari wie einen ausgedienten Gebrauchtwagen neben der Bahn stehen lässt.

Erst später, im zweiten Durchgang, sehe ich D’Ambrosio dort in Nöte geraten, wo ich sie erwartet hatte. Aber der Belgier scheint alle Grundregeln (Kuppeln, Bremsen) kurz zu vergessen und prallt im Virgin nach dem Untersteuern – innen, gegenüber meines Standortes – heftig an die Bande. Also doch eher Männlein…

Ich schreite weiter zur Boxeneinfahrt an Kurve 16. Hier bahnt sich Aufregung an, denn die Abbiegespur zur Boxengasse liegt teils auf der Ideallinie. Das könnte noch zu wunderschönen Auffahrunfällen führen …, und dann sehe ich die Boxenausfahrt und höre: «Hier wird es auch krachen.» Und denke: Hier ist so viel Platz, warum ging das nicht ein bisschen besser? Also Knoten ins Ohr: später Hermann Tilke fragen …, er wird sich ja etwas dabei gedacht haben.

Das treibt mich aber nicht hierher: Vielmehr hindert mich hier keine Ordnungskraft, meine neugierige Rübe durch ein Zaunloch vom Format eines Fussballtors innen weit in den Kurvenscheitel zu stecken und Schumi & Co genau auf die Finger zu schauen.

Das tut zwar weh in den Ohren, ist aber ein Festmahl für die Augen. Die Fahrer lassen sich allesamt mehr oder weniger mit angestelltem Auto durch die serpentinenartig bergauf führende Kurve treiben, bis das Auto einigermassen in Fahrtrichtung steht – und steigen dann so früh es geht aufs Gas. Ich vermag die zur Schau gestellten Aggressions-Grade an diesem Streckenpunkt aber nicht mit dem Tempo abzugleichen, stelle nur fest: Die Kerle in den Top-Autos wirken hier bei vielleicht 80 km/h alle gierig und gehörig schnell.

Der Renault, auf langsamen Strecken eine echte Möhre, fällt allerdings gegenüber den Autos der grossen Teams erkennbar ab. Kann die mangelhafte Anströmung des Diffusors sich derart gravierend auswirken?

Positiv überrascht bin ich hier vom Cosworth-Motor, dessen zickiges Ansprechverhalten Barrichello im Williams mit einem feinen Gasfuss kompensiert.

Die Stelle ist jedenfalls, wie viele in Indien, schwierig und scheint Spass zu machen, wie die Serpentine von Estoril. Aber das war in einem anderen Formel-1-Zeitalter…

Generell scheint sich der Architekt Tilke an diesem Kurs mit Freude abgearbeitet zu haben, denn die offenbar künstlich erzeugten Höhenunterschiede lassen zu keiner Zeit Langeweile aufkommen. Das hier ist nicht gerade die Schweiz, aber hügelig wie der Istanbul Park, es gibt langsame und schnelle Kurven, hängende und überhängende, Lastenwechsel in abschüssigem Terrain, eine blind angefahrene Kurve und eine Mega-Gerade von 1,2 Kilometern.

Als die Motoren verstummt sind, erinnere ich mich an den Vortag, an das Gespräch mit Rosberg und meine Frage, woran er sich beim Bremsen auf der Strecke – im Auto liegend – eigentlich orientiert: Er überlegt, sagt dann: «Ooch, an Schatten oder Anzeigetafeln.»

Ich schaue mich um. Schatten und Anzeigetafeln? Fehlanzeige.

Am ersten Tag hat der gute Nico fünf Sekunden Rückstand auf die Spitze. Vielleicht muss man sich als Fahrer aus dem Okzident in Indien neu orientieren.

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