Sagenhafte Formel-1-WM
Hat gut lachen: WM-Leader Lewis Hamilton
Man muss lange zurückdenken, um sich ein derart kurioses Rennen ins Gedächtnis zu rufen wie den China-GP. Vielleicht den von Kanada 2008, als sich in Montreal der Asphalt auflöste ...
Doch auf diese Art und Weise war das Rennen von Shanghai vermutlich ein einzigartiger Wettbewerb. Die Leistungsdichte ist hoch wie nie. Gold- und Schrottmedaillen liegen quasi auf demselben Teller. Nun haben wir schon drei verschiedene Sieger. Nur der Weltmeister, Sebastian Vettel, gewinnt nicht mehr.
Er war einer von drei Fahrern, die begannen, sich über Rang 2 zu freuen, als die Reifen sich verabschiedeten.
Pirelli hat diesen Kampf mit Walzen angeheizt, die immer schwieriger voraus zu berechnen sind. Und die dank Autos, die sich per Reglement einander immer weiter angenähert haben, kuriose Ergebnisse produzieren.
So ging Reifenflüsterer Pérez, als Geheimfavorit gehandelt, im Sauber unerwartet ein. Die Schweizer haben ein nachweislich schnelles Auto, hatten historisch gute Startplätze und kommen mit einem Punkt ins Ziel. Bei Kimi Räikkönen vergaloppierte sich Lotus mit der Taktik gleich um zehn Runden, die den Finnen am Ende mit ruinierten Gummis vom rettenden Ufer trennten. Gleichzeitig fährt Grosjean im gleichen Auto mit zwei Stopps relativ problemlos durch und wird Sechster.
Noch nie war so viel von den Temperaturen und dem Arbeitsfenster der Reifen die Rede. In acht Tagen wird der GP in Bahrain, bei etwa 35 Grad, diesbezüglich neue Anforderungen mit sich bringen. Denn bei Hitze ist 2012 noch niemand über die Distanz gegangen.
Einige Trends lassen sich feststellen: Button hat seine Stärke teamintern demonstriert, indem er sich abermals vor Hamilton platzierte.
Hamilton konsolidiert sich gleichzeitig mit einer Serie von dritten Plätzen – und führt plötzlich die WM an. Konstanz zahlt sich immer aus.
Vettel lernt den Umgang mit Niederlagen, lag in der Qualifikation schon dreimal hinter Teampartner Webber, nun im Rennen auch. Und sagt: «Fünfter ist gar nicht so übel.» Recht hat er.
Rosberg hat den positiven Senioren-Trend, den Schumi im Begriff war zu setzen, nachhaltig gestoppt. Er hat den ersten Silberpfeil-Sieg der Neuzeit (seit 1955) eingefahren, nicht der Kerpener. Das wird Kekes Sohnemann nie mehr zu nehmen sein. Und ist ein Lohn für Nicos Beharrlichkeit und seine Geduld mit dem Team. Seine Rechnung, eben genau dieses Verdienst an sich zu heften, ist aufgegangen. Das ist, neben einer sportlichen Leistung, auch ein unschätzbarer Erfolg für die Marke Nico Rosberg.
Was für eine Duftmarke: Erst zwei Rennen lang kein Punkt, dann 25 auf einen Schlag.
Niki Lauda sprach nachher angesichts von Schumis Ausfall vom möglichen Doppelsieg, der Mercedes entgangen sei: Pardon, das ist bei aller Wertschätzung zu hoch gegriffen. Rosberg fuhr schon in einer eigenen Liga, als der siebenmalige Weltmeister noch im Feld war.
Auffallend stark machen sich die Williams, neuerdings mit Renault V8 befeuert. Senna holt mit Rang 7 ein zweites Topresultat in Folge (nach Platz 6 in Sepang). Das hatten ihm nur wenige zugetraut (auch SPEEDWEEK nicht). Bemerkenswert dabei ist, dass er noch besser dastehen könnte, wenn er nicht drei frühe Kollisionen auf dem Konto hätte. Will heissen: Wenn Senna lernt sauberer durchzukommen, ist mit Williams im gesicherten Mittelfeld zu rechnen.
Insgesamt hätte der Formel 1 nichts Besseres passieren können als dieses Rennen und dieser WM-Auftakt als solcher. Denn nun weiss niemand mehr, auf wen er in Bahrain wetten soll. Mit einer Ausnahme: nicht auf Ferrari, denn Alonsos Bravourstück von Malaysia wird sich in der Wüste nur wiederholen lassen, wenn sie künstlich bewässert wird. So weit sind wir noch nicht.