Hans-Georg Anscheidt: Eine Legende wird 88
Hans Georg-Anscheidt wurde am 23. Dezember 1935 in Königsberg/Preußen (heute Kaliningrad) geboren. Seine Zweiradkarriere begann 1955. Seine ersten großen Erfolge errang er zu Beginn der 1960er-Jahre als Kreidler-Werksfahrer, wobei er nicht nur im Straßenrennsport glänzte, sondern auch bei den Geländesport-Wettbewerben seinen Mann stand. «Ich habe für Kreidler 1960 in Österreich und 1961 in England die Internationale Gelände-Sechstagefahrt gewonnen, also die Six Days», erinnert er sich.
Ebenfalls auf Kreidler gewann Anscheidt 1961 die 50-ccm-Europameisterschaft und 1962 in Montjuïc (Spanien) den ersten offiziellen WM-Lauf der Schnapsglasklasse. Seinen zweiten WM-Sieg holte er in Monza beim Großen Preis der Nationen. Er beendete die Saison auf dem zweiten Gesamtrang und bestätigte dieses Ergebnis 1963 mit drei weiteren Siegen. 1964 war er Dritter und holte einen weiteren Sieg, bevor er 1965 auf Suzuki wechselte.
Anscheidt setzte in der 50-ccm-Weltmeisterschaft die Suzuki RK66 mit Zweizylinder-Zweitakt-Motor und 14 Gängen ein. Sie leistet 17,5 PS, war mit zwei 22-mm-Mikuni-Vergasern ausgestattet, wog 58 kg und schaffte 176 km/h.
1966, 1967 und 1968 holte Anscheidt auf Suzuki drei WM-Titel in Folge – in den ersten zwei Jahren als Suzuki-Werksfahrer, 1968 jedoch als Privatfahrer. Der letzte WM-Sieg gelang ihm 1968 beim Großen Preis von Deutschland auf dem Nürburgring, am Ende der Saison trat der dreifache Weltmeister und neunfache Deutsche Meister zurück. Insgesamt feierte er 14 GP-Siege.
Seit 2023 offiziell eine MotoGP-Legende
In diesem Jahr wurde Anscheidt noch eine besondere Ehre zuteil: Die Dorna nahm ihn am Rande des Sachsenring-GP als Legende in die virtuelle «Hall of Fame» der Motorrad-WM auf.
Der rüstige Hans-Georg Anscheidt galt als Herrenfahrer und vortrefflicher Zweitakt-Techniker und Tüftler. Wegen seiner überschaubaren Körpergröße von 166 Zentimetern war er für die kleinen Klassen prädestiniert, vor allem für die 50-ccm-Klasse, die in der Weltmeisterschaft 1962 erstmals auf dem Programm stand. «Ich war damals als Kreidler-Werksfahrer der erste Rennfahrer, der einen 50-ccm-WM-Lauf in Montjuïc gewann. Dieser anspruchsvolle Straßenkurs gefiel mit besonders; ich habe dort vier oder fünf WM-Läufe gewonnen. Ich bin auch viermal auf der Insel Man gefahren.»
Den Sachsenring-GP in der DDR bestritt Anscheidt nie, weil zu seiner Zeit keine 50er-Klasse ausgetragen wurde. «1968 sollte ich in Sachsenring die Neckermann-MZ fahren. Aber sie hat im Training nach einer halben Runde zu bocken und zu knallen begonnen und dann gestreikt. Deshalb habe ich am Rennen nicht teilgenommen.»
Freigabe von Kreidler, dann zu Suzuki
«Kreidler gewann nie einen WM-Titel und hatte Mitte der 1960er-Jahre keine Lust mehr zum Weitermachen», schilderte der jetzt in Bayern lebende Champion. «Kreidler stand gegen die neuen japanischen Giganten wie Honda und Suzuki auf verlorenem Posten. Bei einem Rennen in Belgien drückte mir dann ein Bote aus Japan ganz heimlich eine Nachricht in die Hand, ich solle mich bei Suzuki melden. Bis dahin hatte ich Herrn Kreidler in sechs Jahren nur einmal getroffen, denn er lebte in der Schweiz und kam nur selten zu nächtlicher Stunde mal ins Werk in Kornwestheim bei Stuttgart. Ich sagte ihm, dass mich Suzuki beim WM-Finale 1965 in Suzuka/Japan mit der 50er einsetzen möchte; er hat mir die Freigabe erteilt.»
Bei Suzuki wurde der Deutsche nur «Hansgen» genannt, die Japaner trauten ihm in erster Linie Erfolge auf der 50-ccm-Zweizylinder-Maschine zu; Anscheidt gewann in souveräner Manier 1966 und 1967 zweimal die 50-ccm-Weltmeisterschaft.
«Die japanischen Hersteller zogen sich nach 1967 wegen des rigorosen neuen Technik-Reglements aus der WM zurück. Aber Suzuki überließ mir eine 50-ccm-Zweizylinder-Werksmaschine von Katayama. Später habe ich dann quasi als Belohnung auch zwei Suzuki 125 für die Deutsche Meisterschaft erhalten. Das war außergewöhnlich, denn üblicherweise wurden alle Werksmaschinen nach der Saison verschrottet.»
Honda versenkte die Werksbikes sogar vor Amsterdam zu Dutzenden im Meer, um sich den kostspieligen Rücktransport nach Japan zu ersparen.
Übrigens: Mit einer weiteren Suzuki aus dem Anscheidt-Fundus siegte dann noch Dieter Braun 1970 in der Achtelliter-WM.
Der SPEEDWEEK.com-Berichterstatter bewunderte Anscheidt bereits am 1. Mai 1968 beim Autobahnrennen in Salzburg auf der 125er-Suzuki. «Ja, da bin ich gestürzt, mein Motorrad hat Feuer gefangen, weil es mit dem Tank zuerst in den Strohballen eingeschlagen hat», erinnert sich Hans-Georg bis heute an diesen spektakulären Unfall.
Ein Geheimnis, das Hans-Georg Anscheidt schon vor 20 Jahren mit dem Berichterstatter teilte, als er noch ein Haus in Oliva an der spanischen Costa Blanca bewohnte: Suzuki konstruierte gegen die starke Honda-Viertakt-Konkurrenz sogar eine 50-ccm-Dreizylinder!
«Der Motor leistete 20 PS. Aber das Leistungsband reichte nur von 19.500 bis 20.000/min. Wir hätten also ein neues Getriebe mit mehr als den 14 Gängen gebraucht, die uns beim 50er-Twin und beim 125er-Twin zur Verfügung standen. Ich habe diesen Prototyp in Japan acht Tage lang getestet, die Entwicklung wurde aber nachher nicht mehr weiter betrieben.»
Wer waren die härtesten Gegner von Anscheidt? «Da muss ich zuerst den Schweizer Luigi Taveri auf der Honda nennen, dann meinen Suzuki-Teamkollegen Hugh Anderson und den Japaner Joshimi Katayama, gegen den ich bei Suzuki in der 50er-WM gekämpft habe.»
Da die Slickreifen erst Mitte der 1970er-Jahre in die WM kamen, war der Begriff Reifenwahl zu Anscheidts Zeiten ein Fremdwort. «Wir hatten dieselben Profilreifen für trockene und nasse Fahrbahn sowie für gemischte Verhältnisse. Ein Sliden oder Rutschen kannten wir nicht. Entweder hielt der Reifen – oder du bist gestürzt.»
Die Bilanz von Hans-Georg Anscheidt
• 1961: 50-ccm-Europameister auf Kreidler
• 1962: 50-ccm-Vizeweltmeister auf Kreidler
• 1963: 50-ccm-Vizeweltmeister auf Kreidler
• 1964: 50-ccm-WM-Dritter auf Kreidler
• 1966: 50-ccm-Weltmeister auf Suzuki
• 1967: 50-ccm-Weltmeister auf Suzuki
• 1968: 50-ccm-Weltmeister auf Suzuki
• 14 Grand Prix-Siege
• Deutscher 50-ccm-Meister: 1962, 1963, 1964, 1965, 1966, 1967, 1968
• Deutscher 125-ccm-Meister: 1966 und 1967