Pecco Bagnaia: Frust, Fernández und Fettnäpfchen

Kolumne von Günther Wiesinger
Ducati-Star Pecco Bagnaia könnte in der WM haushoch überlegen führen. Aber die drei Rennstürze in fünf Grand Prix setzen ihm zu. Der Frust führte zu einem entgleisten Interview.

Francesco «Pecco» Bagnaia war nach dem GP de France sichtlich zerknirscht, denn er kollidierte im Rennen am Sonntag mit Maverick Viñales, stürzte und blieb zum dritten Mal in diesem Jahr bei einem Volldistanz-Rennen punktelos. Schon am Samstag im Sprint hatte er gegen die Titelkonkurrenten Jorge Martin und Brad Binder den Kürzeren gezogen. Im Jerez-Sprint ebenfalls gegen Binder.

Im Frust nach dem Frankreich-GP wurde der Weltmeister gefragt, was er zu den vielen Stürzen und Verletzten in der MotoGP-WM 2023 sage. Er meinte, die 22 Stammfahrer hätten viel ebenbürtigeres Material als früher die «Glorreichen Vier», damit meinte er wohl Rossi, Lorenzo, Stoner und Pedrosa.

Dann ließ der Lenovo-Ducati-Star, der in diesem Jahr 44 seiner 94 Punkte bei den Sprints kassiert hat und nur zweimal am Sonntag (jeweils als Sieger in Portimão und Texas) ins Ziel kam, zwischen den Zeilen noch eine unbedachte Äußerung gegen die Fahrer aus den Kundenteams vom Stapel. Bagnaia meinte, man solle eventuell Fahrer wie Augusto Fernández auf der GASGAS einbremsen, der in Le Mans großartiger Vierter wurde. Das erweckte den Eindruck, als  würde er für die Kundenteams weniger schlagkräftiges Material fordern.

Dass GASGAS-Tech3-Teambesitzer Hervé Poncharal mit dieser Aussage wenig Freude hatte, ist nachvollziehbar. «Das ist Bullshit», entfuhr es dem sonst so souveränen 66-jährigen Franzosen im ersten Ärger.

Bagnaia rechtfertigte sich ein paar Tage später mit dem Hinweis, seine Zitate seien aus dem Zusammenhang gerissen worden.

GASGAS-Teamchef Hervé Poncharal, nebenbei seit 20 Jahren auch Präsident der Teamvereinigung IRTA, ist seit 2001 mit einem Team in der «premier class» dabei und froh, dass er von der Pierer Mobility AG Material und Fahrer bekommt, die an der Spitze mitmischen können. Nicht zu vergessen: Red Bull KTM-Tech3-Pilot Dani Holgado führt gegenwärtig in der Moto3-WM.

Inzwischen will Poncharal kein Öl mehr ins Feuer giessen. Er zieht es vor, sich zu den Aussagen von Bagnaia nicht mehr zu äussern.

Dass er sie für Unsinn hält, ist nachvollziehbar.

Aber Bagnaia gilt in Italien als unantastbar, ihm gehört die Zukunft, die Berichterstatter liegen ihm zu Füssen – und sie sprangen ihm nach diesem kleinen Fauxpas sofort helfend zur Seite.

So war zu lesen, die Fans wollten einen «Kampf der Giganten» und keine Nobodys wie Augusto Fernández an der Spitze sehen. Niemand sei am namenlosen Rookie Fernández interessiert.

Haben also gewisse GP-Reporter die reine Wahrheit gepachtet? Sind sie allwissend? Woher nehmen sie diese Weisheiten? Können sie in die Köpfe der Fans blicken?

Außerdem steigt die Spannung, die Attraktivität und die Qualität in der MotoGP, wenn möglichst viele Spitzenfahrer Topmaterial, Siegchancen oder zumindest Chancen auf Podestplätze haben. 

Oder sehnt sich jemand nach den Zeiten zurück, als Giacomo Agostini mit der überlegenen MV Agusta auf der Insel Man den 500-ccm-GP 1972 mit 7:51 min Vorsprung auf seinen Teamkollegen Alberto Pagani gewann und im selben Jahr in Salzburg und Imola den Drittplatzierten (Granath/Husqvarna und Spaggiari/Ducati) überrundete?

Bagnaia profitierte vom System

Man sollte nicht vergessen: Pecco Bagnaia übte Kritik an einem System, das ihm wertvolle Dienste leistete, als er nach seinem Moto2-Titelgewinn von 2018 ins Pramac-Ducati-Kundenteam transferiert wurde, dort erstklassiges Werksmaterial bekam und zwei Jahre später 2021 mit Jack Miller ins Ducati-Werksteam aufrückte, als dort die Verträge mit Dovizioso und Petrucci nicht verlängert wurden.

Hervé Poncharal hält fest: «Augusto war in Le Mans alles andere als langsam. Er kam nur 1,5 sec hinter Johann Zarco und 2 sec hinter Jorge Martin ins Ziel. Auf Sieger Bezzecchi hat er nur 6,2 sec eingebüsst.»

Übrigens: Pecco Bagnaia schaffte in seiner ersten MotoGP-Saison 2019 bei Pramac erst beim 17. Saisonrennen in Phillip Island einen vierten Platz. Er verlor im Ducati-Kundenteam damals in Australien 14,554 sec auf Sieger Marc Márquez.

«Ich mag Pecco, ich habe Respekt vor ihm, er war immer sehr höflich. Ich habe nichts gegen ihn», zieht Hervé Poncharal einen Schlussstrich unter diese etwas aus dem Ruder gelaufene Diskussion.

Dass Bagnaia seit drei, vier Jahren auf dem besten Motorrad sitzt, ist unbestritten. Er ist ein Ausnahmekönner und hat dieses Privileg redlich verdient. Denn er gewann mit 21 Jahren die Moto2- und mit 25 Jahren die MotoGP-WM.

Pecco trägt die Nummer 1 in der «Formel 1 des Zweiradsports», er hat insgesamt 23 GP-Siege errungen und 45 Podestplätze eingeheimst – und hat eine goldene Zukunft vor sich. 

Doch Bagnaia liegt in der Fahrer-WM nur einen Punkt hinter Privatfahrer Marco Bezzecchi aus dem Mooney VR46-Team, der ein letztjähriges Werksmotorrad lenkt.

Der Titelverteidiger könnte in der WM schon 50 Punkte Vorsprung haben, aber er ist dreimal aus eigener Schuld gestürzt.

Das kann Frust mit sich bringen.

Aber warum ging der erfolgreiche Italiener ausgerechnet auf Augusto Fernández los?

Auch der WM-Zweite Marco Bezzecchi fährt ja für ein Kundenteam. Sollte er als «Privatfahrer» der Vollständigkeit halber wegen seiner unverschämten Aufmüpfigkeit nicht auch dringend eingebremst werden?

Doch «Bez» ist ein Kumpel aus der VR46 Riders Academy. Und Italiener, also keine ideale Adresse für kritische Bemerkungen. Deshalb musste der bedauernswerte Augusto als Opfer herhalten.

Der aktuelle Moto2-Weltmeister aus Spanien wird trotzdem seinen Weg in der Königsklasse gehen und der Ducati-Armada voraussichtlich noch öfter Kopfzerbrechen machen.

Vielleicht muss der tüchtige Pecco Bagnaia noch lernen, mit empfindlichen Niederlagen wie in Le Mans besser fertig zu werden und bei investigativen Fragen der Berichterstatter nicht ins erstbeste Fettnäpfchen zu treten.

Nach dem Motto: Hättest du geschwiegen, wärst du ein Philosoph geblieben.

Bis zum Mugello-GP (9. bis 11. Juni) werden diese Wortgeplänkel der Vergangenheit angehören und der Sport – hoffentlich – wieder im Vordergrund stehen.  

Der Ducati-Lenovo-Star hat 2022 die Moto2-WM mit sechs Siegen für sich entschieden. In den restlichen 14 Rennen gelangen ihm nur drei weitere Podestplätze.

Das sieht nach einer «Alles oder nichts»-Devise aus, die bei so starken Gegnern wie in der Saison 2023 (und bei total 40 Wettkämpfen!) gründlich scheitern könnte. Marco Bezzecchi, Jorge Martin und Brad Binder werden weitere Fehler der Nummer 1 kaltblütig ausnützen.

Ergebnisse MotoGP-Rennen Le Mans/F, 14. Mai

1. Marco Bezzecchi (I), Ducati, 27 Runden in 41:37,970 min
2. Jorge Martin (E), Ducati, +4,256 sec
3. Johann Zarco (F), Ducati, +4,795
4. Augusto Fernández (E), KTM, +6,281
5. Aleix Espargaró (E), Aprilia, +6,726
6. Brad Binder (ZA), KTM, +13,638
7. Fabio Quartararo (F), Yamaha, +15,023
8. Fabio Di Giannantonio (I), Ducati, +15,826
9. Takaaki Nakagami (J), Honda, +16,370
10. Franco Morbidelli (I), Yamaha, +17,828
11. Danilo Petrucci (I), Ducati, +29,735
12. Lorenzo Savadori (I), Aprilia, +36,125
13. Jonas Folger (D), KTM, +49,808
– Marc Márquez (E), Honda, 2 Runden zurück
– Jack Miller (AUS), KTM, 3 Runden zurück
– Alex Rins (E), Honda, 13 Runden zurück
– Joan Mir (E), Honda, 15 Runden zurück
– Luca Marini (I), Ducati, 22 Runden zurück
– Alex Márquez (E), Ducati, 22 Runden zurück
– Francesco Bagnaia (I), Ducati, 23 Runden zurück
– Maverick Viñales (E), Aprilia, 23 Runden zurück

MotoGP-Ergebnis Sprint, Le Mans (13.05.):

1. Martin, Ducati, 13 Rdn in 19:59,037 min
2. Brad Binder, KTM, + 1,840 sec
3. Bagnaia, Ducati, + 2,632
4. Marini, Ducati, + 3,418
5. Marc Márquez, Honda, + 3,541
6. Zarco, Ducati, + 4,483
7. Bezzecchi, Ducati, + 5,224
8. Aleix Espargaró, Aprilia, + 6,359
9. Viñales, Aprilia, + 8,336
10. Nakagami, Honda, + 9,439
11. Rins, Honda, + 12,388
12. Di Giannantonio, Ducati, + 14,125
13. Morbidelli, Yamaha, + 15,121
14. Mir, Honda, + 15,383
15. Alex Márquez, Ducati, + 15,591
16. Petrucci, Ducati, + 19,415
17. Savadori, Aprilia, + 26,992
– Quartararo, Yamaha, 4 Runden zurück
– Folger, KTM, 5 Runden zurück
– Augusto Fernández, KTM, 8 Runden zurück
– Miller, KTM, 12 Runden zurück

WM-Stand nach 10 von 40 Rennen:

1. Bagnaia, 94 Punkte. 2. Bezzecchi 93. 3. Binder 81. 4. Martin 80. 5. Zarco 66. 6. Marini 54. 7. Viñales 49. 8. Miller 49. 9. Quartararo 49. 10. Rins 47. 11. Aleix Espargaró 42. 12. Alex Márquez 41. 13. Morbidelli 40. 14. Augusto Fernández 30. 15. Di Giannantonio 25. 16. Oliveira 21. 17. Nakagami 21. 18. Dani Pedrosa (E), KTM, 13. 19. Marc Márquez 12. 20. Folger 7. 21. Mir 5. 22. Petrucci 5. 23. Michele Pirro (I), Ducati, 5. 24. Savadori 4. 25. Raúl Fernández (E), Aprilia, 3. 26. Stefan Bradl (D), Honda 2.

Konstrukteurs-WM:

1. Ducati, 174 Punkte. 2. KTM 103. 3. Aprilia 80. 4. Honda 73. 5. Yamaha 58.

Team-WM:

1. Mooney VR46 Racing, 147 Punkte. 2. Prima Pramac Racing 146. 3. Red Bull KTM Factory Racing 130. 4. Ducati Lenovo Team 104. 5. Aprilia Racing 91. 6. Monster Energy Yamaha 89. 7. LCR Honda 68. 8. Gresini Racing 66. 9. GASGAS Factory Racing Tech3, 37. 10. CryptoDATA RNF 28. 11. Repsol Honda 17.

 

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