Strafen in der MotoGP: Rennergebnisse unter Druck
Die Top-5 des Sonntags blieben unverändert: Aleix Espargaró vor Bagnaia, Binder, Oliveira und Viñales
Ist es unvermeidbar, dass Regeln den Rennsport verderben? Es scheint jedenfalls so, wenn ein immer dichter werdender Paragraphen-Dschungel das Rennergebnis beeinflusst. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen gar nicht mehr.
Die track limits»-Kontroverse sticht dabei besonders hervor. Podestplätze und sogar Siege gehen verloren, wenn die Streckenbegrenzung in der letzten Runde überfahren wird. Das zieht umgehend eine Strafe nach sich, üblicherweise wird der Fahrer um einen Platz nach hinten versetzt.
So geschehen bei Brad Binder in Assen – sogar zweimal. Der Red Bull-KTM-Werksfahrer wäre sowohl im Sprint als auch im Hauptrennen auf dem Podest gelandet, aber zweimal streifte er in der letzten Runde beim Linksknick nach der Stekkenwal-Rechtskurve das Grün.
Mit Absicht? Definitiv nicht. Schlug er einen Vorteil daraus? Auch hier lautet die Antwort definitiv nein. Es war ein ganz normales Ereignis in der Hitze des Gefechts. Trotzdem warf ihn eine Drei-Sekunden-Strafe (als Ersatz für einen Long-Lap-Penalty, weil er zuvor schon für mehrfaches Überschreiten der «track limits» verwarnt worden war) im Sprint von Platz 3 auf 5 zurück. Und im Hauptrennen wurde er von Platz 3 auf 4 strafversetzt (die übliche «drop one position»-Strafe für Vergehen in der letzten Runde).
Als Gentleman akzeptierte Brad Binder die Strafen ohne Klagen, er nahm sie sogar auf seine Kappe («Wie konnte mir das zweimal passieren?»). Dennoch blieb es unfair.
Der Präzedenzfall in der letzten Runde
Das Überschreiten der «track limits» wird seit mehr als fünf Jahren geahndet. Die Sonderregelung für die letzte Runde entstand aus einem besonderen Fall heraus – Misano 2019. Im Moto2-Rennen fuhr Rookie Fabio Di Giannantonio (auf Speed-Up, wie die heutigen Boscoscuro-Bikes damals noch genannt wurden) erstmals von der Pole-Position los. Lange sah es ganz danach aus, als würde er auch seinen Premierensieg in der Klasse holen. Das gelang aber nur fast.
Beinahe das gesamte Rennen lang verteidigte sich der Italiener gegen den erfahreneren Augusto Fernández, dessen Kalex zwischendurch die Nase vorne hatte. In der letzten Runde wechselten sie sich an der Spitze ab und der entscheidende Moment ereignete sich in der schnellen Kurve 11, als der Kalex-Pilot großzügig auf die Grünfläche fuhr. Dadurch kam er besser aus der Kurve und brachte sich in die Position für einen rennentscheidenden Blockpass in Kurve 14. Fernández siegte, Di Giannantonio musste sich weniger als zwei Zehntel dahinter mit Rang 2 abfinden.
Die Stewards tagten, aber schenkten Fernández‘ Erklärung Glauben: Er war in Kurve 11 zu einer Exkursion gezwungen worden, um eine Kollision mit Diggias Hinterrad zu entgehen. Der Sieg also blieb bestehen.
Speed-Up-Teambesitzer Luca Boscoscuro protestierte. Andere Fahrer waren für ähnliche Vergehen sanktioniert worden, warum also Fernández nicht?
Der Protest wurde abgelehnt. Die Verantwortlichen gaben dann aber eine langatmige Erklärung ab, in der darauf hingewiesen wurde, dass die Streckenbegrenzung in der Vergangenheit nicht etwa durch grüne Farbe, sondern durch Gras und zuvor sogar durch Mauern, Strohballen oder Leitplanken gekennzeichnet waren, was bei einem Überschreiten unweigerlich Folgen hatte.
Ab sofort also müsse ein Überfahren der «track limits» in der letzten Runde einen klaren Nachteil für den betroffenen Fahrer darstellen. Wenn die Stewards dagegen der Ansicht waren, dass dieser Nachteil nicht gegeben war und das Rennergebnis beeinflusst wurde, sollte der Fahrer bestraft werden.
Das war der Auslöser dafür, dass Vergehen in der letzten Runden mittlerweile so teuer zu stehen kommen.
Zumindest konnten damals die Regelhüter ein gewisses Maß an Urteilsvermögen walten lassen – oder in anderen Worten, den gesunden Hausverstand. Das war aber vorbei, als mit der Saison 2021 die elektronischen Sensoren eingeführt wurden. Früher war also vielleicht noch Platz für einen kleinen menschlichen Fehler – von Seiten der Fahrer oder der Stewards. Jetzt nicht mehr, schon ein Mikrometer auf dem Grün löst automatisch eine Bestrafung aus – und das wiederum führt zu einer Reihe unfairer Absurditäten.
Übrigens löste Pecco Bagnaias vermeintliches Überschreiten der Streckenbegrenzung in der letzten Runde des Britischen Grand Prix am Sonntag keinen Sensor aus, eine Strafe blieb deshalb aus.
Jetzt drohen Reifendruck-Sündern Zeitstrafen
Es ist zu befürchten, dass es noch schlimmer kommt, mit dem Inkrafttreten des Strafenkatalogs für das Unterschreiten des Reifendrucks – vorne 1,88 bar und hinten 1,68 bar (wobei der Luftdruck im Vorderreifen für Diskussionen sorgt).
Einheitliche Sensoren überwachen den Reifendruck in Echtzeit und ein komplexes System kommt ins Spiel, wenn das Mindestlimit für mehr als eine gewisse Prozentanzahl der Runden (50 Prozent im GP-Rennen, 30 Prozent im Sprint) unterschritten wird. Das gestaffelte Strafmaß reicht von einer Verwarnung für das erste Vergehen bis zu steigenden Zeitstreifen – und künftig bis zur Disqualifikation, wenn diese Möglichkeit auch zumindest vorerst ausgeschlossen wurde.
Das kann potenziell erhebliche Auswirkungen auf das Rennergebnis haben. Es gibt aber auch Sicherheitsbedenken.
Der Luftdruck im Vorderreifen ist – mit dem aktuellen Michelin-Reifen – sehr unbeständig. Die Performance des Reifens genauso. Freie Fahrt und die damit einhergehende kühlende Luft für den Vorderreifen senken den Druck. Ist ein Fahrer dagegen hinter einem anderen Motorrad im Windschatten unterwegs, schnellen die Reifentemperatur und der Luftdruck schnell nach oben. Ist der Druck zu hoch, besteht akute Sturzgefahr. Liegt der Druck unter dem Limit, drohen Strafen.
Erschwerend hinzukommt, dass der Reifendruck, mit dem ein MotoGP-Pilot losfährt, vor dem Rennstart festgelegt werden muss. Man muss sozusagen raten, ob man führen oder hinterherfahren wird.
Die Einführung der Strafen war für Silverstone angekündigt worden, tatsächlich gab es dann aber weder nach dem Sprint, noch nach dem Grand Prix Informationen zu den Messwerten. Der Grund dafür: Der Sprint wurde als «wet race» deklariert, aus dem Hauptrennen wurde wegen des einsetzenden Regens ein Flag-to-Flag-Rennen. In diesen Fällen wird nicht kontrolliert.
Fakt aber ist, das System wird kommen. Und solange Michelin keinen Reifen bringt, der weniger empfindlich auf einen veränderten Luftdruck reagiert (oder bis Bridgestone zurückkommt?) stellt dies ein weiteres Hindernis für unverfälschte Rennergebnisse dar.