Stichtag 1. Juli 1968: Ford gibt Vollgas
Im Kölner Stadtteil Niehl, nahe des Rheinhafens, sitzt Jochen Neerpasch zunächst ohne weiteres Personal allein vor einem fast leeren Schreibtisch. «Ich habe bei Null angefangen, mehr als einen leeren Schreibblock hatte ich anfangs nicht.»
Sein Vorgänger Emil Brezing war nur selten im Haus. Er leitete die ohnehin spärlichen Motorsport-Aktivitäten für ein paar Jahre mehr als eine Art «Zeitarbeiter», weil er in seiner Heimatstadt Wiesbaden auch noch einen Hauptjob als Kfz.-Sachverständiger hatte.
So ist es kein Wunder, dass es außer mäßigen Resultaten mit dem schwachbrüstigen 55 PS-Ford Taunus 12 M jahrelang kaum was zu feiern gibt. Weitere Modelle für den sportiven Einsatz sind nicht vorhanden, deshalb sind Starts in anderen Disziplinen kein Thema. Erst mit der 150 PS starken RS-Variante des Taunus 20 M kommt mehr Power ins Spiel.
Im Frühjahr 1968 nimmt Ford PR-Vorstand van der Dellen Kontakt mit Neerpasch auf und bittet um einen Besuch in Köln. Zu diesem Zeitpunkt ist der Sohn eines Ford-Händlers aus Krefeld 29 Jahre alt und Porsche-Werksfahrer in der Sportwagen-WM.
Man einigt sich auf einen Vertrag mit Starttermin 1. Juli 1968, aber der frisch engagierte Ford-Sportchef Neerpasch legt Wert darauf, seine Verpflichtungen bei Porsche bis zum letzten Rennen der laufenden Saison zu erfüllen.
Was dann passiert, ist nicht nur heutzutage absolut unvorstellbar. Porsche ist damit einverstanden, dass Neerpasch als neuer Ford-Sportchef auch nach dem 1. Juli bis zum letzten WM-Lauf im September im Cockpit der 907- und 908-Sportwagen sitzt.
Und auch Ford hat nichts dagegen, dass ihr neuer Mann gleichzeitig noch weitere drei Monate für die Stuttgarter Rennen fährt. Dass es dabei zwangsläufig zu Duellen mit den GT 40-Sportwagen seines aktuellen Arbeitgebers Ford kommen musste, hat damals wohl niemand weiter gestört. Was für eine absurde Konstellation.
Letztmals startet Neerpasch als Porsche-Werkspilot am 18. und 19. September 1968 zusammen mit Rolf Stommelen in Le Mans. Der 24 h-Klassiker findet wegen der Studenten-Unruhen im Land statt zum Traditionstermin Mitte Juni erst im Herbst statt. Die beiden Deutschen im Porsche 908 haben bis zu einem technischen Problem intakte Siegchancen, hohlen nach Reparatur zügig auf und werden noch Gesamt-Dritte. Das Siegerauto ist ein Ford GT 40 …
«Jetzt stell dir bitte vor», so Neerpasch bei unserem Telefonat letzte Woche, «wir hätten vor dem GT 40 gewonnen – da schlagen dann schon zwei Herzen in einer Brust. Einerseits willst du Racer sein und alles für dein Team geben, andererseits aber auch loyaler Vertragspartner deines neuen Arbeitgebers.»
Was für ein Spagat.
Am ersten 1. Juli 1968 also beginnt die Ära Neerpasch bei Ford. Täglich pendelt er jetzt zwischen seinem Wohnsitz Krefeld und Köln hin und her. Alles was für den neuen Job benötigt wird, muss er einschließlich Personal Zug um Zug selbst organisieren. Später kann er wenigstens in neue Räume mit angeschlossener Rennwerkstatt umziehen, bekommt sogar ein funktionsfähiges Sekretariat. Wenigstens steht ein großzügiger Etat zur Verfügung, mit dem sich schon ganz gut arbeiten lässt.
Den ersten wirksamen Werksauftritt des renovierten Kölner Ford-Rennstalls arrangiert Neerpasch für das 500-Kilometer-Rennen Anfang September 1968 auf dem Nürburgring. Mangels eigener Autos werden vier von Ford England ausgeliehene Escort in verschiedenen Spezifikationen eingesetzt.
Die Fahrerbesetzung ist edel: Die Formel 2-Piloten Gerhard Mitter und Hubert Hahne starten mit je einem 1.8 Liter Escort in der 2 Liter-Prototypen-Klasse, weil der DFV-Motor für Tourenwagen noch nicht homologiert ist. Allrounder Dieter Glemser sitzt in einem Escort 1300 GT und Porsche-Werkspilot Rolf Stommelen in einem 1600 TC. Als einziger kommt Stommelen ins Ziel, die anderen drei stranden mit technischen Defekten.
Der Grundstein ist nun gelegt. Im weiteren Verlauf beginnt der neue Ford-Sportchef ein Team zu formen, um das ihn die Konkurrenz bald beneidet. Fahrwerks-Genie Martin Braungart und Motoren-Spezialist Otto Stulle sowie die Renn-Profis Dieter Glemser, Gerd Schüler und Manfred Mohr erhalten Werksverträge. Nach und nach kommen weitere fähige Ingenieure, Techniker und Rennmechaniker an Bord. Auch Hobby-Rennfahrer Michael «Mike» Kranefuss verstärkt die neu formierte Truppe als Assistent und rechte Hand von Neerpasch. Die beiden kennen sich von der Rennstrecke und verstehen sich gut.
Für den Rest des Premierenjahres folgen noch einige Rallye-Einsätze mit in Köln vorbereiteten Werkswagen vom Typ Taunus 20 M RS 2.3. Bei der «Tour d'Europe» gibt es einen Gesamtsieg für Burckhardt/Zertani. Außerdem werden die «Rallye de Geneve» mit einem Escort TC (4. Platz Gesamt/3. Platz Tourenwagen) und die Marathon-Rallye «London – Sydney» mit drei 20 M RS (7. und 16. Platz Gesamt sowie ein Ausfall) beschickt.
Glemser und Mohr werden 1969 mit dem 1.6-Liter Escort TC auf den wichtigsten deutschen Rundstrecken-Titel angesetzt - Schüler auf das Berg-Championat, Glemser auf die Rundstrecken-Meisterschaft. Beide gewinnen mit den in Köln vorbereiteten Autos alle Rennen. Absoluter Höhepunkt des Jahres 1969 wird der Sieg bei der «East Afrika Safari» in Kenia, wo ein Taunus 20 M RS aus der neuen Kölner Motorsportküche mit den Einheimischen Robin Hillyar/John Aird die Konkurrenz in Grund und Boden fährt.
Zauberwort Capri RS
Die Weichen für 1970 und die Zeit danach sind gestellt. Das neue Kölner Zauberwort heißt Capri RS. Das Vorlaufmodell Capri 2.3 GT ist dank Weslake-Alu-Zylinder-Köpfen und anderer Feinarbeiten schon mal auf 235 PS gebracht worden. Zur festen Werksfahrer-Equipe zählen neben Glemser und Mohr jetzt auch Jochen Mass und Rolf Stommelen.
Dann kommt der Capri RS als sportliche Straßenversion auf dem Markt. Die FIA-Homologation zum Tourenwagen ist nur noch Formsache. Mit diesem Auto beginnt die eigentliche Ford-Erfolgsstory. Jochen Mass holt sich mit dem brandneuen RS-Capri in der Tourenwagen-Division der Europa-Bergmeisterschaft auf Anhieb den Vize-Titel. Auch bei internationalen Rallyes wird der Capri RS zu Testzwecken eingesetzt.
Mit dem Capri 2600 RS hat Ford-Köln für die Saison 1971 ein echtes Siegerauto geschaffen. In der Renn-Version wird der Hubraum auf 2,9 Liter vergrößert, die Leistung klettert auf 280 PS. Gleichzeitig wird die Entwicklung der RS-Version des Escort vorangetrieben. Ford beteiligt sich werksseitig an der Tourenwagen-EM und der Deutschen Rundstrecken Meisterschaft. In der EM stehen jeweils zwei Capri RS und der neue Escort RS am Start, im nationalen Rundstrecken-Championat ein Capri RS für Jochen Mass. Beide Titel gewinnt Ford im Handstreich. Dr. Helmut Marko startet, wenn er mal frei ist, sporadisch im Capri und gewinnt mit Glemser prompt den GP der Tourenwagen am Ring.
Schock im Mai
Zu Beginn der Saison 1972 tritt der Capri RS noch kräftiger an: Drei Liter Hubraum und etwa 300 PS. Neu im Team ist Hans Joachim Stuck, der auf den Titel der erstmals ausgeschriebenen Rennsport Meisterschaft (DRM) angesetzt wird. Für Starts in der Tourenwagen-EM wird ein erlesenes Star-Ensemble verpflichtet, darunter sporadisch auch aktuelle Formel 1-Piloten.
Alles ist angerichtet für den großen Durchmarsch des Capri RS, als Ford gleich zu Saisonbeginn eine Schock-Nachricht verdauen muss. Sportchef Jochen Neerpasch legt seine Kündigung vor und verlässt Ford in Richtung München zu BMW. Dort hat ihm der Vorstand genau das zugesichert, was er in Köln vergeblich versucht hat zu realisieren – eine eigenständige Motorsport GmbH. «Damit können wir schneller, unbürokratischer und eigenständiger Entscheidungen treffen», so Neerpasch, «unser Handlungsspielraum darf im heutigen harten Wettbewerb nicht durch bürokratische Hürden gebremst werden.»
Assistent Mike Kranefuss (33) rückt ab Mai 1972 in die Chef-Position auf und hält die Abteilung weiter auf Erfolgskurs. Der Rest ist bekannt, Ford und BMW liefern sich in den Folgejahren zwar geschichtsträchtige Schlachten, aber die beiden Sportchefs bleiben trotz aller Marken-Rivalität Freunde. Der Rest kann als bekannt vorausgesetzt werden.
Kranefuss hat es bis zum Ford-Weltdirektor für Motorsport gebracht, lebt in den USA und feiert am 3. Juli dieses Jahres seinen 85. Geburtstag. Neerpasch führte nach Ford auch BMW im Tourenwagensport und zusätzlich in der Formel 2 zum Erfolg. Überdies hat er im Laufe der Jahre rund ein Dutzend junger Talente zu erfolgreichen Tourenwagen- und Formel-Profis aufgebaut. Als Alters-Location hat sich Neerpasch das idyllische Städtchen Kressbronn am Bodensee ausgesucht. Im März 2024 wird er ebenfalls 85 Jahre alt.