Nach dem 1000. WM-Lauf: Gedanken zum China-GP
Die Formel 1 hat sich in Shanghai selber gefeiert – 1000. WM-Lauf im Rahmen der Formel-1-Historie. Oder sagen wir: Sie hat sich in Jiading gefeiert, denn genau genommen liegt die Rennstrecke auf dem ehemaligen Sumpfgeländer ausserhalb von Shanghai. Zur weltberühmten Passage «The Bund» am Huangpu-Fluss sind es knapp vierzig Kilometer; was beim fortlaufenden Verkehrskollaps leicht mal einige Stunden in Anspruch nehmen kann.
Der 1000. WM-Lauf in China wirkte seltsam: Ausser einem fabelhaften Lotus 49 mit Damon Hill und einigen Memorabilien im Fahrerlager war wenig zu sehen von Feier, da nützten auch eine Gedenkmünze oder die zugegeben sehr hübschen Sonderposter wenig. Sorry, lieber Formel-1-CEO Chase Carey, der 1000. Lauf hätte nach Silverstone gehört oder nach Monza. Und bevor Sie den Finger heben: Ja, ich weiss, wie jämmerlich das Wetter im April in England sein kann.
Die Formel 1 wird in China jedes Jahr ein wenig populärer, aber mal ehrlich: Shanghai verfällt nicht in kollektives GP-Fieber, wenn unser Zirkus in die Stadt kommt, nicht wie in Melbourne oder Montreal oder Singapur. Aber die Mächtigen der Formel 1 glauben noch immer: Viele Menschen bedeutet viel Wirtschaftspotenzial. Sie haben Angst, den Anschluss auf Märkten wie China und Indien zu verpassen. Doch Hand aufs Herz: Wie viele Sponsoren aus China und Indien können Sie aufzählen?
Ein Formel-1-Rennstallbesitzer hat mir einmal gesagt: «Der Mensch ist ein Leben lang Angst-gesteuert. Ohne seine täglichen Sorgen wäre er nur unglücklich.»
Diese Aussage hat mich verblüfft. Erstens, weil Racer im Herzen unverbesserliche Optimisten sind (und die meisten Menschen im Fahrerlager sind echte Racer, ungeachtet ihres Berufs). Zweitens, weil sich jeder von uns ein sorgenfreies Leben wünscht, nicht wahr?
Das mit der Angst mag stimmen. Denken Sie mal darüber nach: Wir fürchten uns wirklich ein Leben lang. Nichts zu essen zu bekommen, allein gelassen zu werden, in der Schule schlecht zu sein, keine Freunde zu haben, keinen Partner zu finden, den Job zu verlieren, krank zu werden und so fort.
Die moderne Medienlandschaft schürt viele Facetten von Furcht, in einigen Ländern gezielt gesteuert von der Regierung. Denn Menschen, die Angst haben, sind gefügig.
Wenn Sie jetzt denken, das ist ein seltsamer Zusammenhang nach dem China-GP, dann ist das nachvollziehbar, aber ich weiss noch, in welchem Klima der Furcht wir vor wenigen nach Shanghai geflogen sind: Nordkoreas Staatschef Kim Jong-un polterte wie ein störrisches Kleinkind, keiner wusste, was der Wirrkopf als nächstes anstellt, und die Vogelgrippe ging um, verstohlen wie ein feiger Dieb.
Diese beiden Themen waren in englischsprachigen Zeitungen wie der «China Daily» oder der «Shanghai Daily» Titelseiten-Material, das Formel-1-Rennen nicht. Und auch wenn sich heute Jong-un ein wenig gemässigt hat und die Vogelgrippe aus den Schlagzeilen verschwunden ist, nimmt der GP-Sport in den Medien von China keine nennenswerte Rolle ein.
Auch bei der Reise von der Schweiz nach Shanghai ist Furcht ein Leitthema, wenn ich ein wenig in Erinnerungen krame. Vor Jahren begann das Abenteuer mit Verspätung – vom Rollfeld mussten wir zum Fingerdock zurückkehren: Der Bordcomputer machte Mucken. Techniker kamen an Bord. Das ist selten ein gutes Zeichen.
(Die Angst, den Anschluss in Dubai Richtung Shanghai zu verpassen ...)
Nach einer längeren Pause ging es doch los, der Anschluss war letztlich kein Problem.
Die Einreise in China kann abenteuerlich sein. Einmal verbrachte ich eine sehr lange Stunde mit einem Beamten, weil ich mein Einreiseformular nicht richtig ausgefüllt hatte. Ein anderes Mal durchleuchteten die Zollbeamten meinen Koffer und wussten nicht, was sie mit dieser seltsamen rosafarbenen Flüssigkeit anstellen sollten (sie hätten damit gurgeln können, denn es war ein Mittel gegen Halsschmerzen).
Ein anderes Mal kamen drei Grossraumflugzeuge gleichzeitig in Shanghai an, entsprechend viele Menschen warteten auf Einreise.
(Die Angst, zwei Stunden in einer Menschenmenge herumstehen zu müssen und nicht zur Toilette gehen zu können ...)
Doch Überraschung: Für einmal war der Beamte von vorbildlicher Effizienz, nach wenigen Sekunden war ich eingereist. Dann das übliche Warten aufs Gepäck.
(Die Angst, das Gepäck sei von Dubai nicht nach Shanghai geflogen, sondern nach Timbuktu ...)
Die Taxifahrt ins Hotel verlief so wie oft in Shanghai: Haarsträubende Fahrmanöver in jeder Sekunde, endloses Gehupe, und der Fahrer rollte brav – zum falschen Ziel.
Als ich die ersten Schilder «Hongqiao Airport» sah, zwang ich den Fahrer, seinen klapprigen VW zu stoppen. Eine sachdienliche Diskussion am Strassenrand fanden die Passanten hoch interessant, besonders meine schweizerdeutschen Kraftausdrücke.
Ich zeigte erneut meine Karte (mit chinesischen Schriftzeichen versehen, natürlich), der Fahrer beteuerte erneut, er habe alles verstanden (wie schon am Flughafen).
Das ausführliche Kartenstudium des Chauffeurs (samt zeitlupenschnellen Nachfahrens von Strassenlinien mit gelblich verfärbten, Dracula-langen Nägeln) gab Gelegenheit, den ganz normalen Strassenwahnsinn von Shanghai zu verinnerlichen: Schweinehälften, die träge auf den Gepäckträgern von Rollern wippten, schwer beladene Fahrräder, den Gesetzen der Schwerkraft trotzend, Lastwagen, die sich rauchend und ächzend vorwärts schleppten, ein Blick aufs Fahrgestell zeigte – hier ist ein Rostdurchbruch nur noch eine Frage der Zeit.
Mit etwas Verspätung erreichte ich mein Hotel, dann Einchecken.
(Die Angst, dass mit der Reservierung etwas schiefgegangen sein könnte und ich gar kein Zimmer habe ...)
Es folgte Arbeit für SPEEDWEEK.com, dann ein schnelles Abendessen.
(Die Angst, dass die Chinesen meine Bestellung eines «hot dog» falsch verstehen könnten ...)
Irgendwann fiel ich ins Bett, natürlich nicht, ohne vorher den Wecker gestellt zu haben.
(Die Angst, zu verschlafen ...)
Das mit der Furcht ist letztlich immer Verhältnissache: Natürlich muss sich die Welt vor Kim Jong-un fürchten. Und natürlich ist die Vogelgrippe keine Bagatelle. Aber in Shanghai leben rund 26 Millionen Menschen. An der Vogelgrippe erkrankt sind damals exakt 13 Menschen, fünf davon sind der Krankheit erlegen. Das ist für den normalen GP-Besucher zu wenig, um Angst haben zu müssen.
Der besagte Teambesitzer löste das auf seine Weise: Er reiste gar nicht erst nach China.