Charlie Whiting: Legendärer Rennchef ist unvergessen
Sebastian Vettel und Charlie Whiting 2018 in Baku
Das umstrittene WM-Ende 2021 lässt viele Formel-1-Fans nicht los. Die Art und Weise, wie die atemberaubende GP-Saison zwischen Max Verstappen und Lewis Hamilton auf dem Yas Marina Circuit entschieden wurde, erzeugte eine Achterbahnfahrt der Emotionen – und sie kostetet Rennleiter Michael Masi den Job.
Noch in der langen Nacht von Abu Dhabi hörte ich damals den einen oder anderen im Fahrerlager sagen: «Mit Charlie Whiting wäre es nie so weit gekommen.»
Am 14. März sind es schon drei Jahre her, dass Charlie Whiting gestorben ist. Es gibt nur wenige Menschen im Formel-1-Fahrerlager, denen solche Hochachtung entgegengebracht wird wie Charlie Whiting. Der völlig überraschend verstorbene F1-Rennleiter hatte sich vom Freizeitmechaniker auf Klubsport-Niveau zu jenem Mann hochgearbeitet, der über das Geschehen auf der Rennstrecke das Sagen hatte.
Whiting arbeitete nicht nur am Reglement mit, er wachte auch darüber. Seine Interpretationen der technischen Vorschriften wurden oft angefochten. Aber seine unaufgeregte Art, seine analytische Herangehensweise, seine Ruhe und seine Fairness machten ihn zur perfekten Besetzung der schwierigen Rolle des Schiedsrichters.
Charlie Whiting blieb im Herzen, was er immer war: ein Racer durch und durch. Er beschrieb sich selber als Arbeits-Tier, in ständiger Bewegung – Rennen, Pistenbesichtigungen, FIA-Sitzungen in Paris oder Genf, Besuche möglicher neuer GP-Orte, sein Reiseprogramm war aufwändig und für Frau und Kinder gewiss eine Belastung.
«Das Reisen ist nicht mal das Problem», hat er mir einmal anvertraut. «Aber du wirst ständig mit Fragen bombardiert, und wenn ich mein E-Mail-Fach mal einen halben Tag nicht aufmache, bin ich schon verflixt im Rückstand. Die Zeit im Flieger eignet sich prima zum Arbeiten.»
Charlie kam über seinen älteren Bruder Nick zum Motorsport, der mit Autocross begann und später auf die Rundstrecke wechselte. «Wir wohnten nur eine Meile von Brands Hatch entfernt», sagte Charlie. «Ich kroch unter den Zäunen durch, um Rennen zu schauen. Mein erster Grand Prix müsste 1964 gewesen sein.»
«Später kam ich von der Schule nach Hause und arbeitete bis tief in die Nacht an den Autos von Nick. 1968 begann er mit Autocross, drei Jahre später fuhr er Rundstreckenrennen. Er gewann einige Meisterschaften in der Kategorie Spezial-Tourenwagen.»
Charlie begann ein Studium als Mechanik-Ingenieur, «aber zum grossen Verdruss meiner Mutter brach ich ab, um in einer Garage zu arbeiten.»
Als Nick Whiting in der 1976-er Shellsport-Serie einen Surtees TS16 für die frühere Skirennläuferin Divina Galica einsetzte, werkelte Charlie erstmals an einem Formel-1-Auto. 1977 heuerte er bei Hesketh ein, aber die goldenen Zeiten mit James Hunt und Lord Hesketh waren vorbei. Hesketh war ein sinkendes Schiff. Charlie arbeitete an den Autos von Eddie Cheever und Derek Daly, nach dem Belgien-GP 1978 sperrte das Team zu.
Charlie Whiting erzählte: «Ich weiss nicht mehr, wer mir vorschlug, mich bei Brabham zu melden. Jedenfalls sprach ich bei Herbie Blash vor und erhielt einen Job im Test-Team. Wir reisten zum Österreichring, aber schon ab dem Frankreich-GP wurde ich ins Renn-Team geholt, weil ein Mechaniker seine Sachen gepackt hatte. Zunächst war ich dem Ersatzwagen zugeteilt, 1979 dann dem Auto von Niki Lauda, 1980 dem Renner von Nelson Piquet, und 1981 wurde ich Chefmechaniker von Nelson.»
Mit dem Brasilianer wurde Charlie Whiting 1981 und 1983 Weltmeister. Brabham baute nicht nur eines der schnellsten Autos im Feld, das Team hatte auch jeden erdenklichen Trick auf Lager. Whiting: «Heute würde das alles naiv und stümperhaft wirken. Wir haben extra-schwere Karosserie-Teile gebaut, welche wir vor einer Gewichtskontrolle ans Auto schraubten. Es gab auch noch ein paar andere Kniffe. Jedenfalls war das alles eine gute Lehre für meinen späteren Job bei der FIA.»
«Brabham-Technikchef Gordon Murray war tiefenentspannt, diese Stimmung färbte auf das restliche Team ab. Wir hatten Freiraum für jede Menge Streiche, und Gordon duldete das alles in völliger Gleichmut. Team-Besitzer Bernie Ecclestone hatte als Perfektionist etwas weniger Verständnis, und ab und an gab es im Werk einen Anschiss, wenn nicht alles piccobello war oder wenn wir es mit einem Schabernack übertriebeben hatten.»
Ecclestone verkaufte das Team, weil er sich auf seine Rolle konzentrieren wollte, die Formel 1 zur grössten Show der Welt aufzubauen. Whiting, inzwischen Chefingenieur, wechselte überraschend nicht zu einem anderen Team, sondern zum Autoverband FIA. «Das war die Idee von Bernie. Er meinte, die in Paris hätten doch keinen Schimmer, was sie machten. “Charlie, wieso gehst du nicht dorthin und siehst ein wenig nach dem Rechten?” Ich ging also nach Paris und unterhielt mich mit Generalsekretär Ivon Leon, damals die rechte Hand des Automobilverbands-Präsidenten Jean Marie Balestre. Ab 1988 war ich im technischen Team tätig, zusammen mit Gabriele Cadringher, 1990 übernahm ich seinen Job als technischer Delegierter.»
«Ich war ein Wilderer, der zum Wildhüter wurde. Das fühlte sich ein wenig seltsam an. Einige Leute bei den Rennställen waren skeptisch. Sie dachten, ich wäre Informations-Sammler für Bernie, der als Teamchef zurückkehren würde.»
Ab 1996 wurde Whiting permanenter Starter, dann Renndirektor und Sicherheits-Delegierter, schliesslich Verantwortlicher für die Rennstrecken. Alles Jobs, die er bis zum 14. März 2019 ausführte.
Seine Rolle wurde immer umfangreicher. Er begann, das sportliche und technische Reglement zu schreiben, er arbeitete mit Professor Sid Watkins an ständigen Verbesserungen der Sicherheit für die Piloten.
Als der Franzose Jean Todt FIA-Chef wurde, als Nachfolger von Max Mosley, kamen Veränderungen. Der langjährige Whiting-Stellvertreter Herbie Blash ging in Pension. Todt baute Marcin Budkowski und Laurent Mekies als Whiting-Nachfolger auf, aber die beiden zogen es vor, zu Rennställen zu wechseln, zu Renault und Ferrari. Ex-Ferrari-Chefdesigner Nikolas Tombazis wurde engagiert, um Whiting ein wenig zu entlasten. Aber Charlies Tage schienen noch immer 36 Stunden zu haben.
Charlie Whiting machte mit seiner Gattin und den Kindern Ferien auf Hawaii über die Feiertage, dann gab er Vollgas für die neue Saison und hinsichtlich der Regeln ab 2021. Am Mittwoch vor dem Australien-GP 2019 besichtigte er wie übliche die Rennstrecke. Nichts deutete auf die Tragödie hin.
Ich fragte ihn einmal, wie lange er sich dieses Mammutprogramm noch antun wolle. «Ich fühle mich wie vor zwanzig Jahren. Ein wenig beunruhigend, nicht? Ich mache so lange weiter, bis man mir sagt, ich soll gehen. Die Fahrer sind so jung heute. Vielleicht sehen sie mich an und denken: “Was will der alte Zausel von mir? Der hat doch keine Ahnung mehr!” Aber es gibt 75-Jährige, die leitende Positionen innehaben, auch wenn ich ab und an denke, dass sie ein wenig über ihr Verfallsdatum hinaus sind. Ich möchte nicht, dass die Menschen das eines Tages von mir denken.»
Darüber hätte sich Charlie keine Sorgen machen müssen: Es gab im Fahrerlager keinen Menschen, der so respektiert worden ist. Viele Beileids-Worte von Piloten und Teamchefs zeugten von echter Zuneigung, die gemeinsame Liebe zum Sport ist ein starkes Band. Es gibt niemanden, der über Whiting ein schlechtes Wort sagt.
Für das Haifischbecken Formel 1 ist das einmalig.