Helmut Marko ist 80 – ein Geburtstagsbrief
Lieber Helmut,
gerne riskiere ich zu deinem 80. mal einen Blick zurück auf deine wilden und unbekümmerten Anfangsjahre.
Die ersten Starts 1967 in der Formel V markieren deine Anfänge im Rennsport. Wir waren damals Teamkollegen im Kaimann FV-Rennstall von Kurt Bergmann, der schon ab deiner Premiere im FV-Cockpit total begeistert war von deinem Talent, deinem kompromisslosen Fahrstil und der Leichtigkeit, mit der du Rennen gewonnen hast.
Du hast uns alle ganz schön alt aussehen lassen, bist nach kurzer Anlaufzeit von Sieg zu Sieg geeilt. Schnell wurdest du zum Schrecken der europäischen Formel V-Elite. Große Siege, gnadenlose Duelle, ratlose Gegner. Und Diskussionen fast nach jedem Rennen wegen deiner kompromisslosen Nahkämpfe. Zwischendurch hast du auch noch schnell deinen Doktor-Abschluss als Jurist gemacht.
Gebrandmarkt als vermeintlicher, aber im Nachhinein rehabilitierter Auslöser einer wüsten Massenkarambolage im August 1967 bei einem Europa-Cup-Lauf im Vorprogramm des Grand Prix am Nürburgring, überschrieb die «Sport-Illustrierte» eine Story über dich mit der Headline «Wehe, wenn der Doktor kommt».
Und ein anderes Blatt titelte zum gleichen Ereignis empört: «Wildwest aus Österreich». Immerhin wurden bei dem Gemetzel zwischen Österreichern und Deutschen kurz nach dem Start eingangs der Südkehre gleich drei Konkurrenten von der Piste befördert.
Im Straßenverkehr hast du dich fast so wild bewegt wie auf der Rennstrecke. Das ging damals noch, ohne gleich verhaftet zu werden. Rote Ampeln, Überholverbote und Tempolimits schienen für dich und deinen weißen MGB oft nicht zu existieren. Auf der Autobahn hast du überholt, wo grad Platz war – rechts, links, in der Mitte oder auch über die Standspur. Besonders zähe Linksfahrer wurden kurz angeschoben, «damit sie endlich aufwachen». Selbst kürzeste Strecken wurden für jeden Mitfahrer zum bleibenden Erlebnis ohne jeden Wiederholungsbedarf.
Schon während deiner Formel V-Zeit hatte sich Alpina-Chef Bovensiepen für deine und die Dienste deiner wilden Austria-Formel V-Kumpane Pankl, Huber und Ertl interessiert.
Gemeinsam habt ihr im BMW 2002 ganz neue Maßstäbe im Tourenwagensport gesetzt. Pure Fahrfreude ohne Zwänge, Driften nach Herzenslust, rauchende Reifen – und trotzdem schnell und siegreich.
Bei einer Rückreise von England via Belgien zum nächsten Rennen am Nürburgring bist du mit deinen Austria-Kumpanen ohne jede Vorwarnung spät abends bei uns zu Hause in meinem damaligen Wohnort Bergheim mit der Bitte um ein Nachtlager eingefallen. In Ermangelung eines Gästezimmers lagen einige auf dem Fußboden, dich haben wir kurzerhand ein Stockwerk höher bei einer Nachbarin untergebracht. Wenn ich richtig erinnere, hast du bei dieser Gelegenheit die attraktive Gastgeberin im Obergeschoss derart verzaubert, dass sie mich danach noch wochenlang gefragt hat, wann du denn mal wieder zu Besuch kommen würdest …
Unvergessen bleibt auch eine Abschlepp-Aktion anlässlich einer deiner Köln-Visiten 1971. Du warst inzwischen Ford-Werksfahrer und hast dem Capri RS die Sporen gegeben. Ich bat dich, beim Abschleppen des Fiat 850 meiner Frau behilflich zu sein. Mit fast 200 Sachen bist du mit dem Kleinwagen im Schlepptau über die Autobahn A 4 gebrettert. So flott war die Besitzerin damit noch nie unterwegs. Beim Abbiegen in den schnellen, geschmeidigen Rechtsbogen der Ausfahrt «Kerpen/Sindorf» hatte der Konvoi immer noch fast 120 drauf und die antriebslose Kiste fiel fast um. Dein Kommentar dazu: «Ah geh, da war doch eh nix dabei.»
Alle deine Kapriolen auf der Straße und auf den Rennpisten habe ich mehrere Jahre lang ja hautnah miterlebt. Bei deinen diversen Köln-Besuchen haben wir den einen oder anderen feucht-fröhlichen Abend verbracht. Glaub mir, diese gemeinsamen Erlebnisse in einer unbeschwerten Zeit habe ich sehr genossen.
Immer wieder gerne habe ich auch deine Einladungen nach St. Radegund in dein Wochenend-Häuschen angenommen. Eine total ruhige, abgelegene Location in malerischer Landschaft am Fuß des 1400 Meter hohen Grazer Hausbergs «Schöckl». In den frühen 1970er-Jahren wurde das Refugium für dich und deine Irmi zur dauerhaften Bleibe. Stets gut bewacht vom mächtigen und furchteinflößenden Neufundländer-Hund Gustav.
Hier durfte ich oft genug deine Gastfreundschaft genießen. Und hier stand auch deine Cross-Maschine, eine 175er-Puch, mit der du die Bauern und Förster in der Umgebung zur schieren Verzweiflung getrieben hast.
Später kam noch eine 500er-KTM-Cross-Maschine dazu. Die 175er-Puch habe ich dir damals abgekauft. Weil ich damit aber dann zu Hause zu oft zu hoch und zu weit gesprungen und häufig schmerzhaft gelandet bin, musste das Gerät nach einem familiären Ultimatum stillgelegt werden.
Wenn deine Grazer Clique mit großem Getöse in St. Radegund zur Pokerrunde einfiel, wackelte das einsam gelegene Anwesen in seinen Grundfesten. Überhaupt das Pokern, neben dem selbstgebrannten Marillen-Schnaps eine deiner großen Leidenschaften. Ob bei dir zu Hause, in der Grazer Szene-Kneipe «Pastete» oder an der Rennstrecke – wer sich mit dir aufs Kartenspielen einließ, war seine Barschaft in kürzester Zeit los.
Nachdem dein Kumpel Jochen Rindt für die «Kleine Zeitung» in Graz und die «Tagespost» wegen seiner häufigen England-Aufenthalte kaum noch persönlich greifbar war, haben die lokalen Blätter dich zum Kronprinzen aufgebaut. Die Sportredakteure beider Zeitungen zählten zu deinem persönlichen Freundeskreis. Herfried Teschl (Tagespost) und Harald Schaupp (Kleine Zeitung) saßen schon mal mit am Tisch, wenn fröhliche Abende mit selbstgebranntem Marillenschnaps stattfanden.
Schon um diese Zeit hast du deinen ausgeprägten Geschäftssinn erkennen lassen, der dir bis heute ein stattliches Vermögen eingebracht hat (in Graz erzählt man sich eh schon spaßeshalber, dass dir die halbe Stadt gehört).
Schon deine Formel V-Starts im Ausland hast du zum Anlass genommen, das siegreiche Auto an Ort und Stelle zu einem gesalzenen Preis zu verkaufen. Gerne auch gleich mit Transportanhänger, weil sich die Rückfahrt dann flotter gestaltete. Natürlich hast du obendrein noch Verkaufsprovision vom Teamchef kassiert ...
Einen deiner letzten großen, fast denkwürdigen Formel V-Auftritte hattest du Anfang August 1969 am Nürburgring. Du warst inzwischen beim neu etablierten McNamara-Rennstall im bayerischen Lenggries als gut bezahlter Fahrer, Geschäftsführer und Hausjurist gelandet. Der EM-Lauf im Vorprogramm des Formel-1-GP mutierte zu einem ultimativen Showdown der beiden neuen Nachwuchs-Stars Österreichs. Du im McNamara-Cockpit und der aufstrebende Niki Lauda als neue Kaimann-Speerspitze.
Ihr seid von Anfang an in einer eigenen Welt gefahren, nie mehr als eine Wagenlänge voneinander entfernt, ständig wechselnde Führung, jede Runde in neuer Rekordzeit. Als abgewinkt wurde, lag der Rest des Feldes eine halbe Minute zurück.
Wie schon beim EM-Lauf zwei Jahre zuvor an gleicher Stelle gab es wieder einen Eklat. Noch auf dem Siegerpodium kam es zu hitzigen Diskussionen zwischen dir und Lauda, der sich lautstark über deine rüden Manieren in der letzten Runde beschwerte. Landsmann Peter Peter als dritter Österreicher auf dem Podium hörte sich euer Gekeife amüsiert an. Teamchef Bergmann musste als Schlichter eingreifen.
Mit großer Freude habe ich deine weitere Entwicklung verfolgt und als Reporter begleitet. Sportwagen-Europameister 1971 im Lola T 210, Le Mans-Sieger im gleichen Jahr im Porsche 917.
Was habe ich mich gefreut, als du deine Formel-1-Chance bei BRM bekommen und dich in kürzester Zeit bis in die zweite Startreihe vorgekämpft hast (GP Frankreich in Clermont-Ferrand). Und was habe ich mit dir getrauert, als am 2. Juli 1972 genau bei diesem GP ein schicksalhafter Zwischenfall deine so hoffnungsvolle Rennfahrer-Karriere zerstört hat. Ein von Ronnie Peterson aufgewirbelter Stein durchschlug dein Helmvisier und traf gleich einer Gewehrkugel das linke Auge. Die Sehkraft war nicht mehr zu retten.
Lediglich neun Grands Prix waren dir vergönnt, aber du hast wenigsten überlebt. Dabei war nicht nur ich felsenfest davon überzeugt, dass du in ein paar Jahren um den Formel-1-WM-Titel mitgekämpft hättest. Immerhin hatte Ferrari schon seine Fühler nach dir ausgestreckt.
Die ebenso schwierige und deprimierende Genesungszeit von rund zwei Monaten hast du genutzt, um dein schnelles Leben neu zu ordnen.
Du hast dich für die Gründung deines eigenen Rennstalls (RSM = RennSportMarko) entschieden. Formel 3-DM, Formel 3000-EM waren deine Spielplätze, in beiden Rennserien haben deine Piloten je einen Titelgewinn erreicht. Die DTM war die letzte Station von RSM.
Und gleichzeitig hattest du da schon einen Namen wie Donnerhall als Talent-Scout, gefürchtet und geachtet wegen harter Analysen und unbequemer Wahrheiten.
Ich weiß noch sehr genau, wie wir beide mal bei einem Flugplatzrennen am Rande einer schwierigen Kurvenpassage standen und du deine gnadenlosen Schnellurteile gefällt hast: «Schau, der kann’s, und der kann’s nicht, so einfach ist das.» Etwa so hast du das später auch deinen Red Bull-Zöglingen manchmal ziemlich unverblümt erklärt …
Irgendwann hattest du genug vom eigenen Team und bist stattdessen in deine dritte Karriere als Leiter der Red Bull-Nachwuchsakademie gestartet. Dein klarer Blick für Talente hat Red Bull Racing bislang sechs WM-Titel mit selbst aufgebauten Akademie-Piloten beschert. Und der siebte Titel liegt 2023 in Reichweite. Das sollte dich als graue Eminenz und Berater des RBR-Rennstalls stolz und glücklich machen.
Leider haben wir uns in den letzten Jahren fast ganz aus den Augen verloren und nur noch selten mal telefoniert. Aber wie ich dich kenne, hast du deine bisherige, zeitraubende und phasenweise ziemlich anstrengende Rolle in der Formel 1 sehr bewusst gelebt und genossen. Vermutlich bist du längst im Reinen mit dem Rennsport, der dir zwar die Hälfte deines Augenlichts genommen, aber dir auch so viele große Momente beschert hat.
Lieber Helmut, ich gratuliere dir von ganzem Herzen und hoffe sehr, dass du dir deinen selbstgebrauten Marillen-Schnaps am Ende eines jeden langen Formel-1-Wochenendes weiterhin schmecken lässt. Besonders dann, wenn so ein runder Geburtstag wie dieser auch noch auf den Anreisetag des GP in Aserbaidschan fällt. Es gibt wahrlich schönere Orte, um einen 80. Geburtstag zu feiern. Aber vielleicht legt dir das Team ja dort einen weiteren Sieg auf deinen Gabentisch.
Bleib bitte gesund, munter und genieße die Zeit jenseits der 80. Ach, eh ich’s vergesse – was hast du noch vor ein paar Wochen in einem Interview mit dem Kollegen Gerhard Kuntschik hier bei SPEEDWEEK.com gesagt: «Ich kann jederzeit aufhören.»
Wohl dem, der diese Wahl treffen kann, wann immer ihm danach ist.
Herzlichst
Dein alter Weggefährte Rainer