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Mexiko-Stadt: Willkommen im normalen Wahnsinn

Kolumne von Mathias Brunner
​Der schnellste Weg von unserer Unterkunft zur Rennstrecke ist das Fortbewegungsmittel von 4,5 Millionen Einwohnern von Mexiko-Stadt – die U-Bahn. Allerdings braucht das eine gehörige Portion Nerven.

Die Benutzung der U-Bahn ist in Mexiko-Stadt für viele Menschen pure Notwendigkeit: Eine Fahrt kostet nur 5 Peso, weniger als 25 Cent, und auf diese Weise entgeht nicht nur der Mexikaner den traumatischen Verkehrsstaus.

Der Strassenverkehr von Mexiko-Stadt ist ungefähr so hoffnungslos wie jener in São Paulo. Wir reden hier von einem nicht eben wollenden Infarkt.

Kein Wunder weichen jeden Tag 4,5 Millionen Mexikaner auf die U-Bahn aus, die «Sistema de Transporte Colectivo Metro», kurz STC Metro heisst. Das U-Bahn-Netz von Mexiko-Stadt wird aus zwölf Linien und 215 Stationen gebildet, davon bieten 30 eine Umsteigemöglichkeit zwischen mindestens zwei Metrolinien. 124 der Bahnhöfe sind unterirdisch, 57 sind oberirdisch und 34 befinden sich in Viaduktlage mit leistungsfähigen Fussgängerbrücken. So weit zum Grundsätzlichen.

Das Metronetz weist eine Länge von rund 250 Kilometern auf und ist ein Gottesgeschenk für die Mexikaner, vor allem für jene, die nicht lesen oder schreiben können.

Das clevere Symbol-System

Denn die Stationen haben nicht nur Namen, sondern auch Symbole – ein Vogel, eine Traube, ein Maiskolben, eine Kanone und so fort. Eingeführt wurden diese Piktogramme 1969 basierend auf einem System von Lance Wyman, weil der Anteil von Menschen in Mexiko erschreckend hoch bleibt, die nicht lesen können. Und so sagen sich viele Analphabeten einfach: Ich fahre vom Grashüpfer bis zur Ente, dann nehme ich den nächsten Zug Richtung Adler und steige beim Brunnen aus. Einfacher geht’s nicht.

Der tägliche Weg des Berichterstatters Ihres Vertrauens hier in Mexiko-Stadt: Von der Unterkunft 850 Meter Fussmarsch die Donato Guerra hoch in die Calle Articulo 123, dann links in die Calle Balderas und Abtauchen ins Dunkel der Metrostation Juárez (Zeichen: ein Nobelmann). Mit der grünen Linie Richtung Universität bis Centro Médico (Äskulap-Stab), dort Linienwechsel auf die braune Neun und von dort Richtung Pantitlán, bei der Ciudad Deportiva aussteigen, und zehn Gehminuten später stehen wir im Formel-1-Fahrerlager. Leicht atemlos, weil wir die dünne Luft nicht gewöhnt sind.

So weit zur Theorie. Aber das ist mehr, viel mehr.

Wie voll ist die Metro in Mexiko-Stadt? Sagen wir es mal so – gemessen an der Menschendichte hier im Zug haben Sardinen in ihrer Büchse einen Ballsaal. Proppevoll bedeutet, man ist Menschen nahe, denen man aus freien Stücken eigentlich nicht nahe sein will. Vor allem dann nicht, weil an einigen die Erfindung des Deodorants spurlos, aber leider nicht geruchlos vorbei gegangen ist. Viele tragen eine Maske.

Und so ergeht es einem Metro-Rookie in Mexiko: Bei der Rückkehr der Formel 1 im Jahre 2015 stand ich fassungslos am Bahngleis, als ich meinen Zug einfahren sah: Nicht einmal in Shanghai habe ich so viele Menschen in der Metro gesehen, und das will was heissen. Die Tür ging auf, gefühlte 4569 Sardinen schwammen heraus, der Zug sah aber noch immer gleich voll aus, was zweifellos eine optische Täuschung sein musste, denn 4568 Sardinen pressten sich neu hinein.

Raten Sie mal, welche Sardine noch immer wie vom Donner gerührt am Bahnsteig stand. Genau.

Beim darauffolgenden Zug machte ich es dann wie die Mexikaner: Zug kommt, Tür geht auf, dann einfach voll dagegenhalten und irgendwie reinpressen. Ellbogen in den Rippen, fremde Füsse auf den eigenen und ein paar böse Blicke sind da ganz normal.

Die Mexikaner schicken sich längst in ihr Schicksal, was das Sardinen-Dasein angeht, schimpfen aber über die Unpünktlichkeit der Züge, so wie Miriam Reyes auf X (vormals Twitter), @shinigam901.

Angriff der fliegenden Händler

Mit zunehmender Fahrzeit Richtung Rennstrecke leert sich die Metro an diesem Mittwoch ein wenig, und wir haben mehr Zeit, die atemraubenden Künste der fliegenden Händler zu bestaunen, mit ihren Plastiksäcken voller Ware und dem unvergleichlichen Anpreisungs-Singsang: Lose, Kugelschreiber, Süsszeug, leuchtende Plastikgeister, denn bald ist wieder Tag der Toten. «Eiiiiiiiner für zeeeeeeeehn Peso! Zweeeeeeeei für fünfzeeeeeeeeehn Peso! Greifen Sie zuuuuuuuuuu!»

Heute im Sonderangebot: Damenbinden. Das Alter der Verkäuferin ist nicht leicht einzuschätzen. Ich aber ihren Runzeln zufolge war sie schon am 16. September 1810 dabei, als der Priester Miguel Hidalgo zum bewaffneten Widerstand gegen die spanische Kolonialherrschaft aufrief, was letztlich zur Unabhängigkeit von Mexiko führte.

Kaum einer kauft was. Die meisten Mexikaner lernen das Display ihres Handys auswendig, um den Verkaufsattacken zu entgehen. Das Gleiche gilt für die drei Nachwuchs-Rapper, welche heute die Zuggäste zugetextet haben. Ich gebe freimütig zu – ich habe kein Viertel dessen verstanden, was sie herumbrüllten. Dem Gesichtsausdruck der anderen Metropassagiere zufolge konnte ich von Glück reden.

Und ja keinen Blickkontakt! Sonst steht ein Händler sofort vor uns, weil er glaubt, wir hätten Interesse. Dann gibt es kein Entrinnen. Unter zwei Kugelschreibern und drei Pack Kaugummi ist dann nichts zu machen.

Irgendwann wird aus der U-Bahn eine Ü-Bahn, denn aus dem Dunkel der Untergrundtunnels fährt die Bahn (übrigens auf Gummirädern) auf einmal ins Freie. Ein kurzer Fussmarsch, und ich stehe auf dem Renngelände des Autódromo (Betonung auf dem ersten O) Hermanos Rodríguez (Betonung auf dem I).

2015 waren die Journalisten baff: Der Pressesaal im ersten Stock erwies sich als fensterloser Bunker, düster, unfreundlich, von der Air-Condition in ein Gefrierfach verwandelt, Bilder und Zeiten zittrig auf die Wände gespielt und kaum zu lesen. Auch mit Brille nicht.

Damals machte ich neugierig eine Tür auf: Sie führte ins Freie, gleissendes Sonnenlicht überflutete alles, allerdings führte der Weg auch fünf Meter in die Tiefe. Ohne Netz und doppelten Boden, von einer Treppe oder Geländer ganz zu schweigen. Die Mexikaner waren dann so nett, die Tür diskret zu verriegeln, nur für den Fall, dass jemand vielleicht forsch in den nächsten Raum treten will.

Geändert hat sich wenig: Noch immer keine Fenster. Dafür sind die auf die Wand geworfenen Bilder so scharf wie das mexikanische Essen.

Es gibt scharf, schärfer und Mexiko

Dabei, wenn wir schon beim Thema sind, gilt für den normalen Europäer die höfliche Ermahnung: Scharf im mexikanischen Sinne hat mit scharf bei uns zuhause herzlich wenig zu tun, glauben Sie es mir einfach.

In Europa behelfen wir uns bei einer Schärfeattacke auf unsere Geschmacksknospen mit einigen bewährten Tricks – ein Stück Brot essen etwa.

Wer mexikanisch scharf bestellt, kann gleich mal einen Feuerlöscher mit dazu bestellen. Oder die Ambulanz. Da nützt kein Brot der Welt mehr etwas.

Und wer verblüffend findet, was ein rassiges Chili so allem in Mund und Rachen anstellt, der sollte sich folgerichtig fragen, was später im Magen passiert. Oder im weiteren Verlauf der Verdauung.

Untereinander wünschen sich die Mexikaner für guten Appetit ein «¡Buen provecho!». Es hat schon seine Gründe, wieso sie dem Europäer beim Essen lächelnd sagen: «¡Buena suerte!» – viel Glück.

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