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Strafen in der MotoGP: Auge um Auge, Zahn um Zahn?

Kolumne von Michael Scott
Cal Crutchlow: Im Rennen hat der Start nicht gepasst

Cal Crutchlow: Im Rennen hat der Start nicht gepasst

Ex-Weltmeister Freddie Spencer steht seit Beginn des Jahres dem Stewards-Panel vor, das über die Strafen in der MotoGP-WM entscheidet. Die gegen Cal Crutchlow verhängte «ride through» erhitze in Las Termas die Gemüter.

Die Vorstellung von Freddie Spencer, der mit verschränkten Armen schweigend dasteht, vor einem wild gestikulierenden Cal Crutchlow, wird lange im Kopf bleiben. Das war zumindest die Situation, die Crutchlow nach dem Argentinien-GP beschrieben hat – und es fällt nicht schwer, sich das auszumalen.

Crutchlow ist einer, der sich ziemlich aufregen kann. Und Freddie ist geübt darin, sich gleichgültig zu geben. Es ist die unaufhaltbare Kraft, die auf das unbewegliche Objekt trifft, immer wieder.

Falls ihr – was unwahrscheinlich ist – das Video noch nicht gesehen habt, das Crutchlows mutmaßlichen Frühstart zeigt, für den er die Standard-Strafe, die 'eine passt für alle ride-through-penalty', aufgebrummt bekommen hat, lasst es mich euch erklären.

Der Vorjahressieger balancierte auf seiner LCR-Werks-Honda, die Augen auf die Ampel gerichtet, die Kupplung gegen den Lenker gezogen, die Drehzahl am Begrenzer. Ein Bruchteil einer Sekunde vor dem Start bewegt sich sein Motorrad nach vorne. Weniger als drei Zentimeter, das Vorderrad begann gerade, den Anfang der weißen Linie, die seinen Startplatz begrenzt, zu berühren.

Seine Erklärung machte Sinn: Mehr als der Versuch, einen unfairen Vorteil herauszuschlagen, hat er nur den Moment vorausgesehen, sich vom Fußballen auf die Zehen bewegt.

Eine halbe Sekunde später fuhr er los, ein starker Start, der ihn vom achten Startplatz in der ersten Kurve auf Platz 6 nach vorne katapultierte. So weit, so gut. Dann, in der dritten Runde, tauchte auf seinem Pit-Board die gefürchtete Nachricht auf: «Jump start. Ride through.»

Seine ganzen – berechtigten – Hoffnungen auf einen möglichen Podestplatz waren dahin – und die Zündschnur seines beeindruckenden Naturells war entflammt. Als er die Stufen hochsprang – nachdem er vom Ende des Feldes bis auf Rang 13 vorgefahren war, in den Punkten, mit der zweitschnellsten Rennrunde – glühte er.

Besonders weil es Spencer war, der an der Spitze der Straf-Crew stand. Als die Fahrer gefordert hatten, dass der neue unabhängige Vorsitzende der Stewards (der den Renndirektor in dieser Rolle ersetzte) einer sein sollte, der ein persönliches Verständnis von Rennfahren hatte, hätte es kaum einen besseren Kandidaten geben können. Es schien zumindest so.

Die Analyse von Crutchlows Rundenzeiten zeigt, dass er bei der Durchfahrtsstrafe mehr als 26 Sekunden verloren hatte: Zieht man das von seiner Rennzeit ab, dann hätte er leicht auf Platz 2 landen können, zwischen Márquez und Rossi. Er hat sicherlich nicht ganz Unrecht.

Aber haben auch Spencer und seine Truppe nicht ganz Unrecht? Sie können auf den Wortlaut des Regelwerks verweisen. Aber die Ernennung einer Figur wie der ehemalige «Fast Freddie» hatte sicherlich zum Ziel, eine Ebene an Ermessensspielraum und Verhältnismäßigkeit einzuführen, neben der Autorität, um sich durchzusetzen.

Ist es richtig, dass ein winziger unbeabsichtigter Regelverstoß eine derart schwere Strafe zur Folge hat? Am selben Nachmittag, in der Moto2-Klasse, wurde Brad Binder endlich für ein aggressives Manöver zu viel bestraft. Er war – untypischerweise – seit Freitag so gefahren: Er stahl die Innenlinie und drängte die Fahrer weit nach außen. Im Rennen ließ er Spuren der Red Bull-KTM-Lackierung an Luca Marini und Marcel Schrötter – Letzeren hat er fast von der Strecke gestoßen.

Wegen «mehrfacher Vergehen» wurde Binder um einen Platz nach hinten versetzt, auf Rang 6, während Schrötter den fünften Platz übernahm.

Crutchlows Vergehen verschaffte ihm nicht nur keinen Vorteil, es brachte auch (im offiziellen Wortlaut) «keinen anderen Fahrer in Gefahr». Dennoch verlor er 11 Plätze.

Es mag eine Denkweise geben, dass Regeln Regeln sind, dass jede nachlässige Interpretation auf das Glatteis führt. Crutchlow hat sich bewegt, die Regeln sind klar, er muss eine Durchfahrtsstrafe bekommen. Sonst würden alle anderen Fahrer wohl oder übel auf die Zehenspitzen gehen. Und wo führt das hin?

Das ist eine Entscheidung, die ein Computer hätte treffen können. Dafür braucht es keinen Stewards-Panel und keinen Vorsitzenden. Die künstliche Intelligenz ist hell genug, um das zu übernehmen. Spencer kann zurück zu seinen Vlogs, Crutchlow kann wieder in die Boxengasse. Job erledigt.

Aber sicherlich sollen die Stewards und ein Ausschuss und ein erfahrener und respektierter Vorsitzender genau das vermeiden. Der Zweck von Richtern ist, dass sie Recht sprechen und nicht unverhältnismäßige Strafen stärken.

Spencer ist ein legendärer und immer sauberer und fairer Fahrer, und ein verblüffend schneller. Es ist sein erstes Jahr in seiner neuen Rolle. Vielleicht versucht er, früh Eindruck zu machen, als Galgen-Richter.

Das Ergebnis deutet darauf hin, dass er – mit Absicht oder nicht – die langgehegte Sicht der Fahrer bestätigt, dass Strafen im Rennen auf eine höchst schwankende und sogar skurrile Art und Weise ausgeteilt werden – und oft wirklich unfair sind.

Spencers Leistungen als Fahrer und sein Auftreten als Gentleman verdienen mehr als diese Verurteilung. Lasst uns hoffen, dass er und seine Kollegen es schaffen, dies von jetzt an zu vermeiden. Und dass jeder Fahrer, der genauso unabsichtlich eineinhalb Zentimeter in der Startaufstellung stiehlt, eine entsprechende Strafe erhält... zu eineinhalb Zentimetern.

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