Ein Hoffnungsschimmer bei der KTM AG

Helmut Marko: «Meine wilde Zeit mit Jochen Rindt»

Von Andreas Wollinger
Dr. Helmut Marko

Dr. Helmut Marko

Auf den Straßen um Bad Aussee erlernten Helmut Marko und Jochen Rindt die Kunst der Fahrzeugbeherrschung. Ohne Führerschein, aber mit Begeisterung. Der Doktor erinnert sich.

Helmut Marko steht in einer Parkbucht am Koppenpass, der Bad Aussee mit Obertraun am Hallstätter See verbindet, in seinem Rücken ein feuerwehrroter Porsche 356, und schaut angestrengt den Hang hinauf. «Irgendwo da oben muss die Straße gewesen sein», sagt er in seinem markanten Steirisch, «die Strecke heute hat ja mit dem Verlauf von damals nicht sehr viel zu tun.“

Gut, von Obertraun herauf, auf der oberösterreichischen Seite des Passes, da ist alles noch genauso wild und selektiv wie damals, vor sechzig Jahren, aber auf der steirischen Seite ist praktisch kein Stein auf dem anderen geblieben. «Ja, so ist das: Alles wird nivelliert», sagt Marko, halb zu sich, halb zu uns.

Man mag es kaum glauben, aber Marko, den in der Formel 1 alle nur ehrfürchtig «den Doktor» nennen, war seit den frühen Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts nicht mehr hier.

Anlass der Rückkehr: The Red Bulletin hat die graue Eminenz von Red Bull Racing gebeten, einen Roadtrip zu seinen Wurzeln zu unternehmen – in eine extrem wilde Zeit, die er mit seinem damals besten Freund Jochen Rindt verbrachte.

Jochen Rindt: Urknall des österreichischen Rennsport-Universums, 1970 in Monza tödlich verunglückte Formel-1-Ikone, der einzige posthum zum Weltmeister erklärte Pilot der Geschichte. Ohne ihn gäbe es keine erfolgreichen österreichischen Grand-Prix-Piloten, keine Rennstrecke in Spielberg, keine Formel-1-Begeisterung in Rot-Weiß-Rot.

Die beiden Säulenheiligen des heimischen Motorsports hatten einander schon als Halbwüchsige in Graz kennengelernt. Basis der Freundschaft waren gemein same Interessen: zuerst Mopeds, dann Mädchen. «Wann immer die Eltern ein Wochenende weggefahren sind», erzählt Marko, heute jugendliche 77, «ist in deren Haus oder Wohnung eine Party organisiert worden. Da war der Jochen – er war ja ein Jahr älter – wirklich sehr, sehr gut: Er hat immer die tollsten Mädchen dahergebracht.»

Ein Draufgänger, der auf Regeln pfiff

Aber auch sonst hatte man mit Jochen viel Spaß – vor allem, weil er «unglaublich unternehmungslustig und immer gut aufgelegt war». Ein Draufgänger, der sich um gesellschaftliche Regeln nicht viel scherte und nicht lang fragte, ob etwas erlaubt oder verboten ist. «Bei den anderen Eltern», erinnert sich Marko schmunzelnd, «galten wir nicht unbedingt als die, mit denen man die eigenen Kinder sehen wollte.»

Die unerschrockene Art hatte, glaubt Marko, mit Rindts persönlicher Geschichte zu tun: In Deutschland geboren, verlor er seine Eltern bei einem Bombenangriff gegen Kriegsende und kam als Baby zu den Großeltern nach Graz. «Die waren nicht so streng wie Eltern», meint Helmut Marko. «Jochen hat mehr Freiheiten gehabt als andere. Und er war, als Erbe einer Gewürzmühle in Mainz, finanziell recht gut gestellt.»

Das Einzige, was unter diesen Rahmenbedingungen litt, war der schulische Erfolg. Als im Verlauf der 7. Klasse Gymnasium, Rindt und Marko waren inzwischen Klassenkameraden, ein Zeugnis zum Desaster zu werden drohte, boten die zwei ihren Lehrern einen Deal an: Gegen ein positives Zeugnis würden diese sich nie wieder mit ihnen herumärgern müssen.

Gymnasium der letzten Hoffnung

Es war nämlich so: Ein Freund hatte ihnen erzählt, dass es im Salzkammergut ein Internat gebe, das für junge Herren, die der Schule nicht den nötigen Ernst entgegenbrachten, ein wahres Paradies sei. Eine private Einrichtung, die den Ruf des «Gymnasiums der letzten Hoffnung» hatte. Hier würden sie ohne übermäßige Anstrengung die Matura machen und nebenbei eine Menge Hetz haben. Ein paar prominente Namen aus der Liste der Schüler: Tausendsassa André Heller, der Industrielle Thomas Prinzhorn und die Rennfahrer Niki Lauda und Harald Ertl.

So kamen Jochen Rindt und Helmut Marko nach Bad Aussee. Und wie kamen sie zu dem Auto, an dem sich ihre Leidenschaft zum Rennfahren entzündete? Marko: «Wir waren am Krippenstein Ski fahren. Und weil wir damals alles extrem machten, hat sich der Jochen den Oberschenkel gebrochen. Das Problem war, dass Internat und Schule eine halbe Stunde Fußweg auseinander lagen, das war mit einem Komplettgips natürlich nicht zu machen. Daraufhin hat Jochens Großvater einen VW Käfer mit Chauffeur organisiert. Der hätte Jochen jeden Tag in die Schule bringen sollen. Das hat er auch zwei, drei Tage gemacht. Bis wir dem Großvater gesagt haben: Wir brauchen den Fahrer nicht, wir haben eh einen Mitschüler mit Führerschein, dadurch sparen wir Kosten.» Lachend fügt der spätere Le-Mans-Sieger hinzu: «Wahrscheinlich hat auch irgendeiner einen Führerschein gehabt. Aber die, die gefahren sind, hatten jedenfalls keinen.»

Während Rennfahrer von morgen heute ihre Sinne im Kindesalter gefahrlos im Gokart schärfen, entwickelten Rindt und Marko die Fähigkeit zur Fahrzeugbeherrschung als Teenies in freier Wildbahn, auf öffentlichen Straßen rund um Bad Aussee, zum Beispiel auf den zehn Kilometern über den Koppenpass nach Obertraun. «Das Auto ist immer am Limit bewegt worden», erinnert sich der Doktor. Wobei man sich der Sache auf spielerische Weise näherte. Sie saßen zu viert im Auto; einer fuhr, die drei anderen bildeten die «Jury». Machte der Pilot einen Fehler oder fuhr zu knieweich in eine Kurve, war ein Fahrerwechsel die Folge.

Der Käfer war eine Herausforderung für sich: 30 PS, null Straßenlage, Seilzugbremsen. «Das heißt, dass jedes Rad anders gebremst hat», sagt Marko, «einmal hat ein Rad blockiert, dann ein anderes.» Kurz: Ein besseres Werkzeug für die Entwicklung von Gefühl im Hintern kannst du kaum finden. Detail am Rande: Damals gab es weder Sicherheitsgurte noch ein Tempolimit auf Freilandstraßen.

Für die Erinnerungsfahrt 2020 hat Helmut Marko einen Porsche 356 ausgesucht. Aus drei Gründen ist das eine stimmige Wahl: Erstens stammt das Auto genau aus der Zeit Anfang der Sechzigerjahre, in der diese Geschichte spielt. Zweitens hatte er mit Ferdinand Porsche den gleichen Schöpfer sowie das gleiche Konstruktionsprinzip wie der alte Käfer, ist aber deutlich hübscher anzuschauen. Und drittens hatte der Kunstprofessor in der Schule einen gehabt – und damit immer die tollsten Frauen abgestaubt.

Berufswahl am Nürburgring

Der Plan mit der nachgeschmissenen Matura ging dann doch nicht auf. Kurz vorher wurde der Schule das Öffentlichkeitsrecht entzogen, und die Reifeprüfung musste anderswo abgelegt werden. Das Resultat: Sowohl Marko als auch Rindt flogen durch. In Graz würde es deshalb nur unnötig Ärger geben. Also fuhren sie in Rindts neuem Auto, einem Simca, in die entgegengesetzte Richtung: zum Grand Prix auf den Nürburgring. «Wir haben in der Wiese neben dem Auto geschlafen», erinnert sich der Doktor, «der infernalische Lärm der vorbeirasenden Rennautos hat uns geweckt. Da hat Jochen plötzlich gesagt: ‚Das will ich auch machen!‘ Ich hab ihn nur verwundert angeschaut, weil das für uns so unvorstellbar weit weg war.»

Wie wir heute wissen, hat Jochen seinen Entschluss dann beinhart durchgezogen. Während Helmut Marko auf dringenden Wunsch seines Vaters Jus studierte, ging sein Freund nach ersten Rennen in Österreich nach England, um die internationale Racing-Szene aufzumischen. Das ringt Helmut Marko noch heute Respekt ab: «Unser Schulenglisch hat ja grad mal gereicht, um etwas zu essen zu bestellen. Da brauchst du Mut, eine Vision. Und viel Selbstvertrauen.»

Der schnelle Ruhm habe Jochen Rindt kaum verändert, sagt Marko. Nur sein Lebensstil war plötzlich ungleich glamouröser: «Er hat Geld gehabt, einen eigenen Flieger und unser Traumauto, einen Jaguar E – so was hat man ja nur von Filmstars gekannt. Doch wenn er nach Graz gekommen ist, hat es die gleichen Partys gegeben wie immer.»

Rasend schnell wurde aus dem unerschrockenen Buben aus Graz mit der schiefen Nase «der erste Popstar des Rennsports», wie Marko einmal konstatierte. Weil er seine Eigenheiten zu Markenzeichen erhob: die ständig im Mundwinkel hängende Zigarette; der Gang mit stark nach innen gerichteten Schuh-spitzen; die extravagante Kleidung. «Er ist mit seinem ganzen Auftreten herausgeragt aus der Masse», sagt Marko.

Angebot beim Begräbnis

Und dann: das Ende, mitten in einer Phase der größten Triumphe. «Unser Zugang zum Tod war: Wenn’s passiert, dann passiert’s eben», schildert Marko Jochen Rindts tödlichen Unfall vom September 1970, von dem er im Radio in der Wohnung eines Freundes erfuhr. «Aber als es dann wirklich passiert ist, konnten wir das überhaupt nicht verarbeiten. Und auch nicht akzeptieren. Wir haben uns dann mit Alkohol betäubt. Dieser Abend ist mir bis heute in Erinnerung.»

Beim Begräbnis ist er dann von einem Rennsport¬-Manager angesprochen worden. «Der hat mir ein irrsinnig tolles Angebot gemacht für die nächste Saison.»

Ernsthaft, beim Begräbnis?

«Ja», sagt Marko, «ich hab eh geglaubt, ich bin im falschen Film. Das war kein Österreicher, der hatte keine so starke emotionale Verbindung zu Jochen. Und wie gesagt: Tote waren damals im Motorsport an der Tagesordnung.»

Seltenes Bilddokument

Erstaunlicherweise gibt es kaum Fotos, die Helmut Marko und Jochen Rindt gemeinsam zeigen. Eines der wenigen Bilddokumente stammt vom Bergrennen in Stainz nahe Graz 1968. Rindt, damals schon ein etablierter Formel-1-Fahrer, kam mit einem privaten Brabham-Formel-2-Boliden in die steirische Provinz, um vor 20.000 begeisterten Zuschauern den Streckenrekord um eine halbe Minute zu verbessern. Helmut Marko, frischgebackener Doktor, fuhr Formel V und belegte Rang 10. Und ein gewisser Nikolaus Andreas Lauda wurde auf einem Porsche 911 Neunter. Markos Erinnerungen an das Ereignis sind etwas lückenhaft.

Er entsinnt sich bloß des gleichen Bergrennens 1970, bei dem Rindt Zweiter ge¬worden war und sich anschließend damit entschuldigte, er habe aus Rücksicht auf die Formel-1-WM nicht das Letzte aus seinem Auto herausgeholt.

«In Wahrheit», erzählt Helmut Marko lachend, «war unser Abendprogramm schuld daran, dass wir am Tag darauf nicht die Fittesten waren.»

Interessant, schmunzelt der Doktor dann, «jetzt fallen mir sogar die Damen dazu noch ein».

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