Willkommen in Arabien!
Hier wohnen wir leider nicht – das Viceroy Yas
Kein Mensch würde diesem Mann einen kaltblütigen Mord zutrauen: Eher kleine Statur, adrett gekleidet, tadellose Manieren, ein Händedruck wie ein feuchter Waschlappen, vorzügliches Englisch. In Wahrheit jedoch lockt er ahnungslose Ausländer in seinen Tiefkühlschrank, wo sie ihrem unsicheren Ende entgegenbibbern.
Seine Opfer sind normale Weltreisende wie Sie und ich. Ihre Arglosigkeit ist nachvollziehbar, sieht doch sein Tiefkühlschrank aus wie ein gängiges Mitteklasse-Auto der Marke Toyota. Nach wenigen Minuten in der Falle, wird mir klar: So fühlt man sich als gefriergetrockeneter Kaffee.
Willkommen in den Vereinigten Arabischen Emiraten, auf der Fahrt von Dubai Richtung Abu Dhabi.
Ich bitte meinen Fahrer, die Air-Condition von der Stufe «Am Fusse des Mount Everest, nachts bei Schneesturm» auf «eine Woche Erkältung» hochzuschrauben. Der Lokomotiv-Führer des Polar-Expresses knurrt etwas in seinen Viertages-Bart. Ich verstehe es nicht, habe aber den dringenden Verdacht, es könnte etwas mit meiner Mutter zu tun haben.
Vielleicht liegt seine Verstimmung auch am Leistenbruch, den er sich vor kurzem zugezogen hat: In unserem Koffer ruhen 70 Ausgaben von SPEEDWEEK, über die sich morgen alle Deutschsprachigen im Formel-1-Fahrerlager freuen werden.
Die Nacht von Dubai zieht am Fenster vorbei. Aus zahlreichen Wolkenkratzern glitzern Schweissbrenner herunter. Die Wirtschaftskrise ist auch am Mittleren Osten nicht spurlos vorbeigegangen. Noch im November 2009 drohte dem Emirat die Pleite. Immobilien-Haie wedelten damals so schnell aus dem Land, dass sie teilweise ihre Autos samt Schlüssel am Flughafen zurückliessen! Keiner hätte ihnen die Luxus-Karosse abgekauft.
Das Einzige, was in unserer Karosse Luxus ist, kühlt den Wagen auf gefühlte minus fünf Grad herunter. Die Autos haben hier – aus nachvollziehbaren Gründen – keine Heizung. Ich surre mein Fenster etwas herunter, um meine Überlebens-Chance während der Fahrt nach Abu Dhabi zu vervielfachen. Der Fahrer wirft einen Blick in den Rückspiegel, der sinngemäss sagt: «Weichei.»
Ich bin ein grosser Anhänger des Leitsatzes «Jede Verallgemeinerung ist gefährlich, sogar diese». Tatsache ist aber, dass es im Strassenverkehr der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) zwei Konstanten gibt: Erstens, jeder normale Nicht-Araber ist in einem Auto nach fünf Minuten schockgefroren. Und zweitens, höchste Vorsicht vor Fahrern in traditionellen Gewändern.
Nie würde ich mir anmassen, einen Witz über arabische Kopfbedeckungen zu reissen. Die religiösen oder gesellschaftlichen Gefühle der Gastgeber zu verletzen, ist nicht nur in Arabien ein Fauxpas. (An dieser Stelle ein Tipp: Falls Sie den Mittleren Osten bereisen, was durchaus zu empfehlen ist, dann streifen sie keine traditionelle Kleidung über und lassen sich in aller Öffentlichkeit ablichten, um zuhause einen billigen Lacher zu ernten. Die Menschen hier schätzen das wirklich nicht.) Fakt aber ist – die Rundumsicht wird durch das Tragen solcher Kleider nicht verbessert. Kommt hinzu, dass auch der Araber leidenschaftlich gerne mobil telefoniert. Das Diamanten-besetzte neue iPhone glitzert einfach zu wenig chic, wenn man die Freisprech-Anlage benutzt. Ach ja, und Rauchen ist hier nicht so verpönt wie im Westen.
Als Ergebnis erleben wir den Araber als wahren Kosmopoliten, selbst wenn er nie aus seinem Wüstenstaat hinauskäme: Er gestikuliert wie ein Italiener, hupt wie ein Inder, wechselt Spuren so rasant wie ein Brasilianer, pfeift auf den restlichen Verkehr wie ein Chinese und rollt dabei auf breiten Highways wie ein Amerikaner.
Nach unseren Erfahrungen in Indien hält sich unser Blutdruck trotzdem im grünen Bereich. Wer den Verkehrs-Infarkt des Grossraums Delhi überlebt hat, wird ja wohl auch die Fahrt von Dubai nach Abu Dhabi verkraften.
Ich habe Musse, um über das kommende Wochenende nachzudenken: Schafft dieser unheimliche Sebastian Vettel in Abu Dhabi den dritten Sieg in Folge? Schafft es Lewis Hamilton, sich von Felipe Massa fernzuhalten? Wie recherchiere ich im Fahrerlager mit abgefrorenen Fingern?
Ich freue mich aufs Renn-Wochenende, selbst wenn ich ins Gezeter des Formel-1-Trosses einstimmen muss. Davor ein kleiner geschichtlicher Einschub: Das Emirat Abu Dhabi (arabisch für: Vater der Gazelle) ist ein Teil jener Vereinigten Arabischen Emirate, die am 2. Dezember 2011 den 40. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit feiern werden. Vor 50 Jahren gab es hier vorwiegend Sand, Dattelpalmen, noch mehr Sand, etwas Viehzucht, Handel mit Perlen und Gold – und hatte ich den Sand schon erwähnt?
Die Briten fanden die ersten Ölfelder, und damit begann ein wirtschaftlicher Aufschwung ohnegleichen: Von den sieben Emiraten sind vor allem Dubai und Abu Dhabi bekannt, die weiteren fünf (Sharjah, Ajman, Umm al-Qaiwain, Fujairah sowie Ras al-Kaimah) würden bei korrekt-kehliger Aussprache anlässlich einer Strassenumfrage bei uns höchstens die Reaktion «Gesundheit!» hervorrufen.
Clever wie die Araber sind, ahnten sie vor Jahren, dass ihr Reichtum derzeit unermesslich, aber nicht unendlich ist: Irgendwann ist’s mit dem Öl Essig, daher wird der Bereich Tourismus in einem Ausmass und in Projekten ausgebaut, welche uns Rückenschmerzen bereiten – vom ständigen Bücken nach unserer Kinnlade.
Leider gehört zu diesem Boom auch, den Besucher anlässlich des Grand Prix nach Strich und Faden auszunehmen: Ein Hotelzimmer in Gehweite von der Strecke wird da schnell mal um den Faktor acht teurer, in der Stadt liegen die Preise gnädigerweise zwischen dem Doppelten und dem Vierfachen des üblichen Preises.
Kein Wunder, könnte da ein Gedanke auf den Berichterstatter kommen: «Moment mal – wir machen ein Wochenende lang Gratis-Werbung für Abu Dhabi und werden dafür auch noch über den Tisch gezogen?»
Zur Ehrenrettung des Arabers sei gesagt: Hotelpreise zu vervielfachen, ist auch an anderen GP-Austragungsorten eine Unsitte. Die Besucher knirschen mit den Zähnen, aber das kann auch mit dem Sand dazwischen zu tun haben.
Fast zwei Stunden sind vergangen. Von weit her leuchtet – wie ein geheimnisvoller Bergkristall – das Hotel Yas herüber. Ich weiss nun, wir sind bald in Abu Dhabi, selbst wenn ich zuerst im Lotto gewinnen müsste, um einmal im Bergkristall zu wohnen. Nur in Märchen von 1001 Nacht können solche Bauwerke errichtet werden, ich kann mich am Wechselspiel der Farben kaum sattsehen.
Wer nun aber glaubt, dass ausschliesslich Araber Geld für solche architektonischen Sünden hätten, der irrt – das Hotel ist seit diesem Jahr in US-amerikanischem Besitz und heisst nun «Yas Viceroy Abu Dhabi».
Es ist kurz vor halb drei Uhr in der Früh. Der Gang durch den Metall-Detektor fördert nichts Verdächtiges zutage, der Koffer darf ruhig nochmals durchleuchtet werden. Bei dreizehn Stunden Reise (von Wohnungstür in der Schweiz bis Zimmertür in Abu Dhabi) spielen diese zwei Minuten auch keine Rolle mehr. Die Rezeption ist auf meine eher spätere Anreise vorbereitet gewesen. Der Akzent der Empfangsdame deutet eher auf Russland hin als auf Amerika, jedenfalls ganz bestimmt nicht auf Arabien.
«We have fax you!» strahlt sie und versteht sogar meinen Witz, als ich antworte: «Lieber nicht, klingt nach Arbeit ...» Das Layout der kommenden SPEEDWEEK bekomme ich trotzdem.
Neben mir an der Rezeption checken Sébastien Buemi und sein Toro-Rosso-Teamchef Franz Tost ein. Er hat eine Kartonschachtel dabei. Ich wette einen meiner abgefrorenen Finger dafür, dass hier ein Evo-Teil drinsteckt.
Ich fasse einen elektronischen Schlüssel aus und schleppe mich samt Koffer in den Lift. Auf dem Weg dahin torkelt mir ein Mechaniker eines Rennstalls entgegen (und nein, ich werde nicht sagen, von welchem Team). Angesichts seines Zustands darf ich aber festhalten: Zum Glück wird morgen noch nicht gefahren!
Ich spüre starkes Verlangen nach einer Dusche. Jetzt noch rasch diese Online-Meldung absetzen (zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen), und dann werde ich mir erlauben, frisch geduscht am Kissen zu horchen und in aller Ruhe bis zum Morgen aufzutauen. Die Chancen dazu stehen gut: Bei der Air-Condition im Hotelzimmer habe ICH das Sagen.