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Hockenheim 1970: Rennstrecke versinkt im Chaos

Von Rainer Braun
​Der Nürburgring-Streik der Formel 1-Piloten verhalf Hockenheim zum ersten WM-Lauf. Am 2. August 1970 wurde das Motodrom vom gigantischen Zuschaueransturm überrollt.

«Wir sind wirklich kein Verein, der ständig streiken will, aber wir müssen eine Überlebenschance haben, wenn einer von uns hier rausfliegt. Es ist uns wirklich sehr ernst mit der Ankündigung, auf der Nordschleife nicht zu starten.»

Das ist eine Passage aus dem offiziellen Statement der Grand Prix Drivers’ Association (GPDA) vom Mai 1970, im Hinblick auf die Durchführung des Großen Preises von Deutschland auf dem Nürburgring. Mit dieser Verlautbarung beginnt damals für den AvD als Veranstalter ein gewaltiges Dilemma.

Dem AvD und der Nürburgring GmbH wird zeitgleich ein 18 Punkte umfassender Mängelkatalog zugestellt. Zur Realisierung bleiben knapp drei Monate. Bald wird klar, dass die Zeit für die Umsetzung aller Sicherheits-Forderungen keinesfalls reicht. Trotzdem versucht man zu retten was zu retten ist.

GPDA-Präsident Joakim Bonnier bleibt hart, und auch seine Abgesandten Jochen Rindt und Graham Hill akzeptieren bei der Ende Juni angesetzten Streckenbegehung keine Kompromisse.

Damit ist der Boykott des deutschen Formel 1-WM-Laufs auf der Nordschleife des Nürburgrings fünf Wochen vor dem Renntermin so gut wie beschlossen.

Dass der mächtige AvD-Sportsekretär und FIA-Delegierte Herbert Wilhelm Schmitz die GPDA auch noch öffentlich als «Ganovenverein mit Mafia-Methoden» bezeichnet, trägt keinesfalls zur Entspannung der Lage bei. Bonnier & Co. reagieren empört.

Der AvD als Veranstalter muss reagieren, und zwar unverzüglich. Der Planungsstab mit Sportpräsident Huschke von Hanstein und Verwaltungsdirektor Hans-Jürgen Linden an der Spitze erkennt den Ernst der Lage schnell, es bleibt nur die Wahl zwischen Absage oder Ortswechsel.

Eine Terminverschiebung nach hinten ist mit FIA und GPDA nicht verhandelbar, obendrein droht die Nürburgring GmbH mit Regressforderungen, falls es am ersten August-Wochenende in der Eifel kein adäquates Ersatz-Rennen gibt. Zumal aus dem längst angelaufenen Vorverkauf für den Ring-Termin schon mehr als 50.000 Karten abgesetzt wurden.

Nach Abwägung aller Optionen trifft der AvD-Verwaltungsrat aus der Not heraus die Entscheidung, den Großen Preis von Deutschland kurzfristig ins Motodrom nach Hockenheim zu verlegen.

Der Nürburgring soll am selben Wochenende mit einem AvD-Preis von Deutschland für Formel 2-Rennwagen plus Rahmenprogramm entschädigt werden.

Somit muss der AvD erstmals in seiner Geschichte innerhalb weniger Wochen eine Doppel-Organisation für zwei Großveranstaltungen am selben Wochenende auf die Beine stellen.

Hockenheimring-Chef Erwin Fuchs ist über den Glücksfall Formel 1 und den zu erwartenden Geldsegen hocherfreut. Trotz knapper Vorbereitungszeit ist er sofort bereit, den deutschen Formel 1-GP zu übernehmen. In Windeseile wird dort der Countdown gestartet und schon wenige Tage später beginnt Hockenheim mit dem weiteren Vorverkauf der Eintrittskarten.

Die Ereignisse am Renn-Sonntag nehmen dann allerdings unerwartet chaotische Züge an.

Offenbar wurden schon im Vorverkauf weit mehr Tickets abgesetzt, als es im Motodrom Sitzplätze gibt. Da auch die Tageskassen in Hockenheim munter weiter verkaufen und gleichzeitig schon bezahlte Karten aus dem Nürburgring-Vorverkauf umgetauscht werden, entsteht schlagartig ein gigantischer Publikumsandrang.

Schon in aller Frühe um acht Uhr sind alle Tribünenränge voll besetzt, und der Zustrom von nachdrängenden Platzsuchenden reißt nicht ab.

Laut Aussage der Polizei-Einsatzleitung vor Ort mussten bereits nachts gegen drei Uhr in einer Blitzaktion die Tribünenaufgänge geöffnet werden, weil sich schon um diese ungewöhnliche Zeit Zuschauer-Massen vor den Aufgängen drängelten und die Stimmung zeitweise aggressive Züge annahm.

Parkplätze gibt es seit der Nacht auch keine mehr, jeder stellt sein Auto in und um Hockenheim ab, wo sich gerade ein Plätzchen anbietet. Innerhalb weniger Stunden gibt es in Hockenheim kaum noch eine Straße, die nicht beidseits zugeparkt ist.

Auch alle Parkplätze der rund ums Motodrom sind dicht. Wer nach 9.00 Uhr mit dem Auto anreist, muss auf Wald-, Feld- du Wiesen-Areale ausweichen.

Als der Tag anbricht, sind sogar die sonst weniger frequentierten Tribünenbereiche im weiten Rund des Motodroms komplett besetzt. Und schon gegen neun ist eigentlich jedem klar, dass hier keine Maus mehr reinpasst. Dazu muss man wissen, dass das gesamte Motodrom damals nur maximal 65.000 Sitzplätze hatte.

Derweil kommt es zu tumultartigen Szenen und sogar Handgreiflichkeiten um vermeintlich unberechtigt oder doppelt besetzte Sitzplätze.

Kletterfähige Zuschauer haben unterdessen damit begonnen, sich einen Platz auf den Eternit-Flachdächern der Tribünen zu sichern. Das wiederum ruft die Polizei-Einsatzleitung auf den Plan, die eine schnelle Krisensitzung mit den Verantwortlichen der Rennstrecke und dem AvD-Präsidium einberuft.

Soweit möglich, werden die zuständigen Architekten telefonisch befragt. Da Einsturzgefahr durch Überlastung nicht ausgeschlossen werden kann, müssen die Dächer gegen Mittag wieder geräumt werden, was aber nur teilweise gelingt. Dabei hätten die Verantwortlichen gewarnt sein müssen, denn schon am Samstag ist die Hütte so brechend voll wie noch nie zuvor.

Angesichts der zunehmend aggressiven Stimmungslage unter den Zuschauern entschließt sich die Hockenheimring GmbH nach Rücksprache mit der Polizei, den beträchtlichen Publikums-Überhang auf die Waldbereiche entlang der beiden Geraden abfließen zu lassen.

Die rund 15.000 offiziellen Stehplätze am Hardtbachdamm und in der Ostkurve waren sowieso schon längst überbelegt.

So stehen die Zuschauer nun auch entlang der Geraden dicht gedrängt in Dreierreihen im Wald oder haben Bäume erklommen. Am Abend gibt der Veranstalter die offizielle Besucherzahl mit 110.000 an, tatsächlich aber rechnet die Hockenheimring GmbH wenige Tage später beim AvD allein für den Sonntag etwa 135.000 verkaufte Tickets ab …

Während Zuschauerzahlen gerade in der heutigen Zeit gerne hemmungslos nach oben frisiert werden, ist es zumindest damals in Hockenheim für einmal umgekehrt gelaufen.

Wie lächerlich muten da jene 155.000 Besucher an, die leichtfertig und ohne rot zu werden in einer offiziellen Pressemitteilung der ITR für das DTM-Finale 2014 in Hockenheim angegeben werden. Wo sollen die denn Platz gefunden haben?

Zurück zum heißen Formel 1-Sonntag 1970. Der sportliche Teil wird zum echten Leckerbissen.

Jochen Rindt im Lotus 72 und Jacky Ickx im Ferrari liefern sich bei extremen Außentemperaturen um 35° ein sehenswertes Duell, das sich vor allem im letzten Renndrittel dramatisch zuspitzt. Mal führt der eine, mal der andere und beide liegen nie mehr als eine Wagenlänge auseinander.

In der letzten Runde setzt sich Rindt hauchdünn vor Ickx durch, der Rest mit Denny Hulme & Co. kommt rund eine Minute später ins Ziel.

Als einziger deutscher Teilnehmer erreicht Rolf Stommelen im Brabham mit einer Runde Rückstand als Fünfter das Ziel. WM-Leader Rindt wird nach seinem hauchdünnen Sieg über Ferrari-Star Ickx vom Publikum wie ein Popstar gefeiert.

Wegen der Karten- und Platz-Misere gibt es in den Tagen nach dem GP noch viel Ärger für Veranstalter und Rennstrecken-Betreiber.

So gehen beim AvD in Frankfurt Regressforderungen erboster Zuschauer ein, die ihr Eintrittsgeld für den nicht vorgefundenen, aber bezahlten Sitzplatz zurückhaben wollen.

Ähnliches spielt sich in den Verwaltungsbüros der Hockenheimring GmbH ab. Selbst bei AvD-Sportpräsident von Hanstein zu Hause in Stuttgart landen per Post und Telefon wüste Drohungen. Staatsanwaltschaften müssen sich sogar mit Betrugsanzeigen beschäftigen.

«Leider ist wegen der kurzen Vorbereitungszeit so einiges beim Kartenverkauf schief gelaufen», lassen die Verantwortlichen kleinlaut per Pressemitteilung wissen, «wir können uns bei den Betroffenen nur in aller Form entschuldigen.»

Schiefgelaufen ist allerdings außer dem Kartendebakel noch mehr an diesem mörderisch heißen Sonntag.

Ein Verkehrskollaps von noch nie erlebtem Ausmaß erwartet die Besucher nach dem Rennen. Totaler Stillstand in alle Richtungen.

Polizei und Ordnungsdienste haben schon im Laufe des Abends irgendwann vor dem nicht mehr zu entwirrenden Chaos kapituliert und die abreisenden Fans ihrem Schicksal überlassen.

Weil viele Rennbesucher ihre Autos wegen überfüllter Parkplätze notgedrungen in den Straßen von Hockenheim gleich beidseitig abgestellt haben, kommt es zum völligen Zusammenbruch der Verkehrsströme. Sechs Stunden ab Fahrerlager zur fünf Kilometer entfernten Autobahnauffahrt oder den Hotels in Walldorf gelten an diesem schwülen Sommerabend noch als guter Wert.

Am besten sind diejenigen dran, die in ihren Hotels (die teils zu Fuß oder mit Fahrrädern angesteuert werden) noch eine Nacht dranhängen können. Erst in der zweiten Nachthälfte normalisiert sich die Verkehrslage langsam.

Während in Hockenheim Ausnahmezustand herrscht, erlebt der Nürburgring trotz Formel-2-Ersatz-GP ein ungewohnt ruhiges Wochenende. Die Begeisterung der Fans für das Schmalspur-Programm des «Kleinen Preis von Deutschland» (Läster-Headline einer Tageszeitung) hält sich in überschaubaren Grenzen.

Keine Staus, jede Menge freie Zimmer, maulende Wirtsleute, schleppende Umsätze. Nur etwa die Hälfte statt der ursprünglich erwarteten 50.000 Zuschauer wollen das Ersatzprogramm in der Eifel sehen. Und die Rennen sind bis auf den Formel V-EM-Lauf auch noch ziemlich fad.

Der Schweizer Xavier Perrot (March) gewinnt den AvD Preis von Deutschland vor der sensationellen Eifelland-Pilotin Hannelore Werner, die mit ihrem March zugleich auch das beste F2-Ergebnis einer Frau in der Formel 2-Geschichte einfährt. Beide profitieren von den Ausfällen nahezu aller Top-Stars wie Derek Bell, Carlos Reutemann, Tim Schenken oder Tetsu Ikuzawa.

Durch die Ausfälle wird der eigentliche Höhepunkt zum grandiosen Langeweiler – wie das eben so ist, wenn von 17 Formel 2-Rennwagen irgendwann nur noch die Hälfte fährt und das ganze Drama rund um die Nordschleife auch noch zehn Runden oder quälende eineinhalb Stunden dauert. So mischen sich bei der Siegerehrung unter den verdienten Beifall für den Eidgenossen Perrot und die flotte Dame Hannelore W. die Pfiffe unzufriedener Fans.

Auch die übrigen Programmpunkte können die Fans nur bedingt zufrieden stellen. Das Opel-Markenrennen gewinnt ein gewisser Dr. Helmut Marko souverän im Steinmetz-Commodore, im Formel V-EM-Lauf unterhält wenigstens ein Sextett das Publikum bei Laune und kommt mit Sieger Bertil Roos (SWE) innerhalb von 1,7 Sekunden ins Ziel.

Nachdem die Nürburgring GmbH mit Millionen-Aufwand die vorgelegten Sicherheitswünsche der GPDA in den folgenden Monaten zügig umsetzt, kehrt der AvD mit der Formel 1 schon 1971 wieder auf die Nordschleife zurück.

Mit dem GP Deutschland 1976 und Niki Laudas Feuerunfall ist dann jedoch endgültig Schluss und der deutsche F1-GP verabschiedet danach für immer von der Nordschleife. Neue Heimat ist für lange Zeit das badische Motodrom.

Dort verkaufte man nicht noch einmal mehr Tickets als Sitzplätze vorhanden sind.


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