Schlaflos im Schnee: Gedanken über Jerez
Jerez de la Frontera F1 Test 5-8/02/13
Okay, ich gebe es zu, Freunde, ich konnte nicht schlafen.
Noch immer schwirren mir tausend Gedanken zum Jerez-Test durch den Kopf, möglicherweise habe ich da etwas aufgerundet, aber von Anfang an.
Wie viele meiner Kollegen fiebere ich dem ersten Wintertest jeweils entgegen. Wer wie ich diesen harschen britischen Winter erlebt, für den sind Begriffe wie «Jerez», «16 Grad» und «Tio Pepe» unwiderstehlich. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie es ist, ohne Schneeschaufel aus dem Haus zu treten.
Am ersten Morgen im fernen Andalusien geht es mir dann immer gleich: Ich kann es nicht erwarten, in die Boxengasse zu streben, die Luft ist rein und würzig, die Sonne zeigt sich zaghaft, Vögel zwitschern, und dann endlich das Gesurre von Schlagschraubern und Pressluft-Anlassern – und schon röhrt der erste Motor.
Welch göttlicher Sound!
Ich stehe ergriffen an der Boxenmauer und gaffe jedem Auto hinterher als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben einen GP-Renner sehen.
Nach drei Stunden Testen holt mich die Realität ein: Nicht nur dass ich – eingerostet, Sie verstehen schon – meinen massgefertigten Ohrschutz im Hotel habe liegen lassen, ich ertappe mich auch beim Gedanken: «Um Gottes Willen, was um alles in der Welt soll ich nur schreiben?»
Denn längst haben sich vor mir drei Probleme aufgetürmt, scheinbar unüberwindlich wie ein gewaltiges Gebirge aus «Der Hobbit».
Problem 1: Ich sehe von den Autos nur auf der Bahn etwas. Und da haben sie viel zu selten die Anwohnheit, still zu stehen. Und wenn, dann gewiss nicht dort, wo ich gerade stehe. Sobald die neuen Renner von ihrer jüngsten Fahrt zurück sind, werden sie von den Mechanikern in einer Eile ins Dunkel der Box gezogen – als würden dafür fette Boni winken.
Problem 2: Mit den meisten Fahrern gibt es nur Medienrunden, also Gruppengespräche. Einzel-Interviews? Also, bitte! Einige Piloten sprechen an gewissen Tagen überhaupt nicht mit Journalisten.
Problem 3: Nicht nur ich bin wohl eingerostet, die Spanier oben im Pressesaal offenbar auch. Die Qualität der Datenleitung hat die Widerstandskraft einer Salzstange. In bösartig unregelmässigen Abständen bricht die Verbindung zum Netz zusammen, und wer jetzt eben einen Artikel absetzt oder ein Bild übermittelt, bricht spontan in Verwünschungen aus und dann ebenfalls zusammen.
Zurück zum ersten Problem.
In Jerez habe ich einen Sponsoren-Vertreter gefragt, in welchem Interesse es bitteschön sei, dass die zahlreichen Fans unter den Boxengassen-Gästen (hey, wir sind hier in Spanien, da beschafft sich jeder irgendwie ein Ticket!), dass diese vielen Spanier also die Firmen-Logos auf dem Auto kaum zu sehen bekämen. Von den Fans auf der Haupttribüne ganz zu schweigen, die nach einem Test eine Doktor-Arbeit zu den Unterschieden über Rollwände verfassen könnten.
Er hat dann etwas von «Geheimnissen» und «Technikern» gestottert, aber im Grunde wusste er: eine richtig überzeugende Antwort hat er keine. Die Wahrheit ist: Die Sponsoren, welche diesen Zirkus zu einem beträchtlichen Teil finanzieren, wie ich naiverweise glaube, könnten Teams und Fahrern da ruhig etwas auf die Finger klopfen. Aber sie tun es nicht.
Zum Glück hat der Autoverband FIA an den GP-Wochenenden ein Machtwort gesprochen und vor einigen Jahren die Spanische-Wand-Schiebung untersagt.
Zurück zum zweiten Problem.
Ich als Brite habe ja den Vorteil, dass McLaren jeweils Runden mit Jenson Button organisiert. Allerdings nur an dessen erstem Testtag. Danach sprach er überhaupt nicht mehr mit Medienvertretern.
Einige deutsche Kollegen wunderten sich gleichzeitig, dass Weltmeister Sebastian Vettel nur hinter der Box vor die Mikrofone trat, was die Medienrunde erheblich erweiterte: Dort hinten kann sich jeder hinstellen, der gerade daherkommt, und so kam es, dass einige Journalisten ungefähr in Reihe 7 standen, hinter der spanischen Oma, die für ihre Enkel unscharfe Handy-Fotos schoss und plappernden Teenagern. Immerhin einte sie alle, dass weder die Teenager, noch die tapfere Grossmutter noch der genervte Journalist ein Wort von Vettel verstanden. Das war allerdings den Kollegen auf Deadline auch kein Trost.
Können Sie sich vorstellen, was in Italien oder Spanien los wäre, wenn Fernando Alonso einen Test fährt und es KEINE gescheite Medienrunde mit italienischen und spanischen Journalisten gäbe? Vermutlich würde in der Folge der Ferrari-Mediendelegierte zum Verzehr von Tiefkühl-Pasta zweifelhafter Herkunft genötigt.
Nein, wir Briten und offenbar auch die Deutschen sind da viel zu nett, finde ich.
Aus Sicht der Racer kann ich das Verhalten auch nur zum Teil verstehen. Einerseits bindet die Zeit mit den Medien Zeit, gewiss. Und nicht jede Frage zeugt von Sachverstand (wie ich leider über einige meiner Kollegen zugeben muss). Andererseits gehört Medienarbeit auch zum Job, diese Viertelstunde müsste sein.
Kürzlich habe ich mich mit einem Kollegen aus der Filmbranche über die Spracharmut meiner Rennfahrer unterhalten, und er hat nur mit der Zunge geschnalzt: «Was faselst du da? Ihr seid doch im Garten Eden! Weisst du überhaupt, was beim so genannten Interview mit einem Hollywood-Star los ist? Da wartest du stundenlang in einer Hotel-Suite, endlos gebrieft von Medien-Delegierten, welche dir klarmachen, worüber du alles NICHT mit dem Star reden darfst. Nicht über die kürzliche Trennung von diesem Supermodel. Nicht über den angeblichen Zwist mit dem Regisseur. Nicht über seine dritte Ehe. Nicht über sein Gehalt. Nicht über die Umwelt. Nicht über Politik. Nicht über Dies. Nicht über Das. Am Ende bist du so eingeschränkt, dass dir eigentlich nur noch drei Fragen bleiben: Wie geht es Ihnen? Wie gefällt Ihnen London? Warum wollten Sie diese Rolle spielen? Und dann rauscht der Star endlich herein, im Schlepptau eine ganze Entourage, an den Kleidern wird gezupft und an der Frisur, er wirkt jetzt schon genervt, wir fünf Journalisten aus fünf Ländern sind nervös, und der Manager sagt: «Zwei Minuten!» Ja glaubst du in allem Ernst, da kommt etwas Gescheites bei raus? Nein, nein, da habt ihr es mit euren Rennfahrern schon besser.»
Vor diesem Hintergrund ist jedes Gespräch mit Kimi Räikkönen erschöpfend.
Zurück zum dritten Problem.
Die Standard-Ausrede der Spanier beim bröckeligen Netz besteht in der Regel darin, dass etwas viele Leute auf dem Netz seien. Also so eine Überraschung! Wer hatte das nur beim ersten Wintertest erwarten können? Das ist ja glatt so, wie wenn sich der Eis-Verkäufer im Hochsommer darüber wundert, dass ihn tatsächlich einer mit dem Wunsch nach einer süssen Abkühlung behelligt.
Auf Nachhaken wird dann treuherzig versichert, ein Techniker arbeite an der Behebung. Dann verschwindet unser Mann hinter einer Tür und wird in der Regel nie wieder gesehen. Ich habe ja immer den leisen Verdacht, dort hocken einige Spanier und spielen Karten. «Was meinst du, sollen wir das Netz jetzt wieder auffahren?» – «Nein, lassen sie noch etwas schmoren. Du gibst …»
Probleme hin oder her – inzwischen bin ich aus dem sonnigen Andalusien wieder im verschneiten Britannien. Was gäbe ich jetzt für eine wacklige Leitung, könnte ich nur dafür etwas Sonne bekommen!
Der wahre Grund jedoch, wieso ich nicht schlafen konnte und diese Zeilen getippt habe: Ich grüble darüber, wie ich nach dem Jerez-Test das Kräfteverhältnis einschätzen soll.
Und ich stelle mir gerne vor: Zur gleichen Zeit, irgendwo in England, stehen Adrian Newey, Martin Whitmarsh oder Christian Horner in ihren Küchen, vielleicht eine Tasse dampfenden Tee in der Hand, blicken in den Schnee hinaus wie ich und stellen sich die genau gleiche Frage.