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Traditionsbruch: Moto Guzzi baut Einstiegsmodell

Von Bernhard M. Höhne
Moto Guzzi plant einen drastischen Schritt, um sein Modellangebot nach unten auszuweiten: Auf Basis eines Aprilia-Reihentwins entsteht ein Bike, das neue Kunden erobern und die Verkaufszahlen in neue Sphären heben soll.

Wir schreiben den Spätsommer 2023: Aprilia hat gerade die RS457 präsentiert. Ihr Reihenzweizylinder mit 457 Kubikzentimetern Hubraum basiert im Wesentlichen auf dem Antrieb der Aprilia RS 660 und geht damit, vereinfacht gesprochen, auf die hintere Zylinderbank einer Aprilia RSV4 zurück.

Die Präsentation der RS 457 war der Auftakt zur Entwicklung einer ganzen Modellfamilie, denn ihr Motor bildet seither nicht nur die Basis für das A2-konforme Sportbike. Ende 2024 wurde zudem die Naked-Bike-Schwester Tuono 457 vorgestellt – und innerhalb des kommenden Jahres wird auf dieser Plattform auch ein Adventure-Bike folgen, die Tuareg 457. Allen drei Modellen gemein ist, dass sie bei Aprilia in Indien gefertigt werden.

Doch damit nicht genug, denn in absehbarer Zeit folgt ein weiteres Modell auf dieser Plattform und das dürfte für den Hersteller einer Sensation gleichen: Denn, in adaptierter Form, wird auch Moto Guzzi den Motor übernehmen. Moto Guzzi und Aprilia gehören gemeinsam zur Piaggio-Gruppe und teilen sich eine Entwicklungsabteilung, die Wege für den Technologietransfer sind kurz. Damit wird Moto Guzzi erstmals einen Reihentwin zum Verkauf anbieten. Zwar gab es in den 1930ern schon Reihenmotoren bei den Italienern, doch diese waren nur für Motorsportmodelle gedacht und wurden normalen Kunden vorenthalten.

Seither war die Marke aus Mandello del Lario vor allem für quer installierte, luftgekühlte V2-Motoren bekannt und wurde so stark damit in Verbindung gebracht, dass bereits die Einführung des wassergekühlten Antriebs in der V100 Mandello und der neuen Stelvio ein großer Sprung war. Auch dies war ein Grund, weshalb die ersten Sichtungen eines Guzzi-Reihentwin-Prototypen von zahlreichen Fachleuten zunächst Aprilia zugeschrieben wurde. Auch der Autor dieser Zeilen hielt es seinerzeit für wahrscheinlicher, dass es sich um einen frühen und gut verfremdeten Prototyp eines Aprilia-Einsteigertwins handelt, als um eine Moto Guzzi. Zu abwegig schien der Gedanke eines vom aggressiven Aprilia V4 abgeleiteten Guzzi-Reihentwins.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Inzwischen hat Aprilia die Tuono 457 eingeführt, die mit ihrem Alu-Brückenrahmen ein weiteres Modell in diesem Segment für die Venetier überflüssig macht. Obendrein entwickelt sich auch der Motorradmarkt selbst immer weiter. Die Verkaufszahlen nahezu aller westlichen, klassischen Motorradmärkte schrumpfen, damit bekommt der asiatische Markt mit seinen zahlreichen Kunden für alle Hersteller mehr Gewicht.

Und wer auf diesen Märkten etwas auf sich hält, kommt mittelfristig an kleinen Reihenzweizylindern nicht vorbei. BMW hat sogar darauf verzichtet, für die bei TVS in Indien produzierte G310-Baureihe Nachfolgemodelle zu entwickeln und setzt anstatt auf deren Einzylinder künftig auf, Sie ahnen es, einen neu entwickelten Reihentwin mit knapp 450 Kubik. Diesen lässt BMW abermals bei Kooperationspartner TVS fertigen. Und wie die Bayern, dürfte Moto Guzzi für seinen Angriff im gleichen Segment auf seinen Partner vor Ort setzen: Konzernmutter Piaggio.

Die Italiener betreiben eigene Produktionsanlagen im indischen Baramati. Dort laufen die Aprilia 457-Modelle vom Band und sichern so den kostengünstigen Zugang zum indischen Markt – zudem wird von dort aus der wichtige chinesische Markt beliefert. Diese beiden Märkte dürften die wichtigsten Gründe für die Entstehung der kleinen Guzzi sein, denn allein der indische und der chinesische Zweirad-Markt machen gemeinsam rund 80 Prozent des Weltmarktes aus. Jeder westliche Hersteller versucht Teile dieses Marktpotenzials für sich zu gewinnen. Und in Zeiten, in denen die restlichen Märkte schrumpfen, ist es für hiesige Hersteller im Zweifel überlebenswichtig, Modelle für und in Asien zu fertigen, die gleichzeitig auf dem Weltmarkt verkauft werden können.

KTM hat diesen Weg vor 18 Jahren begonnen und lässt seit jeher seine Einsteigerbaureihen in Pune bei Bajaj fertigen. Seit 2023 laufen auch Triumphs 400er-Modelle im gleichen Werk vom Band. BMW kooperiert seit 2013 mit TVS – die Inder produzieren für die Bayern seitdem alle Modelle unter 500 ccm und den Nahverkehrs-Scooter CE-02. Triumph und Ducati sichern sich zudem Zugang zum asiatischen Markt über ihre Werke in Thailand, die für die Marken gleichzeitig zu wichtigen Teilen Kunden in aller Welt beliefern.

Moto Guzzi dürfte diesem Beispiel nun folgen. Für die mit zuletzt rund 15.000 verkauften Einheiten vergleichsweise kleine Marke, wäre dies ein Schritt zu mehr Unabhängigkeit von seinen traditionellen Märkten. Gleichzeitig sind dafür andere Modelle vonnöten als die aufwändig gefertigten Motorräder, die Moto Guzzi seit jeher verkauft. Der asiatische Markt ist preissensibel und auch der Verkehr vor Ort hat andere Anforderungen. Gleichzeitig wird der Hubraumbereich zwischen 350 und 500 Kubik in westlichen Märkten in allen Kundenschichten wichtiger. Der traditionelle, längs eingebaute Guzzi-V2 ist für dieses Segment zu aufwändig.

Den Reihenzweizylinder von Konzernschwester Aprilia auf die eigenen Bedürfnisse anzupassen ist die logische Folge, denn eine Eigenentwicklung wäre zu teuer. Doch nicht nur der Antrieb wird von Moto Guzzi überarbeitet, auch das Chassis wird neu entwickelt. Der von uns gesichtete Prototyp hat, mit Ausnahme des Motors, nur wenig mit der inzwischen käuflichen Schwester, der Tuono 457 gemeinsam. Es handelt sich zwar auch um ein Naked Bike, jedoch mit bequemer Sitzposition und komfortablerer Auslegung als die Aprilia. Räder und Bremsanlage sind der Schwester entnommen, doch da enden die Gemeinsamkeiten. Der Alu-Brückenrahmen der Venetierin wird durch eine Stahlrohrkonstruktion ersetzt, an die ein entsprechender Heckrahmen verschraubt wird. Aus Stahl ist, wie bei der Aprilia, auch die Schwinge. Anders als bei dieser kommt an der Moto Guzzi jedoch ein außenliegendes Federbein zum Einsatz, auch hier also eine Neukonstruktion. Neu ist auch die Vorderradgabel. Tankform und Lampeneinheiten vorn wie hinten an dem frühen Prototyp haben klare Guzzi-Anleihen, die Gestaltung ist in einem so frühen Entwicklungsstadium jedoch in aller Regel nicht final. Die Technik lässt mehr Rückschlüsse auf die des fertigen Motorrads zu, denn die soll an diesen frühen Erprobungsträgern schließlich verfeinert werden.

Verfeinert werden muss, um trotz der für die Marke untypischen Technik als Moto Guzzi anerkannt zu werden, auch der Auftritt. Und der wird bei den Italienern zu einem wichtigen Teil auch durch den Sound bestimmt. Dies ist auch den Entwicklern der Marke vom Comer See bewusst, und so wird sich der Sound stark von dem der Aprilia-Schwester unterscheiden. Ziel ist ein sonorerer Klang gegenüber dem eher hochfrequenten Sound der Tuono 457 – wie dieser jedoch erreicht wird, ist noch unklar. Modifikationen an der Auspuffanlage sind wahrscheinlich – innermotorische Überarbeitungen dürften diese ergänzen. Ein leicht veränderter Krümmer-Verlauf und ein größerer Kühler am Guzzi-Prototypen gegenüber dem Modell aus Noale unterstützen diese These.

Als Referenz dient für die Ingenieure die Benelli Leoncino 500 – ein Naked Bike mit Charme, das im deutschen Sprachraum noch wenig beachtet wird. Wie die Moto Guzzi, wird sie in Asien produziert: bei Konzernmutter QJ Motor. Wie die Moto Guzzi wurde sie jedoch in Italien konstruiert. Um die Aprilia-Schwester zu einem Erfolg werden zu lassen, wird Guzzi in jedem Fall das typische Flair der Marke mit dem Adler in das für die Italiener neue Segment übertragen müssen. Die Entwicklungsingenieure der Marke aus Mandello del Lario haben in der Vergangenheit regelmäßig bewiesen, dass sie dazu in der Lage sind. Gleichwohl ist die Herausforderung bei diesem Modell eine besonders Große.

Bleibt noch die Bezeichnung: Verschiedene Medien haben in der Vergangenheit berichtet, Moto Guzzi habe sich die weitere Nutzung des Namen «Eldorado» gesichert, möglicherweise für das hier gezeigte Modell. Aus heutiger Sicht wirkt dies unwahrscheinlich, schließlich war die Eldorado zu jedem Zeitpunkt ihrer Bauzeit am oberen Ende der Modellpalette angesiedelt. Als zuletzt knapp 330kg schwerer Cruiser mit 1,4 Litern Hubraum war sie das genaue Gegenteil des künftigen Einstiegsmodells. Doch die Historie der Italiener ist voll von passenden Namen. Ein Beispiel: Die «Airone». Sie war nach dem zweiten Weltkrieg die erste Guzzi, die in großen Stückzahlen produziert wurde und so zahlreiche neue Menschen auf einem Motorrad mobil gemacht hat. Nach der, höchst subjektiven, Meinung des Autors wäre dies ein passender Name. Schließlich soll die kleine Moto Guzzi die gleichen Ziele verfolgen.

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