Pit Beirer (KTM): Ducati-Device nur 2022 erlaubt?

Von Günther Wiesinger
Um das «Front Ride Height Device» von Ducati wird in der MSMA heftig gestritten. Wird es aus Sicherheitsgründen nach 2022 verboten? KTM-Rennchef Pit Beirer verrät Details und will sich lieber um E-Fuels kümmern.

Knapp drei Jahre nach den heftigen Protesten von Honda, Suzuki, KTM und Aprilia gegen den umstrittenen Hinterradspoiler von Ducati beim Katar-GP 2019 existieren in der MSMA (Motorcycle Sports Manufacturer’s Association) wieder grobe Unstimmigkeiten wegen eines technischen Tricks von Ducati-Konstrukteur Gigi Dall’Igna.

Denn beim MotoGP-IRTA-Test am 5./6. Februar 2022 auf dem Sepang International Circuit wurde offenkundig, dass Ducati an den Desmosedici GP22 im Lenovo-Werksteam mit Bagnaia und Miller sowie bei Pramac (Martin, Zarco) mit einem neuen «Front Ride Height Adjuster» oder «Front Ride Height Device» (FRHD) experimentiert, das jetzt auch die Gabel während der Fahrt durch einen per Hand betätigten Schalter absenken kann.

Schon 2019 (durch den Hinterradspoiler) und 2020 hatte Ducati mit umstrittenen Devices für Unruhe gesorgt. Beim Katar-Test (22. bis 24.2.2020) stellte sich heraus, dass Ducati den heiligen Gral des Motorradrennsports angetastet hat – und an den GP20-Werksmaschinen von Dovizioso, Petrucci, Miller und Bagnaia mit einer einstellbaren Fahrwerks-Geometrie experimentierte.

Ducati-Corse-General Manager Gigi Dall’Igna interessiert sich durchaus für den Radsport, er ist selbst aktiver Hobbyradler. Und man kann sich vorstellen, dass er angesichts von absenkbaren Teleskop-Sattelstützen im Mountainbike-Sport und des Shapeshifter-Systems des deutschen Herstellers Canyon hellhörig wurde und ins Grübeln kam. Er erfand dann für 2020 das «Rear Ride Height Device». Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits andere Lücken im Reglement umschifft und verkleidete Räder (bekannt aus dem Zeitfahren im Radsport) und das Holeshot-Device (bekannt aus dem Motocross) in die MotoGP-WM eingeschleust. 

In der MSMA sträuben sich jetzt fünf der sechs Hersteller gegen das «Front Ride Height Device». Und beim Saisonstart in Doha siegte ausgerechnet Bastianini mit einer Ducati GP21, während die fünf GP22 (Miller, Bagnaia, Zarco, Martin und Marini) entweder nicht ins Ziel kamen oder zumindest nicht auf den Spitzenplätzen mitmischten.

Ist das neue Device also noch nicht ausgereift? Bewirkt es keine Rundenzeitverbesserung? «Ich möchte nicht beurteilen, warum das eine Ducati-Modell besser läuft als das andere», hielt KTM-Motorsport-Direktor Pit Beirer im Exklusiv-Interview mit SPEEDWEEK.com fest. «Wir bei KTM haben uns ganz klar gegen dieses System entschieden. Wir haben es vor eineinhalb Jahren bei uns im Haus thematisiert, ob wir so etwas bauen sollen oder nicht. Denn es gäbe eine kleine Lücke im Reglement, das zu machen. Wir haben uns eindeutig dagegen entschieden, denn die Fahrer haben jetzt schon acht verschiedene Knöpfe und Verstellmöglichkeiten am Lenker oder im Dashboard. Wenn sich das Motorrad vorne auch noch in der Höhe verändern lässt, kommt eine weitere Unkonstante ins Spiel. Wir haben inzwischen einen Brief des Bremsenherstellers Brembo, in dem uns mitgeteilt wird, dass die MotoGP-Höchstgeschwindigkeit jetzt über dem Limit der Bremsen liegt.»

Beirer: «Wir haben einen Top-Speed von 362 km/h. Was wollen wir dann mit einem 'Front Ride Height Device' erreichen? Wir gehen damit vorne noch etwas tiefer, damit wir noch besser beschleunigen und noch etwas mehr Top-Speed aufnehmen. Aber wir sind beim Top-Speed schon zu schnell. Die Sturzräume sind nicht für 362 km/h entworfen worden. Sie sind da am Limit. Deshalb wollen wir im Top-Speed nicht schneller werden.»

«Dazu kommt, dass wir jetzt schon diese acht Knöpfe und Verstellmöglichkeiten am Lenker haben. Inzwischen gibt es hochrangige Techniker, die unsere Fahrer mit den Formel-1-Piloten vergleichen. Von den Fähigkeiten her gebe ich ihnen recht. Nur haben die MotoGP-Fahrer einen Nachteil gegenüber den Autorennfahrern, denn sie hängen in den Kurven neben dem Motorrad, während sie diese Knöpfe bedienen müssen. In einem Rennauto hast du eine andere Fahrdynamik, du kannst dich anders auf diese Situation einstellen. Im Automobilsport ist der Körper in einer stabilen Lage. Trotzdem habe ich eine Hochachtung vor den Formel-1-Piloten, was die bei dem Stress und bei dieser Geschwindigkeit alles bedienen müssen.»

«Aber in der MotoGP liegst du mit dem Knie und mit dem Ellbogen bei mehr als 200 km/h neben dem Motorrad. Wir müssen also schon aufpassen, dass wir diese Fahrzeuge nicht zu weit weg holen von der Basis. Wir sollten uns immer noch auf das Motorradrennfahren konzentrieren. Da geht es ums Gas geben, ums Bremsen und Beschleunigen und die Fahreigenschaften. Wir sind deshalb schon aus Sicherheitsgründen eindeutig gegen dieses neues Device. Ob das System bei der Rundenzeit wirklich etwas bringt oder nicht, werden wir im Laufe des Jahres erfahren. Wir bei KTM wollen so ein System definitiv nicht aufs Motorrad bauen.»

Zur Erinnerung: Als 2019 nach dem Katar-GP wegen des bei Ducati eingesetzten Hinterradspoilers von vier Werken (Honda, Aprilia, Suzuki und KTM) protestiert wurde, blitzten die Ducati-Gegner ab.

Aber Marc Márquez gewann die Weltmeisterschaft ohne Spoiler. Er siegte bei 12 der 19 Rennen und wurde sechsmal Zweiter!

Seit 2019 ist das Klima in der MSMA zwischen Ducati und den restlichen Werken vergiftet. 2019 fand nach dem Protest keine einzige MSMA-Sitzung mehr statt! Erst die Pandemie zwang die Werke im April 2020 wieder an einem Tisch – wenn auch nur virtuell.

In einer heiklen Situation befindet sich der neue MSMA-Generalsekretär Biense Bierma. Denn er war unter Gigi Dall'Igna einst als Ingenieur für Fahrzeug-Dynamik bei Aprilia Racing in Noale beschäftigt. Jetzt soll er einen neutralen Standpunkt bewahren und die Interessen aller sechs Hersteller vertreten.

Sicherheit im Vordergrund

Pit Beirer betont, die zusätzlichen Kosten seien kein schlagkräftiges Argument, es gehe allein um die Sinnhaftigkeit und die Sicherheit.

In den letzten Wochen fand sich kein MotoGP-Fahrer, der sich für das FRHD begeisterte. Die Stars wollen sich lieber aufs Fahren konzentrieren. 

«In der MotoGP hat jeder Hersteller ein sehr gutes Technik-Budget. Deshalb sind die Kosten kein gutes Argument», meint Beirer. «Es ist unsere Passion, die Motorräder technisch weiterzuentwickeln und neue technische Lösungen zu erarbeiten. Ich denke nur an das Seamless-Getriebe und viele andere Technologien, die in den letzten Jahren entstanden sind. Aber es muss trotzdem ein fahrbares Motorrad bleiben. Wir müssen gewisse Limits einhalten.»

KTM-MotoGP-Ingenieur Sebastian Risse bezeichnete die per Seilzug betätigten Ride Height Devices im Februar gegenüber SPEEDWEEK.com. als Steinzeittechnik, die nicht zeitgemäß sei. 

«Wir bei KTM konzentrieren uns lieber zu 100 Prozent mit unserem Treibstoffhersteller darauf, so rasch wie möglich einen vollsynthetischen Kraftstoff zu entwickeln», verrät Beirer. «Unser Ziel ist es sogar, vor Inkrafttreten des neuen Reglements mit 100 Prozent 'bio fuel' CO2-neutrale Rennen zu fahren. Vielleicht gelingt uns das bereits für 2026. Das ist viel sinnvoller. Wir möchten und müssen das vor 2027 schaffen. Wir kümmern uns lieber um High-Tech. Wenn uns das gelingt, können auch alte Serien-Motorräder mit Verbrennungsmotoren statt mit fossiler Energie CO2-neutral im Verkehr gefahren werden.»

«Bei der Industrie existiert eine eindeutige Positionierung. Zumindest fünf der sechs Hersteller wollen dieses System nicht haben», betont Beirer. «Es gibt in der MSMA ein eindeutiges Prozedere, wie man technische Änderungen gemeinsam mit dem Promoter Dorna herbeiführen kann. Bei Einstimmigkeit in der MSMA kannst du sie über Nacht implementieren. Der Promoter würde technische Regeländerungen akzeptieren, wenn sich die sechs Hersteller einig sind und die Änderungen nicht total sinnlos sind. Wenn wir uns nicht einig sind, gibt es einen Mehrheitsbeschluss. Dann brauchen wir zwei Jahre ‚lead time‘, also eine Übergangsfrist, um so eine Änderung wirksam werden zu lassen. Damit jeder Hersteller Zeit hat, seine Motorräder in die gleiche Richtung zu entwickeln oder das umstrittene Device wieder weg zu bauen.»

Würde das bedeuten, dass Ducati das «Front Ride Height Device» 2022 und 2023 ungehindert weiter verwenden darf?

Pit Beirer zögert mit einer Antwort. «Die Abstimmung hat im letzten Jahr stattgefunden, die Laufzeit hat damals begonnen. Faktisch gesehen läuft die Erlaubnis für dieses System nach 2022 aus.»

Dafür wird keiner der fünf gegnerischen Werke Ducati daran hindern, das Front Device 2022 einzusetzen.  

«Das neue Device entspricht dem Reglement, deshalb wurde nie ein Protest geplant. Niemand wollte es für 2022 stoppen», räumt Pit Beirer ein. «Aber fünf Hersteller sind überzeugt, es wurde 2021 darüber abgestimmt. Wir können das ‚Front Ride Height Device‘ für 2022 nicht verhindern, es aber für nächstes Jahr stoppen.»

Die Stimme der Industrie ist nur eine Empfehlung, wenn keine Einstimmigkeit herrscht. «Die finale Entscheidung trifft die Grand Prix Commission», weiß Beirer. «Dort gibt es vier Stimmen, Dorna, IRTA, FIM und MSMA; es zählt die einfache Mehrheit. Wenn wir von der Industrie einen verbindlichen Beschluss haben, legen wir ihn der GPC vor. Dann müssen wir mit der Abstimmungsergebnis dieses Gremiums umgehen. Das kann für uns positiv oder negativ ausfallen.»

Aber Dorna-CEO Carmelo Ezpeleta betonte gegenüber SPEEDWEEK.com bereits im Februar: «Wir wollen weder höhere Kosten noch höheren Speed.»

Dazu kommt: Die Teamvereinigung IRTA und der Weltverband FIM stimmen üblicherweise nicht gegeneinander ab, also kann mit einer Mehrheit von 3 zu 1 gerechnet werden.

«Wenn die Mehrheit der Hersteller gewisse Dinge logisch findet, müsste der Promoter Dorna natürlich gemeinsam mit der Industrie die Motorräder sinnvoll entwickeln», schildert Pit Beirer. «Wenn wir in der MSMA Mehrheiten für gewisse technische Regeländerungen haben, schenkt uns die Dorna Gehör. Anders ist es, wenn wir als Industrie Veränderungen am Kalender wünschen, was das absolute Hoheitsgebiet der Dorna ist. Dann können wir zwar den Wunsch deponieren. Aber dann entscheidet die Dorna nach dem, was für sie sinnvoll ist. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz. Um die Dinge, die die Industrie nicht wirklich viel angehen, weil sie mit dem Motorradbau nichts zu tun haben, darum kümmert sich die Dorna. Aber wenn es rein um die Bikes geht, wird in der MSMA entschieden, was Sinn macht und wohin wir beim technischen Reglement mit den Motorrädern marschieren wollen.»

Beirer weiter: «Die MSMA-Statuten sind ziemlich eindeutig. Einstimmigkeit ist zwar besser, dann tut sich auch die Dorna mit einer Entscheidung leichter. Weil sich dann keiner benachteiligt sind. Wenn keine Einigkeit herrscht, fühlt sich immer eine benachteiligt – und die anderen sind happy.»

Der wahre Nutzen der Hinterradspoiler

Die Stimmung in der MSMA hat sich in den letzten Monaten jedenfalls nicht gebessert. «Die Diskussionen zwischen Ducati und den anderen Herstellern waren in den letzten Monaten sehr mühsam», plauderte Pit Beirer aus dem Nähkästchen.

An die vor drei Jahren heftig umstritten gewesenen Hinterradspoiler haben sich die Ducati-Gegner inzwischen gewöhnt wie schlecht gehaltene Hunde an die Flöhe.

Und sie wissen auch: Ducati hat seit 2007 keinen Fahrer-WM-Titel gewonnen.

Gigi Dall'iIgna kam im Oktober 2013 von der Piaggio Group (Aprilia, Derbi, Gilera, Vespa, Piaggio) zu Ducati, um sein letztes Ziel im Motorradsport zu erreichen – den Gewinn der MotoGP-Fahrer-WM. 

Die gegnerischen Werke sind bis heute überzeugt, dass sie 2019 von Ducati übers Ohr gehauen wurden. Beirer: «Bei unserem Einspruch gegen das Katar-GP-Ergebnis von 2019 wurde uns per Gerichtsbeschluss beim 'MotoGP Appeal Court' der FIM in Genf bestätigt, dass sich dieses Teil zum Zwecke des Reifenkühlens an der Schwinge befindet. Aber jeder Aerodynamiker weiß ganz genau, das entspricht nicht den Tatsachen. Das war eine Ausrede, weil laut Reglement auf beweglichen Teilen wie der Schwinge keine aerodynamischen Hilfsmittel erlaubt sind.»

Ducati durfte also die Plätze 1 und 6 durch Dovizioso und Petrucci beim Katar-GP 2019 behalten und mit dem Spoiler bis heute weiterfahren. Inzwischen verwenden ihn alle Werke. Aber sicher nicht zum Reifenkühlen, sondern um Downforce (Abtrieb) für das Hinterrad zu erzeugen. 

Übrigens: Yamaha hatte so einen Spoiler erstmals im Regen beim Valencia-GP 2018 eingesetzt, als Wasserabweiser. 

«Die Hinterradspoiler sind jetzt einfach da, über die brauchen wir nimmer zu diskutieren», sagt der KTM-Motorsport-Direktor. «Das Ergebnis von den Winglets, Spoilern, Aero Bodys und so weiter ist, dass jeder Hersteller zehn Aerodynamiker beschäftigt und laufend im Windkanal sitzt. Dabei haben wir uns einst vorgenommen: Wir wollen nicht die Formel-1-Kosten in die MotoGP transferieren. Aber ich möchte nicht über die Kosten jammern, dafür umso lauter auf die Fahrer-Sicherheit hinweisen.»

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