Vor 70 Jahren erster Motorrad-WM-Lauf in Deutschland
Werner Haas siegte nach 1952 auch 1954 (Foto) bei seinen Heim-GP auf der Solitude
Im letzten Jahrhundert gab es in Deutschland eine Vielzahl an Rennstrecken. Ein Großteil davon ist etwas in Vergessenheit geraten. Die «Solitude» vor den Toren Stuttgarts ist allerdings eine, die an den ganz großen Rädern der Geschichte mitgedreht hat.
Aufgrund der räumlichen Nähe zu Mercedes und Porsche sollte man meinen, dass der Automobilrennsport in Stuttgart zu favorisieren gewesen sei, doch waren es die Zwei- bzw. Dreiräder, die in der Gunst der Zuschauer und somit der Veranstalter ganz oben standen.
Die ersten motorsportlichen Aktivitäten reichen bis ins Jahr 1903 zurück. Damals wurden Bergrennen von Stuttgarts Zentrum hinauf in Richtung Leonberg bis zum Schloss Solitude ausgetragen. Ab 1907 wurde das Solitude-Bergrennen jedoch vom württembergischen Innenministerium wieder untersagt.
Als 1922 die Veranstaltung wieder auflebte, kamen 50.000 Zuschauer, im Jahr darauf waren es schon 200.000. Dabei siegten Toni Bauhofer auf einer Fünfzylinder Megola mit 750 ccm Hubraum bei den Motorrädern, sowie Otto Salzer im Mercedes-Grand-Prix-Rennwagen.
Ab 1925 wurden dann auf einem 22,3 km langen Kurs die Rundstreckenrennen «Rund um die Solitude» ausgetragen. Nach einer dreijährigen Unterbrechung der Aktivitäten wurde die Strecke für 1935 auf 11,7 km verkürzt, womit sie im Wesentlichen ihr endgültiges Aussehen erhielt.
DKW, NSU und BMW unterhielten zu dieser Zeit Werksmannschaften, die im internationalen Vergleich – besonders mit englischen und italienischen Herstellern und Fahrern – überaus konkurrenzfähig waren. So gewannen bei den Auftaktrennen auf dem neuen Solitude-Ring im Juli 1935 Arthur Geiss (DKW), Werner Mellmann (NSU) und Oskar Steinbach (NSU) die Soloklassen bis 250, 350 und 500 ccm, sowie Kahrmann/Eder und Braun/Badsching die Seitenwagenklassen bis 600 bzw. 1000 ccm.
Ab 1937 folgte eine weitere Pause in der Solitude-Renngeschichte. Zunächst verweigerte die ONS die Genehmigung für weitere Rennveranstaltungen aufgrund der schlechten Fahrbahnbeschaffenheit, später verhinderte der Zweite Weltkrieg und seine Auswirkungen weiter Aktivitäten.
Erst 1949 dröhnte wieder der Lärm der Rennmotoren durch die ländliche Idylle vor den Toren Stuttgarts, allerdings vorerst auf nationaler Ebene, da Deutschland als Triebfeder des vorausgegangenen Krieges noch keinen Einlass in die FIM fand. 300.000 Zuschauer wohnten den Wettkämpfen bei, die die deutschen Protagonisten überwiegend auf Vorkriegsmaschinen mit und ohne Kompressor austrugen.
Ab 1951 sah man an der Solitude wieder internationale Wettkämpfe, die im darauffolgenden Jahr ihre vorläufige Krönung fanden. Die 1949 eingeführte Motorrad-Weltmeisterschaft machte 1952 erstmals auch in Deutschland Station und die württembergische Strecke erhielt den Zuschlag.
Das Auftaktrennen dieses 20. Juli bestritten die Fahrer der Achtelliterklasse. Dabei sahen die 400.000 Zuschauer einen spannenden Dreikampf zwischen Vorjahresweltmeister Carlo Ubbiali (Italien), Cecil Sandford (Großbritannien) und der noch namenlosen, deutschen Hoffnung Werner Haas. Der 25-jährige Augsburger wurde erst zwischen den Trainingsläufen zum NSU-Werksfahrer befördert, da die Stammfahrer verletzungsbedingt ausgefallen waren. Dies sollte sich als Glücksgriff erweisen, denn am Ende der zehn Runden siegte Werner Haas vor Ubbiali auf Mondial und Sandford auf MV Agusta.
Auch bei den 250ern gab es einen Sieg der Gastgeber. Es gewann Rudi Felgenheier auf DKW, nachdem die Moto-Guzzi-Werksfahrer Fergus Anderson (Großbritannien), Bruno Ruffo und Enrico Lorenzetti (beide Italien) als haushohe Favoriten durch technische Defekte bzw. Stürze ausgeschieden waren.
Die beiden großen Klassen bis 350 bzw. 500 ccm war dann eine Prozession des Norton-Teams. Reg Armstrong (Irland) vor Ken Kavanagh (Australien) lautete der Einlauf in beiden Rennen.
Den Lauf der Seitenwagen gewannen die Briten Cyril Smith/Bob Clement nachdem der Dreirad-Dominator und Landsmann Eric Oliver ausgeschieden war. Mit diesem GP-Sieg (einer von insgesamt zwei seiner Laufbahn) hatte Cyril Smith gleichzeitig den Grundstein für seinen WM-Titel 1952 gelegt.
Für das darauffolgende Jahr verlor die Solitude den WM-Lauf an den hessischen Schottenring, da der an manchen Stellen aufbrechende Fahrbahnbelag ein zusätzliches Sicherheitsrisiko darstellte. Doch auch der Schottenring erschien einigen Fahrern und Verantwortlichen als zu gefährlich und wurde deshalb in den beiden großen Klassen boykottiert.
Somit fand sich die Weltelite 1954 wieder im Ländle ein. Nachdem der WM-Lauf für das Jahr 1955 an den Nürburgring vergeben wurde und auch der Hockenheimring Anspruch auf die Austragung des deutschen Grand Prix anmeldete, wurde die Luft für die Solitude-Veranstalter immer dünner.
Trotzdem gelang es ihnen in den Jahren 1956, 1960, und 1962 den WM-Lauf abzuhalten. Interessant war dabei, dass der Ex-MZ-Werksfahrer Ernst Degner nach seiner Flucht in den Westen 1962 vier WM-Läufe gewann, darunter seinen neuen Heim-Grand-Prix auf der Stuttgarter Solitude.
1964 kämpften dann die Motorrad-Stars letztmalig auf der Solitude um WM-Punkte. Dabei wurde dem treuen Publikum noch einmal die ganze Palette des Motorradprogramms geboten. Ralph Bryans (Großbritannien) und Jim Redman (Rhodesien) gewannen beide auf Honda die Klassen bis 50 bzw. 125 ccm. Mit Rang 1 bei den 350ern feierte der Jim Redman an diesem 19. Juli sogar einen Doppelsieg. Die Rennen der Viertelliter- bzw. Halbliterklasse gewannen die Engländer Phil Read und Mike Hailwood. Das Seitenwagenrennen gewann der Schweizer Fritz Scheidegger zusammen mit seinem englischen Passagier John Robinson.
Der Kampf um Prädikatsläufe wurde nun immer mehr zur Kostenfrage. Diese wurden mit der Zeit beim jährlichen Herrichten der nicht permanenten Rennstrecke zu hoch. Fördermittel und öffentliche Gelder wurden nicht mehr bewilligt. Nach einem weiteren international besetzten, aber nicht zur WM zählenden Rennen 1965 senkte sich die letzte Zielflagge an der Solitude.
Heutzutage gibt es hier zumindest wieder schöne Klassik-Veranstaltungen.