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Der Fluch der #1: Wer Bagnaia gefährlich werden kann

Kolumne von Michael Scott
Mit dem Sepang-Test rückt die MotoGP-Saison 2023 immer näher. SPEEDWEEK.com-Kolumnist Michael Scott wirft einen Blick auf den Titelverteidiger mit der sagenumwobenen Nummer 1 und die gefährlichsten Gegner.

Im Rennsport ist die Startnummer 1 eigentlich eine Ehre und ein Privileg, das dem Titelverteidiger vorbehalten ist. Mick Doohan, der von 1994 bis 1998 fünf Jahre in Folge triumphierte, war davon nicht sonderlich beeindruckt: «Es ist nur etwas an der Frontverkleidung deines Motorrads, das du selbst nicht einmal sehen kannst. Ein Ziel für alle anderen Fahrer», lautete seine typisch sachliche Meinung.

Seine saloppe Ansicht mag mehr als 20 Jahre alt sein, ist aber immer noch von Bedeutung. Denn der legendäre Australier ist tatsächlich der letzte Motorradfahrer in der «premier class», der die Startnummer 1 erfolgreich verteidigt hat. Zuletzt gelang ihm das 1998.

Was danach geschah, hat den Aberglauben – die Furcht vor dem Fluch der #1 – nur noch verstärkt.

Rennfahrer haben ihre Macken, wie Glücksunterhosen und Startrituale. Sie glauben vielleicht nicht wirklich daran, aber nur für den Fall der Fälle, gehen sie doch lieber kein Risiko ein.

Beispiel Valentino Rossi: Das demonstrative Drehen am Ohrring, bevor er seinen Helm aufsetzt; das Knien neben seinem Bike, mit den Händen an der Fußraste; der typische Griff an das Rennleder, während er die Boxengasse verlässt.

Eiserne Gewohnheiten, die einzig in der Hektik eines Motorrad-Wechsels im Falle eines Flag-to-Flag-Rennens entfielen, aber selbst jetzt noch im Training zu beobachten sind.

Rossi und Co. machten einen Bogen um die 1

Die Seriensieger Rossi und Marc Márquez hielten sich jeweils vom Fluch fern und blieben bei ihren ikonischen Startnummern 46 und 93. Genauso handhabten es Joan Mir und Fabio Quartararo, auch wenn die Titelverteidigung dennoch nicht erfolgreich war.

Jorge Lorenzo bevorzugte – mit Ausnahme von der Saison 2011 – seine #99, dennoch holte er seine drei MotoGP-Titel nicht in aufeinanderfolgenden Jahren.

Andere Champions, die nach Doohan die fragwürdige Ehre der Startnummer 1 akzeptieren, bezahlten aber wohl den Preis für ihren mangelnden Aberglauben. Alex Crivillé, Kenny Roberts jr. und Nicky Hayden wählten die #1, es sollte aber eine einmalige Sache bleiben. Sie bekamen danach nie wieder eine echte Chance auf den Titelgewinn.

Casey Stoner ging das Risiko ebenfalls ein, die prestigeträchtige Startnummer zur Schau zu stellen – und der Fluch schlug wieder zu, zwischen seinen zwei MotoGP-Titeln vergingen vier Jahre.

Alles Unsinn. Ein hartnäckiger Sportler sollte sich eher auf das Credo der erfolgreichen Vorgänger und Kollegen verlassen: «Jeder ist seines Glückes Schmied.» Oder, wie es Golf-Star Gary Player auf unvergessliche Weise formulierte: «Je mehr ich trainiere, umso mehr Glück werde ich haben.»

Was bedeutet das für 2023? Pecco Bagnaia wird die Nummer 1 erhobenen Hauptes auf seiner Werks-Desmosedici zur Schau stellen. Er ist ein moderner Mann des 21. Jahrhunderts. Mittelalterliche Zaubersprüche spielen da keine Rolle mehr. Er weiß, was nötig ist, um zu gewinnen, und es hat nichts damit zu tun, ob die Daumen gedrückt sind oder man im Mondschein dreimal im Kreis gelaufen ist.

Wie stehen Pecco Bagnaias Chancen?

Erstmals seit Casey Stoner im Jahr 2008 wird also wieder eine Ducati die sagenumwobene Nummer 1 tragen.

Aberglaube hin oder her, es könnte auch Bagnaias einzige Chance auf die Startnummer 1 sein. Sein Weg zum Titel verlief im Vorjahr nicht unbedingt geradlinig. Die Entscheidung fiel erst beim Saisonfinale in Valencia, nachdem ein starkes Finish einen holprigen Start wettgemacht hatte.

Quartararo seinerseits verteidigte mit seiner gewohnten #20 tapfer, wegen der mangelnden Power der M1 war er den deutlich schnelleren Ducati aber letztendlich regelmäßig unterlegen.

Es bleibt abzuwarten, ob Yamaha die fehlenden PS herauskitzeln kann, wobei Fabios anhaltendes Vertrauen in den Hersteller Anlass zur Vermutung gibt, dass er vielleicht über Insider-Wissen verfügt, das ihm Hoffnung gibt.

Nach dem Sepang-Test wissen wir alle mehr. Bei Quartararos Fahrkünsten könnte schon eine kleine Verbesserung von Seiten der japanischen Ingenieure den Ausschlag zu seinen Gunsten geben.

Schwerer vorstellbar ist ein Angriff von Honda. Die HRC-Ingenieure haben jedenfalls keine frühen Anzeichen gezeigt, einen Ausweg aus dem Labyrinth gefunden zu haben, in das sie sich während Márquez‘ langer Verletzungsmisere verrannt haben.

Honda und Márquez werfen Fragen auf

Die Versetzung des langjährigen Technischen Direktors Takeo Yokoyama in die Wüste (üblicherweise in das Ersatzteillager für Gepäckstück-Halterungen) war keine Überraschung, aber wird der schweigsame Ken Kawauchi, der mit seinem Klemmbrett von Suzuki kam, den Unterschied machen? Maßgeblich war dort seine Rolle als Chassis-Spezialist, was für die eigensinnige Honda wichtig ist.

Dann stellt sich aber auch die Frage, ob Márquez je vorhersehbar war? Kann man ihn also je abschreiben?

Die größte Gefahr für Pecco kommt aber nicht von außen, sondern lauert in den eigenen Reihen. Sein biestiger neuer Teamkollege Enea Bastianini ist der, der ihm Albträume beschert.

Bezeichnend: Die «Bestia» zählt nicht zum charmanten Kreis der Rossi-Schützlinge und zeigte im Vorjahr auch wenig Respekt für den vermeintlichen Senior-Ducati-Kollegen. Noch dazu bewies Bastianini, dass er oft schneller konnte – auf einem alten Motorrad.

Jetzt ist er Peccos Teamkollege, auf derselben Maschine und mit einem weiteren Jahr Erfahrung – und dem Selbstvertrauen, das davon herrührt.

Die Frage ist, was er von der Startnummer 1 hält.

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