Honda im MotoGP-Dilemma: «Jetzt herrscht Panik»
Die Reaktionen auf den SPEEDWEEK.com-Enthüllung, wonach der deutsche Acht-Mann-Engineering-Betrieb Kalex in Bobingen die jahrelange MotoGP-Blamage für den Weltkonzern Honda demnächst durch den Bau von neuen Alu-Chassis beenden soll, hat in der GP-Welt Staunen und Verwunderung ausgelöst.
«Unglaublich», seufzten einige Teammanager und Teambesitzer, auch aus der Moto2-Klasse. «Das ist Panik. Typisch HRC. Das war dort immer so. Wenn die Resultate ausbleiben, geraten alle in Panik», bemerkte ein langjähriger HRC-Mitarbeiter.
Die stolzen HRC-Manager verharren in Ratlosigkeit. Denn alle überstürzten bisherigen Manöver haben der Honda RC213V keine Beine gemacht. Sie bleibt eine Schnecke. Alles, was bisher passiert ist, waren Alibiübungen, um Marc Márquez einigermaßen bei Laune zu halten, der von Tag zu Tag ungeduldiger wird.
Honda hat 2022 beim Silverstone-GP beschlossen, den Technical Director Takeo Yokoyama abzuberufen. Er wurde durch Ken Kawauchi versetzt, der aber bei Suzuki nur als Technical Manager tätig war und diese Funktion jetzt bei HRC ausübt. Bisher ohne durchschlagenden Erfolg.
Die Verwendung einer Aluschwinge von Kalex ab dem September-Test in Misano hat ebenso keine Wunder bewirkt wie der Umstieg auf Akrapovic-Auspuffanlagen für 2023. Denn diese Anlagen benutzen alle Mitbwerber, außer Aprilia.
Auch die Aluschwinge konnte keinen Umschwung bewirken, denn Ducati, Aprilia und KTM gewinnen mit Karbonschwingen. Nur waren die HRC-Techniker nicht fähig, selber brauchbare Karbonschwingen zu erzeugen. Auch bei der Aerodynamik hinkt Honda zwei Jahre hinterher.
KTM und GASGAS holen sich seit August 2022 Unterstützung bei den mehr als 220 Formel-1-Aerodynamik Spezialisten von Red Bull Technology in Milton Keynes (England).
Honda hätte dort wohl auch Zugriff gehabt, denn die Japaner haben ihr F1-Werk für die Antriebseinheiten neben Red Bull Racing in Milton Keynes installiert und mit Max Verstappen 2021 die Formel-1-WM gewonnen.
Aber auch diese Gelegenheit wurde verschlafen.
Die HRC-Manager griffen lieber zu zielführenderen Maßnahmen: Die deutschen Techniker von Repsol und vom HRC Test Team wurden in ihrem Menschenrecht der Redefreiheit eingeschränkt – mit missliebigen Berichterstattern darf jetzt nicht mehr kommuniziert werden.
Kalex wollte schon 2012 in die MotoGP
Wenden wir uns lieber interessanteren Themen zu. Zum Beispiel der Frage: Was steckt hinter Kalex? Was kann diese Engineering Company ohne MotoGP-Erfahrung in kurzer Zeit bewirken?
Nun, die beiden Kalex-Firmengründer Alex Baumgärtel (sein Vorname beinhaltet vier Buchstaben von Kalex) und Klaus Hirsekorn (er steuert das K zu Kalex bei) kommen aus der Autobranche und haben sich 2009 im Gebäude ihres Arbeitgebers Holzer Motorsport mit einem Start-up selbstständig gemacht. Erstes großes Projekt: Der Bau einer Moto2-GP-Rennmaschine für 2010.
Sito Pons vertraute den deutschen Motorrad-Neulingen als einziger Teamchef und verbündete sich als einziges Team für die erste Moto2-Saison mit Kalex. Im Jahr darauf gewann Stefan Bradl auf Kalex die Moto2-WM – gegen Marc Márquez auf einer schweizerischen Suter MMX2.
Inzwischen hat Kalex die Fahrer-WM von 2013 (mit Pol Espargaró) bis 2022 zehnmal in Serie gewonnen, auch die Konstrukteurs-WM wurde von Kalex zehnmal hintereinander erbeutet.
Mittlerweile haben sich seit Stefan Bradls erstem Kalex-Moto2-Sieg in Katar 2022 nicht weniger als 161 Moto2-GP-Siege angesammelt.
Woran sich kaum jemand erinnert: Kalex-KTM spielte 2012 und 2013 auch in der neuen 250-ccm-Viertakt-Einzylinder-Moto3-WM-Klasse eine Rolle. Luis Salom beendete die Moto3-WM 2012 auf einer Kalex-KTM als WM-Zweiter, er siegte in Indy und Aragón.
Baumgärtel und Hirsekorn genehmigten sich 2010 in ihrem Start-up-Unternehmen nur einen Monatslohn von 3000 Euro. Sie reisen noch heute zu allen Europa-Rennen mit dem Van an, früher war es ein VW Multivan, jetzt immerhin ein Mercedes V.
Das Kalex-Duo hat sich schon mehrmals mit dem Einstieg in die MotoGP-Klasse beschäftigt, erstmals vor der Saison 2012, als wegen der geschrumpften Startfelder Prototypen-Chassis mit Superbike-Rennmotoren erlaubt waren, die so genannten Claiming-Rule-Bikes, denen ca. 30 bis 40 PS zu den Factory MotoGP-Maschinen fehlten.
Alex Baumgärtel machte damals sein MotoGP-Engagement ganz klar von der Anzahl der Auftraggeber abhängig. «Wenn wir nicht drei oder vier Fahrer ausrüsten können, lohnen sich die Entwicklungskosten nicht», stellte er damals klar.
Doch Moto2-Kunde Marc VDS Racing bildete zuerst das Testteam für den Schweizer Konkurrenten Suter und entschied sich dann für eine Kooperation mit Honda. Und Moto2-Partner Sito Pons erhielt kein MotoGP-Plätze. Andere potenzielle CRT-Partner wie IodaRacing oder Forward entschieden sich für Suter. So mussten die CRT-Pläne von Kalex begraben werden.
Im Gegensatz zu Ex-Rennfahrer Eskil Suter wollten sich die seriösen Deutschen auf kein finanzielles Abenteuer mit finanzschwachen Teams einlassen.
Als die CRT-Kategorie 2014 der «Open Class» wich, bot sich eine neue MotoGP-Möglichkeit für Kalex. Aber auch hier kamen die Deutschen nicht zum Zug. Forward liess für das Yamaha-M1-Motorenpaket Chassis bei FTR statt bei Suter oder Kalex bauen und leaste dann die kompletten Rolling Chassis bei Yamaha. Honda baute mit viel Aufwand einen chancenlosen Production-Racer ohne pneumatischen Ventiltrieb und ohne Seamless-Getriebe, weil HRC-Vizepräsident Shuhei Nakamoto das Reglement nicht ordentlich gelesen hatte.
Kalex: MotoGP-Alu-Schwingen für KTM
Aber das Kapitel MotoGP war auch danach für Kalex nicht beendet, denn für die ersten MotoGP-Tests und GP-Jahre von KTM wurden Kalex-Alu-Schwingen verwendet, bis die Österreicher 2019 in Salzburg bei KTM Technology eigene Karbonschwingen für die RC16 entwickelten.
Bei Motorradhersteller Kalex engineering in Bobingen wurde für die Moto2-WM 2020 die Konstruktion von Karbonschwingen in Betracht gezogen. Inzwischen war das Kalex-Aufgebot in der Moto2 auf 22 Fahrer (!) gestiegen. Die kostspieligen Karbonschwingen sind in der Moto2 erlaubt, Karbonbremsen hingegen nicht. Doch dann kam Corona, und die Weiterentwicklung wurde für 2021 eingefroren – zur Kostensenkung.
«Im Gegensatz zu allen Motorsport-Weltmeisterschaften, bei denen die großen Motorrad-Hersteller mit einem Marketingbudget antreten, um Werbung zu betreiben und dort Geld ausgeben, muss in der Moto2 von den Chassis-Herstellern Geld verdient werden. Wir müssen also GP-Bikes verkaufen», sagt Baumgärtel.
Deshalb wurde das Kapitel «Moto2 Karbonschwinge» nie wieder ernsthaft aufgegriffen, obwohl Kontrahent Boscoscuro und das Speed-up-Team (mit Alonso Lopez und Fermin Aldeguer) auf Karbonschwingen vertrauen. «Wir verwenden seit 2012 Karbonschwingen. Nur in den Jahren 2015 bis 2017 haben wir auch Aluschwingen probiert. Seit 2018 fahren wir nur noch mit solchen aus Karbon», hält Teambesitzer Luca Boscoscuro fest.
Die diesbezügliche Zurückhaltung von Kalex hat finanzielle Gründe. Denn die Entwicklung einer Moto2-Karbonschwinge kostet mindestens 100.000 bis 150.000 Euro. Die Herstellungskosten werden pro Exemplar auf mindestens 20.000 Euro geschätzt.
«Die exakten Kosten sind schwer zu beziffern. Es hängt von den Entwicklungskosten und von den möglichen Stückzahlen ab. Wir haben bisher keine Erfahrungswerte», erklärte Baumgärtel schon 2019 gegenüber SPEEDWEEK.com.
Das bedeutet: Bei einem Auftrag durch einen finanzstarken Kunden (wie HRC) könnten in Bobingen in absehbarer Zeit auch Karbonschwingen für die Honda RC213V designt werden.
Dass bei HRC der Hut brennt, greift ein Blinder mit dem Stock.
Denn Marc Márquez hat oft genug bewiesen, dass er mit einem halbwegs konkurrenzfähigen Untersatz keinen Gegner zu scheuen braucht.
Aber Honda ist seit 2020 außerstande, ein siegfähiges Gefährt zu liefern, mit dem Marc um den Titel fighten kann. Im ersten Saisondrittel 2023 wird sich voraussichtlich entscheiden, ob er seinen HRC-Vertrag für 2024 erfüllen wird.
«Auf einer Ducati ist jeder Fahrer schnell», stellte Marc vor ein paar Monaten fest. Jetzt auch noch sein kleiner Bruder.
Das schmerzt doppelt.