Ein Hoffnungsschimmer bei der KTM AG

Pit Beirer: «Ich habe kein einziges Mal gezweifelt»

Von Günther Wiesinger
Pit Beirer zwischen den RC16 von Brad Binder und Jack Miller

Pit Beirer zwischen den RC16 von Brad Binder und Jack Miller

Seit dem 8. Juni 2003 ist Pit Beirer querschnittsgelähmt. Der 50-jährige KTM-Motorsport-Direktor kennt kein Tabu, wenn man sich mit ihm über das Leben im Rollstuhl unterhält.

Genau 20 Jahre sind seit Pit Beirers verhängnisvollem Sturz am Pfingstsonntag beim 250-ccm-Motocross-GP in Bulgarien vergangen.

Als ich den heutigen Motorsport-Direktor von KTM im Dezember 2003 zuhause in Simbach besuchte, ersuchte ich ihn, er möge eine Aussage von Wayne Rainey aufklären. Der hatte einmal zu mir gesagt: «Dass ich nicht mehr gehen kann, ist mein kleinstes Problem.»

Wir saßen damals am Esstisch. Pit entgegnete, er müsse sich zum Beispiel zuerst mit der linken Hand bei der Tischkante abstützen, wenn er eine Mineralflasche von der Tischmitte wegheben wolle.

Beim Sturz in Bulgarien wurde das Rückenmark auf Höhe des fünften Brustwirbels durchtrennt. «Deshalb habe ich keine Muskeln im Rücken, die es mir ermöglichen, gerade und aufrecht zu sitzen», sagt Beirer. «Deshalb lümmle ich immer auf den Ellenbogen. Ich muss mich am Tisch abstützen, wenn ich ein Gespräch führe oder esse. Dadurch ist eine Hand immer blockiert...»

Pit, du bist im Juni 2003 fünf Tage im Koma gelegen. Wir haben zwei Tage später telefoniert. Du warst damals schon sehr gefasst und kämpferisch. Deine Aussage: «Ich bin froh, dass ich noch am Leben bin. Dass ich nicht mehr gehen kann, ist nebensächlich.»

Ja, der erste Niederschlag war: Es gibt Schlimmeres als querschnittsgelähmt zu sein. Denn für mich ging es tagelang ums Überleben. In so einer Situation hängst du zuerst einmal am Leben, danach kommt alles andere.

Deshalb war der wichtigste Kampf zu überleben. Erst nachher konnte ich mich mit dem Rest beschäftigen.

Du hattest 2003 eine junge Familie. Deine Tochter Laura war ganz klein.

Ja, sie war sechs Monate alt.

Als Rennfahrer gehörten positives Denken und Kampfgeist für dich zum Alltag. Aber es kamen im ersten Jahr sicher depressive Phasen?

Gott sei Dank sind alle Tiefs, die mir alle vorausgesagt wurden von den Psychologen, die ich nicht an mich rangelassen habe, nicht eingetreten. Ich war stark genug, um das mit mir selber zu bereinigen.

Für mich war vom Zeitpunkt des Unfalls weg, als ich gemerkt habe, ich bin querschnittsgelähmt, bevor ich ins Koma gefallen bin, ganz klar: Ich muss kämpfen, ich muss da raus aus dem Krankenhaus, ich muss nach Hause, ich muss zu meiner Familie, denn da ist Ilona, meine junge Frau, und da ist eine ganz kleine Tochter.

Das war die absolute Antriebsfeder.

Und nach dem Erwachen aus dem Koma gab es keinen Moment des Zweifelns.

Ich habe kein einziges Mal gezweifelt, ob dieses Leben lebenswert ist und ob ich jetzt positiv Gas geben soll.

Es gab einmal einen Moment, an den ich mich nach dem Krankenhausaufenthalt erinnere. Da wollte ich unbedingt zurück in die eigenen vier Wände. Aber dann sitzt du halt in deinen eigenen vier Wänden... Du musst dich dann mit dem Gedanken anfreunden, dass du ab jetzt wahrscheinlich dein Leben lang kathetern musst und Einschränkungen hast.

Darauf wird sich auch die Aussage von Wayne Rainey in erster Linie beziehen. Das ist das größere Problem als der nicht mehr funktionierende Rückenmuskel.

Du hast wesentliche Einschränkungen, die die Toilette und den Stoffwechsel betreffen. Mit diesen Einschränkungen bist du viel öfter konfrontiert als mit der Tatsache, dass du nimmer laufen kannst.

Ich kann mich an einen Moment erinnern, an dem ich kurz vor dem Verzweifeln war und dachte: «Kruzifix, das bleibt jetzt einfach so für den Rest deines Lebens.»

Aber dieser Moment hat Gott sei Dank nur fünf oder sechs Sekunden lang angehalten. Von dem Zeitpunkt an ging’s wieder weiter.

Wir wollen nicht ins Unappetitliche abgleiten. Aber was bedeutet das Kathetern?

Naja, du kannst den Stoffwechsel nicht selber kontrollieren. Du kannst Gott sei Dank heute mit Medikamenten die absolute Kontinenz erreichen. Aber dann geht es ins andere Extrem, du musst den Blasendruck kontrollieren, damit keine Nierenschäden verursacht werden.

Das bedeutet: Du musst einen Schlauch in die Harnröhre einführen, dass du auf die Toilette kannst, und das vier- oder fünfmal am Tag. Das sind halt diese unangenehmen Momente. Wobei das nicht das Schlimmste ist.

Viel schlimmer ist es irgendwo auf dem Renngelände, wenn’s pressiert, und du hast noch genau fünf Minuten, um auf die Toilette zu kommen, und dann steht eine Schlange von 30 Leuten vor dem italienischen WC. Das sind die wirklichen Stressmomente. Alles andere ist organisierbar und gut zu regeln, wenn man sich im gewohnten Umfeld befindet.

Du hast vor fünf Jahren einmal gesagt, deine Lebensqualität habe sich im GP-Paddock um 200 Prozent verbessert. Denn du hast jetzt Lifts an den MotoGP-Trucks, du kannst ins Büro hochfahren und Besprechungen abhalten. In der Energy-Station hast du auch einen Lift und sogar eine Behinderten-Toilette.

Ja, da bin ich Red Bull sehr dankbar, dass hier etwas geschafft wurde, was mir ein zivilisiertes Leben im Fahrerlager ermöglicht.

Wobei du das Wort «Behinderter» am Anfang nicht hören wolltest. Du hast gesagt: «Ich fühle mich nicht behindert.»

Ach ja, ich bin da inzwischen extrem flexibel und offen. Man kann mich alles fragen, wenn es um die Themen Rollstuhl, Behinderung und Beeinträchtigung geht. Ich habe damit überhaupt kein Problem.

Da kenne ich keine Tabus und keine Berührungsängste. Wenn einer über mich sagt, ich habe eine Behinderung, dann ist das ein Faktum, es ist so. Ich habe eine 100-prozentige Invalidität in meinen Ausweispapieren drin stehen.

Ich fühle mich aber ganz selten behindert, weil ich überall hinkomme, wo ich hinwill, weil ich trotzdem noch Herr meiner Lage bin und mein Leben selber organisieren und bestimmen kann.

Ich bin nicht der typische Behinderte, der ein Ego-Problem hat, wenn mir jetzt jemand Hilfe anbietet. Wenn ich eine Stufe hoch will, brauche ich Hilfe.

Ich kann alleine nach München zum Flughafen fahren, ins Flugzeug steigen, nach Amerika fliegen, ohne Probleme und ohne Begleitperson.

Es kann aber sein, dass ich in Simbach bei einem Gebäude vor zwei Stufen stehe und fremde Hilfe brauche. Du musst da völlig offen sein. Wenn ich behindert bin und Hilfe brauche, dann nehme ich sie in Anspruch. Wenn es ohne Hilfe geht, bin ich auch froh...

Es kann aber passieren, dass du zum Silverstone-GP nach Birmingham fliegst und dann gibt es keinen behindertengerechten Leihwagen für dich?

Ja, du brauchst halt Handgas und Handbremse, einen Umbau, das gibt es sowieso an den wenigsten Flughäfen. England ist da vorzüglich, die bieten das an. Nur ist damals mein Auto aus Versehen in Birmingham/Alabama in den USA gebucht gewesen statt in England.

Das sind dann so Momente, wo du ein bisschen anstehst, wenn du allein unterwegs bist.

Ich erinnere mich an einen anderen Moment, an dem du dich über dein Rollstuhl-Schicksal geärgert hast. Das war 2003 bei einem Besuch eines Bayern-München-Heimspiels.

Ja, das stimmt, aber ich habe dieses Vorkommnis inzwischen vergessen.

Du warst verärgert, weil du mit ein paar Freunden zum Match gegangen bist, dann hat dich ein Ordner weggeschoben auf eine Plattform, wo 30 andere Rollstuhlfahrer hingstellt wurden. Man hat dir dann für die Pause noch eine verbilligte Bratwurst angeboten.

Ja, ich erinnere mich... Ich hatte damals hinten Handgriffe am Rollstuhl. Am nächsten Tag bin ich bei KTM in Mattighofen in die Rennabteilung gefahren und habe mir abklappbare Handgriffe machen lassen. Damit mich nie mehr jemand irgendwo hinschieben kann, wo ich nicht hinwill.

Das sind so Erlebnisse, wo du dich mit einem Schlag behindert fühlst.

Es gibt viele Behinderte, die diese Hilfe ganz dringend brauchen. Die sind froh, wenn die Dinge organisiert sind wie bei Bayern München.

Nur ich selber, ich bin fit, zu aktiv und zu gesund, um mich damit abzufinden. Ich möchte meine Bratwurst selber kaufen und dafür arbeiten, dass ich sie mir auch verdient habe.

Es gibt aber trotzdem Momente, da macht der Rollstuhl den Unterschied.

Ich habe einen sehr guten Freund, den Schauspieler Tobias Moretti. Ich krieg’ von ihm beim «Jedermann» in Salzburg Karten für die erste Reihe.

Im Festspielhaus komme ich aber mit dem Rollstuhl dort nicht hin. Dann sitzt die Gruppe meiner Freunde in der ersten Reihe, ich sitze an einem anderen Platz, zu dem ich mit dem Rollstuhl hinkomme.

Es gibt Momente, da ist der Rollstuhl ein extremer Nachteil.

Auch in den Hotels ist es sehr oft so. KTM würde mir sehr schöne, teure Zimmer bezahlen. Aber in den meisten Hotels sind die Behindertenzimmer die grauslichste Abstellkammern, die sie haben.

Dort sind halt ein paar Handgriffe an die Wand geschraubt.

Es gibt immer wieder Momente, wo du trotz Job und Organisation und Arbeit spürst, dass du nicht gehen kannst.

Aber ich will nicht in diese Jammergespräche abschweifen.

Es existieren wenige Momente, wo ich das zulasse. Du kannst in der heutigen Gesellschaft und in der Art und Weise, wie heute moderne Gebäude gebaut werden, wie Fahrzeuge konstruiert werden, wie an die Menschen im Rollstuhl gedacht wird, dein Leben sehr oft beschwerdefrei und barrierefrei führen.

Da muss man auch einmal «Danke» sagen an die Behörden, die sich darum kümmern und an die Kämpfer, die sich für breite Gehwege einsetzen, für Rampen und stufenlose Eingänge. Da ist in den letzten Jahren sehr viel passiert. Man kann sich mit dem Rollstuhl mittlerweile bei uns sehr gut fortbewegen.

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