MotoGP-Champ Martin: Zwischen Business und Komödie
Vor weniger als einem Jahr sahen die britischen MotoGP-Fans einen entfesselt fahrenden Jorge Martin, der sich beim Jubiläums-GP in ehrwürdigem Retro-Design mit den Ducati-Kollegen erfolgreich um WM-Punkte raufte. Zweimal Platz 2 – ein effizienter Schritt in Richtung erster MotoGP-Titel.
Während im Fahrerlager von Silverstone die Vorbereitungen für den nächsten GP auf der Insel laufen, fehlt Jorge Martin. Der Champion, dem der Titel seinen ersten Werksfahrervertrag mit Aprilia einbrachte, bemüht sich, die zahlreichen Verletzungen aus nicht weniger als drei Stürzen auszukurieren.
Doch statt der Frage, wann der Champion wieder auf die schwarze Werks-Aprilia steigt, steht eine deutlich größere Frage im Raum: Wird Jorge Martin die RS-GP überhaupt jemals wieder auf einer Rennstrecke bewegen? Seit dem Großen Preis von Frankreich ist klar, dass der Spanier Pläne für einen Ausstieg aus seinem bis mindestens Ende 2026 währenden Vertrag mit Aprilia evaluiert.
Aber warum sollte der MotoGP-Weltmeister freiwillig einen von nur zehn existierenden Plätzen in einem reinen MotoGP-Werksteam aufgeben? Hat Aprilia den Champion schlecht behandelt? Ist man dem Champion aus Madrid etwas schuldig? Was hat Jorge Martin dazu gebracht, seinem Arbeitgeber einen Vorschlag zu unterbreiten, der in dieser Form einzigartig ist? Demnach will Martin nach vollständiger Wiederherstellung in einer Phase der Bewährung sechs MotoGP-Events mit dem Team bestreiten. Danach, so der Plan, könne man die Fortführung des Projekts oder eine vorzeitige Auflösung der Zusammenarbeit beschließen.
Hintergrund ist eine leistungsgetriebene Sichtweise. Jorge Martin unterschrieb im Sommer 2024 für die Rennabteilung aus Noale mit der klaren Forderung nach einem siegfähigen MotoGP-Bike. Schließlich ging und geht es für den 27-jährigen Martin nicht um die Planung der Frührente, sondern um den nächsten Angriff auf den WM-Titel.
Doch offensichtlich hat eine sehr überschaubare Anzahl von Runden mit der RS-GP – in Summe hat der Weltmeister nach einem Tag in Barcelona, fünf Runden in Sepang sowie einem GP-Wochenende mit schmerzhaftem Ausgang in Katar ungefähr so viele Runden gedreht wie ein Hobbyracer bei einem Wochenend-Trackday – ausgereicht, um das Vertrauen in Aprilia abzudrehen.
Schlüsselmomente lassen sich fraglos in Malaysia ausmachen. Bereits am ersten Tag des ausführlichsten Wintertests hatte die Beziehung zwei Niederschläge erlitten. Jorge Martin flog in seiner ersten fliegenden Runde, Ausgang von Kurve 1, per Highsider von der Aprilia. Insider wissen – ein Highsider ist gleichzusetzen mit einer schlagartigen Katastrophe. Martin riss es aus heiterem Himmel auf den Boden der Tatsachen. Und als hätte der Schlag nicht ausgereicht, wiederholte sich das Spiel ein weiteres Mal, diesmal mit schlimmen Folgen.
Highsider 2 ereignete sich keine Stunde später wieder auf der ersten fliegenden Runde mit dem gleichen Hinterreifen, den Martin bei Highsider 1 montiert hatte. Während Martin mit vier Frakturen außer Gefecht war, duellierten sich die Aprilia-Mannschaft mit Reifenausrüster Michelin bei der Ursachenforschung. Als Fazit blieb ein Statement der Franzosen: Der Reifen war zum Zeitpunkt des verheerenden Abwurfs unterhalb des vorgeschriebenen Temperaturfensters. Für Martin blieb die bittere Erfahrung, auf einem nicht perfekten Paket in die Saison gestartet zu sein. Von da an blieb der Racer aus Madrid für lange Zeit die Rolle des Zuschauers. Beim US-GP war der angeschlagene Martin Gast bei seiner Mannschaft und beobachtete live die Bemühungen, Marco Bezzecchi auf Erfolgskurs in Texas zu schicken. Bezzecchi landete auf Platz 6 in seinem dritten Event mit der RS-GP. Ein Hoffnungsschimmer für den Italiener, zu wenig in den Augen des Spaniers?
Nichts zu rütteln gibt es am Comeback-Auftritt des Weltmeisters in der Wüste von Katar. Die Entscheidung, dort die Beziehung zwischen Martin und seinem Untersatz zu kitten, fiel gemeinsam. Nach einer tapferen Leistung am Freitag und Samstag folgte der nächste XL-Crash. Der letzte Abflug war zweifelsfrei nicht der Technik geschuldet. Jorge Martin unterlief, durchaus verständlich nach fast fünfmonatiger GP-Rennpause, ein kleiner Fahrfehler. Der Champion ging nur wenige Zentimeter zu weit und bezahlte mit der nächsten Einlieferung ins Krankenhaus.
Dass die Laune des Spaniers nach einer überragenden Saison 2024 zerstört war, verwundert nicht – dass Aprilia dafür alleinverantwortlich sein soll, dagegen sehr. Auch wenn Jorge Martin seinem Arbeitgeber in der Öffentlichkeit keine Vorwürfe machte, löste sich das Vertrauen in die Fähigkeiten der Mannschaften um Racing-CEO Massimo Rivola zwischen der leidenschaftlichen Teampräsentation Mitte Januar in Mailand und heute in Nichts auf.
Verständlich wird der Spezialfall um den MotoGP-Weltmeister, wenn man die mögliche Zukunft des Spaniers in Betracht zieht. Im Lager von Jorge Martin ist man sich einig geworden, dass es eine brillante Idee ist, dem Wunsch von Honda nach einem Siegfahrer nachzukommen.
Zustande kamen die Verhandlungen zwischen Martin und HRC über einen beinahe zufälligen Umstand. Jorge Martin wird vom gleichen Management-Team um Albert Valera wie Pedro Acosta vertreten. Als sicher gilt, dass Honda dem jungen Acosta ein reguläres Multi-Millionen-Angebot über drei Jahre unterbreitete. Doch Acosta betrachtet sein Umfeld bei KTM aktuell als vielversprechender – und so wurde Jorge Martin ins Spiel gebracht. Würde es gelingen, den Champion glimpflich und vorzeitig aus dem Aprilia-Vertrag zu holen, könnte Martin nach vollständiger Genesung ab 2026 mit Honda in die nächste Mission starten – so der kühne Plan. Wenig überraschend spielt Aprilia hier nicht mit. Das heute veröffentlichte Statement, verfasst mit fachlicher Unterstützung der Rechtsabteilung, beweist Stärke – und verstärkt zudem die Ausweglosigkeit der Lage.
Wie auch Ducati-Ass Pecco Bagnaia bemerkte – auch dank unkontrollierter Kommunikation, über die sozialen Netzwerke baut sich aktuell eine Stimmungswelle auf – gegen Weltmeister Jorge Martin.
Doch in der MotoGP geht es nicht nur um fröhliche Stunden. Es regiert ein knallhartes Geschäft mit schnellen Motorrädern, großen Budgets und kurzen Karrieren. In letzter Konsequenz geht es auch in der MotoGP nicht um glorreiche Projekte, sondern um den besten Deal.